Andreas Kublik
, TOUR Online
· 26.09.2022
Die Straßen-Weltmeisterschaften sind nach zwölf Jahren wieder zu Gast in Australien. Vom 18. bis 25. September kämpfen Frauen und Männer bei der Rad-WM in Wollongong um die begehrten Medaillen.
Die Hafenstadt im australischen Bundesstaat New South Wales zählt rund 307.000 Einwohner (Stand: 2021). Sie liegt etwa 70 Kilometer südlich von Sydney, dem Austragungsort der Olympischen Spiele 2000.
Alle Angaben sind australische Ortszeit; für die Zeit in Deutschland (MESZ) muss man acht Stunden zurückrechnen.
Die Wettbewerbe der Rad-WM werden im TV live bei Eurosport 1 übertragen. Zudem gibt es die Option, sie über den Eurosportplayer (kostenpflichtig) im Stream zu sehen.
Es war eine aufsehenerregende Talentprobe. “Probier etwas, womit keiner rechnet”, hatte die Ehefrau von Radprofi Michael Matthews ihm mit auf den Weg gegeben. Und er tat wie ihm geheißen. Auf der 14. Etappe der Tour de France sprang der australische Radprofi vom Team Bike-Exchange-Jayco in eine frühe Ausreißergruppe, zerkleinerte diese nach und nach und trat dann am steilen Anstieg zum Flugplatz in Mende überraschend früh an.
Die Versuche, ihn einzuholen, scheiterten - der Gewinner des Grünen Trikots des Jahres 2017 wartete nicht auf einen Sprint, sondern erreichte das Etappenziel als Erster - als Solist. Es war auch eine Bewerbung um das Kapitänspatent im vielleicht wichtigsten Rennen für den Radsportler aus dem australischen Canberra: die Rad-WM in Wollongong am 25. September 2022. Dort wartet ein anspruchsvoller Parcours auf Männer und Frauen.
“Es ist ein wirklich schwerer Kurs - schwerer, als er auf dem Papier aussieht”, sagt Amanda Spratt, seit Jahren eine der stärksten australischen Radsportlerinnen. Sie kennt sich gut aus, sie ist rund 70 Kilometer vom Austragungsort der Rad-WM in einem Vorort von Sydney aufgewachsen und hat auf Teilen der Strecke trainiert. “Mein Gefühl ist, dass es zu hart für einen reinen Sprinter wird”, betont Spratt.
Und daher sind Bewerbungsauftritte wie der von Matthews wichtig, bei dem der 31-Jährige allen noch einmal gezeigt hat: Er ist mehr als ein Sprinter - und kein Berg ist ihm zu steil. Schließlich konkurriert er im australischen Nationalteam mit Caleb Ewan, einem der stärksten Sprinter der vergangenen Jahre. Doch der konnte bei der Tour de France nicht für sich werben - er blieb drei Wochen unauffällig und wurde nicht für das australische Nationalteam für die Rad-WM nominiert.
Ewan hatte sich bereits zuvor enttäuscht gezeigt über die spät veröffentlichte Streckenführung der WM. Man habe nicht auf seinen Rat gehört, tat er kund, sonst hätte die Strecke anders ausgesehen. Übersetzt: flacher und damit sprinterfreundlicher. Der Kurs in und um die Hafenstadt Wollongong ist schon angesichts der Zahlen anspruchsvoll.
Bei den Männern sind auf 266,9 Kilometern Distanz 3945 Höhenmeter zu klettern, bei den Frauen - im längsten WM-Rennen der Geschichte - auf 164,3 Kilometern 2433 Höhenmeter. Nach dem Anlauf aus dem Startort Helensburgh geht es entlang der Pazifikküste nach Wollongong, dort zunächst von der Küste auf den fast 500 Meter hohen Mount Keira.
“Der ist nicht wirklich steil, aber sieben, acht Kilometer lang”, sagt Spratt. Entscheidendes wird in den Eliterennen wohl erst in den Runden auf dem 17-Kilometer-Stadtkurs in Geelong passieren. “Auf dem Stadtkurs geht es über den steilen Anstieg auf den Mount Pleasant - wir sprechen von einem Anstieg wie beim Fleche Wallonne”, sagt die erfahrene australische Rennfahrerin - also ähnlich der Mur de Huy, wenn auch das Ziel ein Stück vom höchsten Punkt des Mount Pleasant entfernt liegt.
