Andreas Kublik
· 10.08.2022
Team Bora-Hansgrohe gewinnt erstmals eines der drei großen Etappenrennen: Der Australier Jai Hindley krönt die starke Mannschaftsleistung beim Giro d’Italia.
Der Superga ist nicht gerade ein furchteinflößender Gipfel. Eher ein sanfter Hügel, der sich am Stadtrand von Turin erhebt, mit der Wallfahrtskirche Basilica della Natività di Maria Vergine als Zierde auf seinem höchsten Punkt. Und dennoch bedrohlich, wie seine Geschichte zeigt - schließlich zerschellte hier im Jahr 1949 ein Flugzeug mit der Fußballmannschaft des AC Turin an Bord. 31 Tote waren zu beklagen.
Aber im Profil des 105. Giro d’Italia wirkte die Fahrt über die 655 Meter hoch gelegene Panoramastraße auf den ersten Blick nicht so, als könnte sie Ambitionen auf den Gesamtsieg gefährden - eine Schippe Sand im Vergleich zu den Riesen im Parcours: dem Ätna oder dem Blockhaus in den Abbruzzen oder den Herausforderungen, die auf das Peloton in den Alpen noch warteten wie Mortirolo-Pass, Pordoijoch oder Fedaia-Pass. Jenen Bergen, die auf den ersten Blick geeignet schienen, bei dieser dreiwöchigen Fahrt durch Ungarn und Italien die Spreu vom Weizen zu trennen.
Beim Team Bora-Hansgrohe aber hatte man sich den Rundkurs um die Hauptstadt des Piemont im Roadbook rot angestrichen. “Es gibt bei jedem Giro ein paar wenige Etappen, bei denen man grande casino (italienisch für Krawall; Anm. d. Red.) machen kann”, betont Wilco Kelderman, der sich deshalb die Tagesstrecke rund um Turin im März mit dem Sportlichen Leiter Enrico Gasparotto vor Ort angesehen hatte. Denn im deutschen Rennstall hatte man sich für diesen Giro d’Italia viel vorgenommen und für diese 14. Etappe etwas Besonderes ausgedacht. Etwas, das die Konkurrenz überraschen, fast schon schockieren sollte.
Nach der Etappe, als alles vorbei war, sah Mikel Landa vom Team Bahrain-Victorious in den ersten Interviews aus wie ein Klassenbester, der zum Ausfragen an die Tafel gerufen - und dabei am einzigen Tag erwischt wurde, an dem er nicht gelernt hatte. Der Baske, der das Peloton schon bei Giro, Tour de France und Vuelta a Espana mit seinen Attacken am Berg aufgemischt hat, meist gut vorbereitet von seinen Teamkollegen, war am Abend dieses extrem heißen Mai-Tages in Turin einer der Verlierer.
Nach einer veritablen Achterbahnfahrt auf verwinkelten Straßen durch die Hügelkette vor den Toren Turins, mit kurzen, aber sehr steilen Rampen - mit zwei Runden über Superga und den benachbarten, ähnlich hohen Colle della Maddalena. “Wir haben das nicht erwartet. Vielleicht haben wir alle zu sehr auf Ineos-Grenadiers geschaut. Es war natürlich eine große Überraschung, dass Bora so viel Schaden im Feld angerichtet hat“, räumte der 32-jährige Routinier in Verona beim Blick zurück ein.
Team Ineos Grenadiers, das seit Jahren die großen Etappenrennen dominiert und mit dem Giro-Sieger von 2019, Richard Carapaz, als Kapitän und Top-Favoriten ins Rennen gegangen war, war an diesem Tag gezwungen zu reagieren, statt wie gewohnt zu agieren. Team Bora-Hansgrohe hatte mit voller Mannschaftsstärke alles in die Waagschale geworfen. Sie hatten mit einem orchestrierten Ritt mit vielen Ablösungen und erbarmungslosem Tempodiktat ein Ergebnis herbeigeführt, das man auf einer Etappe außerhalb des Hochgebirges so selten gesehen hat. Minutenlang kamen nur einzelne Fahrer ins Ziel.
Zwar ging das Rosa Trikot am Ende dieser Etappe an Carapaz - aber der Auftritt der Bora-Bande sorgte für einen Wirkungstreffer: Anführer Jai Hindley war der Sieger des Tages neben dem Etappenschnellsten Simon Yates - sonst gab es fast nur Verlierer im Peloton. Und viele begeisterte Beobachter außerhalb. “Taktisch elegant gelöst, ich bin begeistert”, sagte Jens Voigt als Experte beim TV-Sender Eurosport zu diesem Auftritt. “Vielleicht haben wir ein neues Team für die Gesamtklassements gesehen”, befand der am Ende dieses Giro d’Italia letztlich drittplatzierte Baske Landa.
