Robert Kühnen
· 13.03.2023
Ein Familienvater, 50 Jahre alt und beruflich stark eingespannt, hat sich zum Ziel gesetzt, erstmals beim Ötztaler Radmarathon zu finishen. TOUR begleitet und betreut Hobbyfahrer Joe Ramming bei seiner Transformation zum Trainingsprofi. Unsere siebenteilige Serie dokumentiert bis Juli alle wichtigen Aspekte der Vorbereitung: vom Bikefitting über Ernährung bis zur Rennplanung.
>> Status quo: fährt seit 15 Jahren Rad; saß 2022 knapp 300 Stunden im Sattel
>> Highlight: 2022 Dolomiten-Marathon
>> Ziel 2023: Ötztaler Radmarathon im Zeitlimit
>> Trainingszeitbudget: 8 Stunden pro Woche
>> INSCYD-Schwellendiagnose: 212 Watt
“Meinst du, ich könnte den Ötztaler schaffen?” Eine eher beiläufig gestellte Frage stieß diese Geschichte an. Joachim “Joe” Ramming ist Hobbyfahrer. “Ein langsamer Hobbyfahrer”, sagt der 50-Jährige über sich selbst. Aber einer mit Biss: Den Dolomiten-Marathon hat der Familienvater schon mehrmals erfolgreich gepackt – auf der langen Strecke, wenn auch im hinteren Teil des Feldes.
Der Ötztaler Radmarathon aber ist noch mal eine deutlich härtere Nummer: 227 Kilometer und 5500 Höhenmeter, verteilt auf vier Anstiege, sind ein ziemlich einschüchterndes Pensum – vor allem mit dem Timmelsjoch als letztem Anstieg: Nach dem langen Aufgalopp sind die 1800 Höhenmeter am Stück ein echtes Brett. Dagegen verblassen sogar manche Bergetappen der Tour de France. Viele Sportlerinnen und Sportler kämpfen nicht nur gegen den Berg und ihren inneren Schweinehund, sondern auch gegen den Besenwagen.
Nur wer die Kontrollpunkte im Zeitlimit packt, darf weitermachen. 14 Stunden bis Zielschluss scheinen zwar reichlich bemessen – das ist doppelt so lang, wie die Schnellsten benötigen – dennoch sammelt der Besenwagen stets reichlich Fahrer ein. Krämpfe können auch starke Beine stilllegen. Und ein Einbruch zehrt Zeitpolster schnell auf. Den Zielbogen im Zeitlimit zu durchfahren, ist durchaus eine Herausforderung. Profil, Stimmung und Härte machen den Ötzi zu einem der begehrtesten Marathons; die 4000 Startplätze werden per Los zugeteilt.
Um die vorderen Plätze streiten beim Ötztaler nur ausgewiesene Spezialisten: Leichte, kletterstarke Fahrer sind im Vorteil. Die Währung heißt “Watt pro Kilogramm Körpergewicht”. Die Besten treten ähnlich vehement ins Pedal wie Radprofis und stürmen mit 5 Watt pro Kilo (W/kg) und mehr die Berge hoch. Damit die Energie reicht, muss die Fettverbrennung tipptopp sein; im mittleren, flacheren Teil der Strecke darf man nicht überzocken, sondern muss energiesparend fahren.
Die Mindestleistung, um den Ötztaler Radmarathon zu packen, liegt bei 2 bis 2,5 W/kg beim Klettern. Neben der reinen Leistung zählen natürlich auch Geschick in den Abfahrten, ökonomische Fahrweise, ausreichende Ernährung und vieles mehr. Im Prinzip gehen es die langsamen Fahrer ganz ähnlich an wie die Spitze, nur eben nicht so schnell. Und das heißt natürlich auch, dass sie viel länger im Sattel sitzen müssen, was es nicht leichter macht.
Wer es aber gegen alle Widerstände schafft und trotz kräftiger Statur und wenig Zeit fürs Training den Zielbogen in Sölden erreicht, ist für die nächsten Monate auf Wolke sieben. Wer leuchtende Augen sehen will, schaue sich das Finale des Ötztaler Radmarathons an.
Diese Herausforderung lockt und motiviert auch unseren Protagonisten Joe. “Kann ich das packen?” Diese Frage treibt ihn schon länger um. Der 50-Jährige fährt seit 15 Jahren Rennrad und nimmt sich in der Regel zwei Jahresziele vor: den Dolomiten-Marathon und die Wendelstein-Rundfahrt. “Ich habe erst spät mit dem Sport begonnen – ich glaube, das limitiert mich”, sagt er über seine Form, “aber es macht mir Riesenspaß. Ich bin so froh, dass ich das Rennrad für mich entdeckt habe.”
Joe fährt gerne mit Freunden eine Tour in den Alpen und verbringt regelmäßig eine Woche auf Mallorca. “Richtig trainiert habe ich bislang nicht”, erzählt er. “Ich bin halt gefahren, wenn ich Zeit hatte und wie es mir Spaß machte.” Erfahrungen mit Intervalltraining hat er von der Rolle: “Strukturiertes Fahren kenne ich am ehesten von Zwift, da habe ich schon einiges probiert, war mir aber nie ganz sicher, welches Programm das richtige für mich ist.”