Eine schnelle Abfahrt mit Tempo 80 bis 90 folgt. “Danach hat man vielleicht noch drei, vier Kilometer, um jemanden noch einzufangen”, warnt Spratt. “Es wird ein aggressives Rennen für aggressive Rennfahrer.” Für Spratt sind bei den Männern der Super-Allrounder Wout Van Aert und Julian Alaphilippe heiße Siegkandidaten - sicher auch ein Fahrertyp wie Mathieu van der Poel, wenn der Niederländer sich von seiner Schwächephase im Sommer erholt. Und eben auch Matthews.
“Die Strecke ist ähnlich wie in Leuven”, sagt Renndirektor Scott Sunderland - also ähnlich der WM-Strecke 2021, auf der Alaphilippe zum zweiten Mal in Folge Weltmeister wurde. Der Titelverteidiger geht nach einem Sturz bei der Vuelta allerdings mit keiner optimalen Vorbereitung an den Start.
Im Rennen der Frauen wird der Sieg nur über die Niederländerinnen führen, die gleich mehrere Top-Favoritinnen in ihren Reihen haben - mit Annemiek van Vleuten, Demi Vollering und Marianne Vos an der Spitze.
Aber Spratt sieht vor allem angriffslustige Rennfahrerinnen wie Elisa Longo Borghini vorne, die sicher Teil eines starken italienischen Teams sein wird; dazu Cecilie Uttrup Ludwig aus Dänemark sowie die Australierin Grace Brown.
Schließlich haben sich die Niederländerinnen in der Vergangenheit oft selbst behindert - zu viele Top-Fahrerinnen in einem Team, keine klare Hierarchie. Spratt sieht sich selbst nicht im engeren Kreis - sie kommt nach einer Arterien-Operation erst wieder in Schwung. Es ist für die australischen Radsportler das zweite Mal, dass sie sich vor heimischem Publikum in WM-Rennen messen dürfen.
Für Matthews, im September 32 Jahre alt, würde sich ein Kreis schließen. Bei der ersten WM, die jemals auf australischem Boden stattfand, ging sein Stern auf: Er gewann damals im Rennen der U23-Klasse den Zielsprint in Geelong 2010 und ließ einen enttäuschten John Degenkolb zurück, der mit Silber vorlieb nehmen musste. Bei den Profis war Matthews schon nah dran am Regenbogentrikot - 2015 wurde er Zweiter, 2017 Dritter.
Leichter als in den Rennen der Eliteklassen wird es in den Nachwuchsklassen, die auf dem Stadtkurs bleiben und nicht auf den Mount Keira klettern. Die schweren Überschwemmungen im Juli haben auch Wollongong betroffen - am Mount Keira gab es einen größeren Erdrutsch. Die Veranstalter hoffen aber, dass alle Strecken Ende September wie geplant befahrbar sind.
Die Kurse im Zeitfahren sind deutlich flacher als die Straßenrennen. Erstmals fahren Männer und Frauen im Wettbewerb der Elite die gleiche Distanz im Kampf gegen die Uhr: jeweils 34,2 Kilometer mit 312 Höhenmetern - verteilt auf zwei Runden durch die Innenstadt. Allerdings ist zweimal der Mount Ousley (53 Meter) zu überwinden - ein Rhythmusbrecher.
Im als Staffel ausgetragenen Mannschaftszeitfahren fahren Männer- und Frauen-Teams jeweils eine 14-Kilometer-Runde. Für den Bund Deutscher Radfahrer wird es die erste WM ohne Tony Martin - der langjährige Medaillengarant war nach dem Titel im Mixed-Team im vergangenen Jahr zurückgetreten. Ein Nachfolger ist noch nicht in Sicht.
Für Fans in Deutschland, die die Rennen der Rad-WM live sehen wollen (der TV-Sender Eurosport überträgt), wird es wegen der Zeitverschiebung zur australischen Ostküste allerdings ein Nachtprogramm. Die Starts finden tief nachts statt, der Zieleinlauf ist bei vielen Rennen zur Frühstückszeit.