Und genau das war der Plan von Teamchef Ralph Denk und dem neu verpflichteten Sportchef Rolf Aldag gewesen: den Rennstall Bora-Hansgrohe zu einer Macht bei den dreiwöchigen Etappenrennen zu machen - auf Augenhöhe mit den bisher bekannten Protagonisten: Landas Team Bahrain Victorious, Ineos Grenadiers, UAE Team Emirates und Jumbo-Visma. “Mit Sicherheit war die Turin-Etappe ein Schlüsselmoment, um auch ein gewisses Standing im Feld zu bekommen und sich Respekt zu erarbeiten. Wir haben aber von Tag eins super zusammengearbeitet”, sagte der deutsche Bora-Profi Lennard Kämna bei seiner Giro-Bilanz. Aber der Tag am Superga entfaltete erst im Rückblick seine volle Bedeutung.
Was eine Woche später in der Arena von Verona passierte, war für Denk und Co. die Erfüllung eines Traums - und das Ergebnis der Entwicklung, die sich in den Hügeln um Turin abgezeichnet hatte: Der Australier Jai Hindley rollte auf einem rosa Rennrad über einen rosa Teppich von der Piazza Brà. Dort lag das letzte Etappenziel dieses Giro, in der alten Kampfstätte der Römer und heutigen Opernbühne, wo ihn tausende Fans als Sieger des 105. Giro d’Italia empfingen.
Der zu Saisonbeginn von Denk neu verpflichtete Kletterspezialist hatte nicht nur den angestrebten Platz auf dem Podium erreicht - er bescherte Bora-Hansgrohe den ersten Gesamtsieg bei einer der drei Grand Tours, den dreiwöchigen Etappenrennen Giro, Tour und Vuelta. Es war die Vollendung eines Meisterstücks, das Hindley mit seinen Teamkollegen auf den Straßen des Giro hingelegt hatte. Was als erste Orchesterprobe einer Ansammlung von Solisten begonnen hatte, wurde gleich eine perfekt aufgeführte Radsport-Sinfonie.
Am Tag vor der Ankunft in Verona hatte der 26-jährige Hindley mit einem beeindruckenden Solo die dreiwöchige Vorarbeit schon so gut wie gekrönt: Ein Aufschrei hallte über die Felswände der Marmolada am Fedaia-Pass, als tausende Fans, eine Schar Journalisten und Teambetreuer als Beobachter an den TV-Bildschirmen entlang der Bergstraße sahen, wie zwei Männer in Grün im Vordergrund energisch in die Pedale traten und das Gesicht des Manns in Rosa im Hintergrund zu verschwimmen begann. “Ich hatte nur eine Patrone im Lauf, der Schuss musste sitzen”, sagte Hindley später ein wenig martialisch über den entscheidenden Moment auf den mehr als 3400 Kilometern der Italien-Rundfahrt, als er alle Konkurrenten inklusive des bis dahin Führenden Richard Carapaz stehen ließ.
Vor dem Einzelzeitfahren am Ende in Verona wollte der schmale und gleichzeitig explosive Kletterspezialist unbedingt verhindern, dass er eine ähnliche Erfahrung wie 2020 machen musste - als er im abschließenden Kampf gegen die Uhr als Träger des Rosa Trikots im letzten Moment gegen den Briten Tao Geoghegan Hart verlor. Diesmal wollte er mit einem ausreichenden Zeitpolster in die ungeliebte Abschlussprüfung gehen. Mission erfüllt: Im Ziel hatte Hindley aus drei Sekunden Rückstand auf Konkurrent Carapaz 1:25 Minute Vorsprung gemacht.
“Ein Traumszenario”, nannte Teamkollege Kämna oben auf dem Fedaia-Pass, was er da gerade mit Hindley aufgeführt hatte. Kämna, seit kurz nach dem Start in Belluno in einer Ausreißergruppe unterwegs, ließ sich vor den steilsten Rampen mit lockerem Tritt zurückfallen. Dann spannte er sich vor den heranstürmenden Teamkollegen Hindley und dessen letztes verbliebenes Anhängsel Carapaz und trat ein paar Hundert Meter so fest in die Pedale, dass der zähe Ecuadorianer mit schmerzverzerrtem Gesicht abreißen ließ.