Joe ist Familienvater und hat einen anstrengenden Manager-Job, der zudem wöchentliches Pendeln erfordert. Die Hälfte der Woche ist er nicht zu Hause, sitzt zudem lange im Auto. Keine idealen Voraussetzungen, um das Trainingspensum zu steigern. Verbesserungen sind für ihn fast nur über gezielteres Training möglich. Seine technische Ausstattung dafür ist top: Smarttrainer daheim und an seinem Arbeitsort, eine leichte Rennmaschine und ein Gravelbike, beide mit Powermeter. Damit hat er in den vergangenen Jahren bereits Daten gesammelt.
An diesen Daten lässt sich ablesen, dass einige von Joes Bestleistungen in den Winter fielen; im Sommer stach der Dolomiten-Marathon als Energieleistung hervor. Die Steigerung im Winter ging auf ein intensives Zwift-Training zurück. Aber dessen Wirkung verpuffte, weil darauf kein Anschlusstraining oder Wettkampf folgte. Joes Leistungsentwicklung stagnierte über die vergangenen zwei Jahre.
Obwohl er jährlich fast 300 Stunden im Sattel saß, ist keine Leistungssteigerung vor seinen Saisonhöhepunkten erkennbar. Joe war im Prinzip immer ähnlich fit, das heißt, er fuhr auf einem Leistungsplateau.
Vor dem Dolomiten-Marathon saß er zwar mehr auf dem Rad, aber das Timing stimmte nicht: Eine Woche vor dem Start, in der bereits eine Reduktion des Trainingsumfangs (Tapering) sinnvoll gewesen wäre, fuhr er noch eine extralange Neun-Stunden-Einheit, seine längste Ausfahrt in diesem Jahr. Auch auffällig: Die einzelnen Fahrten waren oft typische “Misch-Masch-Fahrten”: Statt die meiste Zeit in der GA1-Zielzone zu trainieren, fuhr Joe eher darüber, regelmäßig sogar mit anaeroben Spitzen, verbrachte aber auch viel Zeit bei zu niedrigen Leistungen.
Dadurch fehlte der richtige Stimulus, sein aerobes System und damit das Fundament seiner Form weiter auszubauen. Unser Plan: Mit mehr Struktur und neuen Akzenten im Training sollte mehr möglich sein. Zwar wäre der Ötztaler Radmarathon rein rechnerisch auch mit Joes physiologischem Status quo zu bewältigen, aber eben nur knapp. Ein bisschen mehr Reserve wäre gut.
Der erste Schritt vom Spaßfahrer zum Radprofi ist eine Leistungsdiagnose. Die kann man im Labor machen, aber auch auf der Straße, wofür wir uns entscheiden. Der Vorteil: Der Test findet unter realen Bedingungen statt, wir sind flexibel und nicht auf einen Labortermin angewiesen. Die Durchführung ist zudem günstiger, was häufigeres Testen erleichtert. Mit Hilfe von Simulationsrechnungen lassen sich aus Powerdaten auch Details zum Stoffwechsel ermitteln, was bislang guten Laboren vorbehalten war.
Der Anbieter INSCYD bietet solche Rechenkünste an. Im Prinzip ist der INSCYD-Test eine wissenschaftlich vertiefte Version des FTP-Tests (siehe unten), den man auch gut selbst machen kann; er stellt im Unterschied zu diesem aber nicht nur die Leistung fest, sondern liefert auch mehr Erklärungen, wo anzusetzen ist, um die Leistung zu verbessern.
Das INSCYD-Testprotokoll erfordert derzeit noch einen betreuenden Coach, ist also kein reines Do-it-yourself-Programm wie der FTP-Test. Joe fährt die vier Intervalle, auf die es im Test ankommt, an einem Novembersonntag in seinem Heimrevier: über 20 Sekunden, 3 Minuten, 10 Minuten und 20 Minuten.
Die Auswertung zeigt, dass Joes Stärken derzeit im Kurzzeitbereich liegen. Er produziert zu schnell zu viel Laktat, was ihn zwar befähigt, kurze Zeit recht schnell zu fahren, aber seine Dauerleistung hemmt. Im sitzenden Sprint zeigt er eine ansprechende Leistung, auch die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) ist in Ordnung.
Schwächer ausgeprägt ist seine Schwellenleistung, also die maximale Dauerleistung. Auch die Fettverbrennung ist eher schwach. Damit hat er im Grunde das falsche “Motorprofil” für ein Event wie den Ötztaler Radmarathon, wo hohe Schwelle und optimale Fettverbrennung die gefragten Fähigkeiten sind, Sprintqualitäten hingegen verzichtbar.
