Andreas Kublik
· 23.09.2022
Claudia Lichtenberg, langjährige Nationalfahrerin und 2009 Siegerin des Giro d’Italia, stellt ihre Favoritinnen für das Straßen-Rennen der Frauen bei der Rad-WM vor (desto mehr Sterne, desto höher ist eine Fahrerin einzuschätzen). Am kommenden Samstag wird sie ihren Mann Christian als Expertin während der Live-Übertragung auf Eurosport begleiten.
30 Jahre, Australien
Sie ist eine kraftvolle Fahrerin und kann ein hohes Tempo gleichmäßig halten, wenn sie erst einmal eine Lücke gerissen hat. Das hat die Australierin mit dem Gewinn der Silbermedaille im Einzelzeitfahren bewiesen (sie lag nur zwölf Sekunden hinter Weltmeisterin Ellen van Dijk; Anm. d. Red.).
Zudem hat Australien bei der Rad-WM eine echt starke Mannschaft - mit Amanda Spratt (WM-Zweite 2018, WM-Dritte 2019) und Alexandra Manly, die in diesem Jahr die Thüringen-Rundfahrt gewonnen hat. Damit können sie van Vleuten, falls sie früh angreift, als Mannschaft etwas entgegensetzen.
26 Jahre, Belgien
Die belgische Klassikerspezialistin ist eine Medaillenkandidatin bei der Rad-WM für mich. Sie ist bergfest und endschnell - beides braucht man auf der WM-Strecke. Allerdings ist Lotte Kopecky fast alleine unterwegs: Anders als die großen Favoritinnen hat sie keine starke Mannschaft als Unterstützung.
35 Jahre, Niederlande
Sie ist meine dritte Favoritin aus der holländischen Mannschaft. Wie Demi Vollering hat sie den Punch für ein Sprintfinale. Eigentlich braucht Marianne keine Mannschaft - sie setzt sich alleine durch. Am Schluss sprintet sie bis zum Erbrechen.
24 Jahre, Deutschland
Ich habe die deutsche Brille auf: Liane Lippert hat für mich bei dieser Rad-WM Außenseiterchancen - sie hat das Zeug für Erfolge auf einem selektiven Kurs wie in Wollongong. Ich finde bemerkenswert, welchen unglaublichen Renninstinkt sie besitzt. Auch wenn sie in Australien keine so starke Mannschaft an ihrer Seite hat wie die Italienerinnen, Holländerinnen und Australierinnen.
(25 Jahre, Italien)
Sie ist die absolute Senkrechstarterin in dieser Saison: Top Ten bei einigen Eintagesklassikern, Siebte beim Giro, Fünfte bei der Tour. Bei der Vuelta der Frauen hat sie in einem schweren Finale eine Etappe in einem Bergaufsprint gewonnen - vor Demi Vollering, Elisa Longo Borghini, Lotte Kopecky, Liane Lippert und Annemiek van Vleuten.
Für die Italienerinnen wird Elisa Longo Borghini der Dreh- und Angelpunkt bei der Rad-WM sein. Ihr fehlt die Endschnelligkeit für einen eigenen Erfolg. Aber ihre Leistung wird der Schlüssel dafür, ob Balsamo oder Persico erfolgreich sein können.
(25 Jahre, Niederlande)
Die zweite Holländerin unter meinen Favoritinnen. Sie hat den Punch für ein Sprintfinale. Wenn die Holländerinnen erfolgreich sein wollen, müssen sie es wie die Italienerinnen hinkriegen, an einem Strang zu ziehen.
39 Jahre, Niederlande
Sie ist die absolute Seriensiegerin in allen schweren Rennen. Vielleicht sehen wir von ihr auch wieder so einen Kopf-durch-die-Wand-Ritt wie bei der Rad-WM 2019. Sie könnte am langen Berg (Mount Keira; Anm. d. Red.) in Wollongong attackieren - aber ich denke, die 120 Kilometer von dort bis ins Ziel sind zu weit. Zumal nach ihrem Sturz im Mixed-Teamzeitfahren noch ein großes Fragezeichen hinter ihrer Verfassung steht.
Holland ist sicher auch die dominierende Mannschaft, die es zu schlagen gilt - sie stellt drei Favoritinnen. Aber Olympia hat gezeigt: Sie haben eine Kommunikationsschwäche. Damals hat van Vleuten als vermeintliche Siegerin gejubelt, weil sie - anders als ihre Teamkolleginnen - nicht wusste, dass Anna Kiesenhofer schon im Ziel war und Gold gewonnen hatte.
24 Jahre, Italien
Für mich ist im vergangenen Jahr eine Ära durchbrochen worden. Zuvor hatten viermal in Folge die Holländerinnen die Weltmeisterin gestellt. Elisa Balsamo hat 2021 in Leuven die WM gewonnen, weil ihre italienische Nationalmannschaft im Rennen die Verantwortung übernommen und so die favorisierten Holländerinnen geschlagen hat.
Elisa ist endschnell, aber keine reinrassige Sprinterin wie beispielsweise Lorena Wiebes. Den einen Kilometer langen Berg auf dem Rundkurs in Wollongong kann sie überstehen - die WM-Strecke im vergangenen Jahr war auch schwer im Finale, ist also vergleichbar. Genaugenommen wird das Straßenrennen in Wollongong wohl ein Rennen Holland gegen Italien - beide Nationalteams stellen mehr als eine Favoritin.