Kämna scherte aus, Hindley stürmte wie enthemmt auf den letzten Gipfel des Giro. Im Ziel fielen sich die Teamkollegen um den Hals, nachdem sich Hindley einige Minuten auf dem Asphalt der Passstraße von seinem Parforceritt in den Armen des Teamarztes erholt hatte.
Der Australier hatte das Teamwork gekrönt - als Bester der deutschen Mannschaft, die ursprünglich mit drei möglichen Anführern ins Rennen gegangen war. Eine Strategie, die sich rückblickend bewähren sollte: Schließlich wirkten viele Mannschaften bei diesem Giro regelrecht entkernt, nachdem deren Anführer aus den verschiedensten Gründen ausgeschieden waren: Miguel Angel Lopez bei Astana, Tom Dumoulin bei Jumbo-Visma, Simon Yates bei BikeExchange, oder Romain Bardet bei DSM.
Und so verdeckte die grandiose Form des Besten in einer ursprünglichen Dreierspitze die Wirrnisse und Probleme einer suboptimalen Rennvorbereitung mit Stürzen und Krankheiten bei Bora - das Pilotprojekt als reines Klassementfahrer-Team hätte durchaus auch schiefgehen können.
Denn Kelderman, Dritter des Giro 2020, bemerkte früh in der Rundfahrt, dass er nach einem schweren Sturz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich nicht in Top-Form war, das Podium war früh außer Sichtweite - und so spannte er sich nicht nur rund um Turin selbstlos als Hindleys Helfer und Tempomacher ein.
Deutschlands Hoffnungsträger Emanuel Buchmann, der Dritte im Bunde, konnte an den langen Anstiegen den Besten um Hindley und Carapaz nicht folgen, erkämpfte sich aber zäh Gesamtrang sieben - seine beste Grand-Tour-Platzierung nach Rang vier bei der Tour 2019. “So unzufrieden bin ich nicht - ich hatte eine extrem schwere Vorbereitung mit vielen Rückschlägen. Ich bin nicht auf meinem absoluten Top-Niveau”, bilanzierte der Oberschwabe.
Ein anderer Deutscher hatte in Italien gleichsam einen Neustart hingelegt: Lennard Kämna, vor zwei Jahren umjubelter Etappensieger bei der Tour de France, hatte im Vorjahr die Lust am Radsport verloren, sich eine Auszeit genommen und begeisterte nun die Radsport-Fans mit einer Rolle als freier Radikaler im Team: als Etappensieger am Ätna, auf etlichen Bergetappen weit vorne dabei und im Finale des Giro letzter Helfer von Hindley auf dem Weg zum Triumph.
“Wenn es um den Giro-Sieg geht, ist es nicht wirklich schwer zurückzustecken”, sagte Kämna zu seinem selbstlosen Verzicht auf einen möglichen Etappensieg auf der letzten Bergetappe. “Es war ein sehr schönes Rennen. Es lief fürs Team sehr, sehr gut; und für mich persönlich nehme ich mit, dass ich eine Grand Tour wieder auf sehr hohem Niveau fahren konnte, das hat mir sehr viel Freude bereitet”, urteilte Kämna.
“Erfolg schweißt zusammen”, betonte Jens Zemke, der als Sportlicher Leiter gemeinsam mit Enrico Gasparotto das Ensemble steuerte - aber er weiß auch, wie Mannschaften auseinanderfallen, wenn es nicht funktioniert. Doch so waren alle glücklich - unabhängig vom persönlichen Erfolg. “Es waren wirklich drei schöne Wochen”, sagt Kelderman nach einem Rennen, in dem er seine Form suchte und von etlichen Defekten heimgesucht wurde.
“Die Enttäuschung über mein Abschneiden habe ich schon vergessen - diese Mannschaftsleistung gibt mir so viel mehr. Wir haben zum ersten Mal versucht, Vollgas auf Gesamtklassement zu gehen, und es hat gleich geklappt”, fasste der Routinier aus den Niederlanden zusammen, der am Tag von Turin noch gezaudert hatte, als es darum ging, dort den lange gefassten verwegenen Plan auch in die Tat umzusetzen.
Dann ließ er sich doch auf Wunsch von Kämna und Hindley als gnadenloser Tempomacher einspannen, getrieben von der euphorischen Gruppendynamik. In den Katakomben der Arena von Verona fühlte sich der Niederländer an das Jahr 2017 erinnert. Damals war er Teil der Giro-Mannschaft von Team Sunweb, die Tom Dumoulin auf dem Weg zum Gesamtsieg begleitete.