Sebastian Weber, INSCYD-Mastermind und Profi-Coach, sieht aber Entwicklungspotenzial. “Mit optimalem Training ist eine Anhebung der VO2max auf mindestens 55 Milliliter pro Minute pro Kilogramm Körpergewicht drin”, sagt er – das wäre eine Steigerung um 17 Prozent. Auch die maximale Laktatbildungsrate VLa_max könne langfristig von 0,5 auf 0,4 Millimol pro Liter Blut pro Sekunde sinken, also um 20 Prozent, mehr sei mit acht Wochenstunden Training nicht zu erwarten. Beides würde aber die Schwellenleistung erhöhen, also die Kletterpower für den Ötzi.
Suchen Sie sich eine verkehrsarme, ampelfreie Nebenstrecke. Das Profil der Strecke hat Einfluss aufs Ergebnis: An einer Steigung erzielen Sie in der Regel eine höhere Durchschnittsleistung. Wenn Sie auf einen bergigen Wettkampf trainieren, ist die Bergstrecke vorzuziehen. Planen Sie für ein flaches Rennen, eignet sich eine flache Strecke besser für den Test.
Wenn das Thema Leistungsdaten für Sie neu ist, sollten Sie vor dem Test ein bis zwei Wochen mit dem Powermeter fahren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie dynamisch die Anzeige des Geräts reagiert. Fahren Sie ein paar Berge hoch, dann werden Sie sehen, wie Ihre Leistungsspitzen nachlassen und sich die Leistung einpegelt.
So gewinnen Sie eine realistische Einschätzung, auf welchem Leistungsniveau Sie in etwa fahren können. Nach dieser Eingewöhnung sind Sie bereit für einen ersten Test. Da Sie sich bei dem Test maximal anstrengen, sollten Sie gesund und belastbar sein. Im Zweifel lassen Sie sich zuvor sportärztlich mit einem Belastungs-EKG untersuchen.
>> 30 Minuten Warm-up, mit ein, zwei kurzen, knackigen Antritten nach knapp 20 Minuten
>> 5 Minuten Vollgas
>> 10 Minuten lockeres Rollen
>> 20 Minuten Vollgas 15 Minuten Cool-down
FTP = die maximale 20-Minuten-Leistung mal 0,95 = _____
Wenn Sie das Gefühl haben, Sie hätten noch härter fahren können, sollten Sie den Test nach einer Woche wiederholen. Die höchste Durchschnittsleistung erzielen Sie mit einer gleichmäßigen Fahrt.
Grundsätzlich ist der Test auch indoor möglich. Zwift zum Beispiel bietet dazu verschiedene Protokolle an. In der Regel sind die Werte drinnen etwas niedriger als draußen. Um Fortschritte festzustellen, sollte der Test immer auf die gleiche Weise durchgeführt werden.
Um das aerobe Fundament zu stärken, legen wir den Fokus zunächst stärker auf das Training der Grundlagenausdauer, mit deutlicherem Fokus auf den unteren Grundlagenausdauerbereich (GA1) als bislang. Um beim Ötztaler schneller zu werden, wird Joe also zunächst erst mal langsamer fahren.
Intensives Indoor-Training wird reduziert, auch die Strecken draußen werden angepasst: Ein langes Training am Wochenende von drei oder mehr Stunden wird Joe zukünftig auf einer relativ flachen Strecke fahren, auf der er seine Belastung besser dosieren kann als auf den hügeligen Kursen, die er bislang fuhr und die ihn immer wieder in den roten Bereich zwangen.
Je nach Wetter wird das Straßen- oder Gravelrad zum Einsatz kommen. Ein morgendliches Indoor-Nüchtern-Training von anderthalb Stunden fällt auch in die GA1-Zone und unterstützt den Ausbau der noch mageren Fettverbrennung, die für den Ötzi zentrale Bedeutung hat.
Zusätzlich absolviert Joe wöchentlich zwei Intervalltrainings. Einerseits stehen Intervalle mit 110 Prozent Schwellenleistung auf dem Programm – ein Kompromiss aus Reiz für die VO2max und nicht zu hoher Laktatbildung. Andererseits sogenannte Sweet-Spot-Intervalle an der Grenze GA2/EB, absolviert mit niedriger Drehzahl, um die schnellen Muskelfasern anzusprechen und sie mehr auf Ausdauer zu trimmen. Wir wollen damit sichergehen, seine Kurzzeitleistung nicht weiter zu stimulieren, die ihm beim Ötzi nichts bringt.
Rund acht Wochen nach Trainingsbeginn wird Joe die Leistungsdiagnose erstmals wiederholen. Fest eingeplant ist dazu ein einwöchiges Trainingslager auf Mallorca im April, wo er auch Berge fahren wird, außerdem ein kurzes, intensives Bergcamp im Mai am Gardasee sowie der Nove Colli in Cesenatico als Trainingswettkampf. Auf dem Weg zum Ötztaler am 9. Juli wird er dann noch die Wendelstein-Rundfahrt bestreiten.
Joe freut sich auf die anstehenden Aufgaben: “Mit dieser intensiven Betreuung wird das Abenteuer Ötztaler noch mal spannender. Was ich schon gelernt habe, ist, dass ich mir im Training auch mal mehr Zeit für die Erholung nehmen muss.”