In den darauffolgenden Monaten gewannen die Rennfahrer des Rennstalls vier Etappen, das Grüne Trikot und das Bergtrikot bei der Tour, Kelderman wurde Vierter bei der Vuelta, und schließlich holte man gemeinsam im Herbst den WM-Titel im Mannschaftszeitfahren. “Ich bin mir sicher, dass jeder Bora-Hansgrohe-Rennfahrer, der jetzt zu Hause sitzt, Extra-Motivation bekommt”, sagte der 31-jährige Routinier.
“Achtet künftig auf Bora-Hansgrohe”, sagte Anführer Hindley als Schlusswort in Verona, bevor er sich zu ein paar Feierbieren bei der kurzfristig anberaumten Siegerfete nahe der Arena und danach in den Urlaub verabschiedete. Sie haben jetzt Lust auf mehr. Fortsetzung soll folgen.
(AUS, Bora-Hansgrohe), 86:31:14 Std.
(Ecuador, Ineos Grenadiers), +1:18 Min.
(ESP, Bahrain Victorious), +3:24
(ITA, Astana), +9:02
(ESP, Bahrain Victorious), +9:14
(TCH, Intermarché-Wanty-Gobert), +9:28
(GER, Bora-Hansgrohe), +13:19
(ITA, Intermarché-Wanty-Gobert), +17:29
(GBR, EF Education-Easy Post), +17:54
(ESP, Trek-Segafredo), +18:40
(GER, Bora-Hansgrohe), +43:58
“Ich würde für das Rosa Trikot sterben”, sagte Jai Hindley gegen Ende des Giro. Vor zwei Jahren hatte ihm der Brite Tao Geoghegan Hart das begehrte Leibchen am letzten Tag der Italien-Rundfahrt entrissen - zu schlecht war Hindleys Performance im abschließenden Zeitfahren gewesen.
Die bittere Niederlage habe ihm lange nachgehangen, räumte der Profi vom Team Bora-Hansgrohe ein. In der vergangenen Saison folgten gesundheitliche Probleme, Aufgabe beim Giro, danach wollte er Verpasstes bei der Vuelta nachholen - wurde von seinem damaligen Team DSM aber nicht für das Rennen nominiert. Es sei “ein steiniger Weg” gewesen, sagt der 26-jährige Australier.
Diesmal ging alles gut: Hindley, aufgewachsen im westaustralischen Perth, ist der erste Giro-Sieger vom fünften Kontinent - Cadel Evans, 2011 erster Tour-de-France-Sieger aus Australien, war in Italien mehrmals gescheitert.
Bei der Siegesfeier in Verona konnte Hindley erstmals nach fast zweieinhalb Jahren seine Eltern in die Arme schließen - eine Heimreise hatten die strengen australischen Einreisebestimmungen während der Pandemie verhindert. Immerhin habe er seine australische Freundin Abby Chandler an seiner Seite gehabt.
Seine Eltern spielen eine besondere Rolle: Vater Gordon, einst selbst Radrennfahrer im britischen Manchester, wanderte nach Australien aus, gründete eine Familie und steckte in der neuen Heimat seine beiden Söhne mit der Radsportbegeisterung an. Gordon’s Development Team wurde zum Familienprojekt: Der Vater nahm eine kleine Schar junger Radsportler auch zu Trips in die Pyrenäen mit und vermittelte ihnen europäische Radsportgeschichte. Mutter Robyn fand es gut, dass sich der Spross zwischenzeitlich in einem Mannschaftssport versuchte: Doch der ausgehungerte Bergfahrer-Typ war beim Rugby nicht ideal aufgehoben. Nach einem Jahr kehrte er zum Radsport zurück.
Nett, normal, zugewandt, aufmerksam, interessiert - so beschreiben Team-und Berufskollegen Hindley, der in Pressekonferenzen den Moderator auch mal darauf hinweist, dass er die Wortmeldung eines Journalisten übersehen hat. Als Idol nennt er keinen internationalen Star des Radsports, sondern Robert Power.
Der Kumpel, der einst auch mit Gordon’s Development Team unterwegs war, sei wie “ein großer Bruder” im Radsport gewesen. Der ein Jahr Ältere galt einst als größtes australisches Rundfahrttalent, beendete aber 2021 seine Karriere nach vielen Rückschlägen. Hindley weiß also, dass es nicht selbstverständlich ist, so weit gekommen zu sein.