Julian Schultz
· 30.10.2022
Nach seiner Rennpremiere lüftet Canyon auch offiziell den Vorhang und präsentiert das neue Ultimate. Es ist leichter, aerodynamischer und vielseitiger.
Als Jay Vine in der Nebelsuppe des Pico Jano über den Zielstrich fährt, knallen in der Villa Loucisa die Korken. Nicht etwa, weil in dem Häuschen oberhalb Nizzas australische Radsport-Fans den ersten World-Tour-Erfolg ihres Landsmanns begießen. Die Sektlaune hat vielmehr mit Vines Rennrad zu tun, das auf der sechsten Etappe der diesjährigen Vuelta a Espana ebenfalls seine Siegpremiere feierte. Der 26 Jahre alte Profi vom Team Alpecin-Deceuninck pilotierte das neue Canyon Ultimate, das die Koblenzer um Chefentwickler Lukas Birr in jener Villa der Weltpresse offiziell vorstellten.
Einen medienwirksameren Zeitpunkt für den ersten Sieg ihres Leichtbau-Modells hätten sich die Pfälzer kaum wünschen können. Schon seit Mai war der Carbonrenner im Profi-Peloton zu sehen, und auch bei der Tour de France erklomm das Ultimate bereits Alpen- und Pyrenäenpässe - allerdings noch ohne nennenswerte Resultate. Neben dem exklusiven Ultimate CFR Di2 der Profis, das TOUR an der Côte d’Azur für einen Fahrtest zur Verfügung stand, unterzogen wir als erstes Rennrad-Magazin das Ultimate CF SLX 9 Di2 einem umfassenden Einzeltest.
Die zentrale Frage: Gelingt dem Wettkampf-Allrounder in fünfter Generation die Balance aus Leichtbau, Schnelligkeit und Komfort? Um diesen Dreiklang zu verbinden, vertraute Canyon auf die Expertise “seiner” World-Tour-Profis und schnitt das Ultimate konsequent auf die Bedürfnisse der Bergspezialisten von Alpecin-Deceuninck, Arkea-Samsic und Movistar zu. In erster Konsequenz drückt sich dieser enge Austausch im bemerkenswert geringen Gewicht aus. So zählt das Rahmen-Set des CF SLX 9 Di2 mit gemessenen 1235 Gramm zu den leichtesten auf dem Markt. Während der Rahmen aufgrund des verstärkten Sitzknotens und Tretlagers sogar etwas schwerer als der Vorgänger ist, fällt die Gabel mit 350 Gramm rekordverdächtig leicht aus. Mit insgesamt 6,8 Kilo trifft das Testrad exakt die UCI-Vorgabe für das Mindestgewicht - und liegt damit noch 200 Gramm vor Konkurrenten wie Scott Addict RC oder Merida Scultura Team. So leichtfüßig klettert das Rad die Anstiege empor, dass man mitunter meinen könnte, man habe Rückenwind.
Von den gewonnenen Sekunden büßt das extrem steife und fahrstabile Ultimate auf der Abfahrt oder in der Ebene jedoch wieder einige ein. Zwar profitiert das CF SLX 9 Di2 im GST-Windkanal von seinem schnellen Laufradsatz, der abgeflachten Sattelstütze und dem vollintegrierten Cockpit, das sich, ohne die Leitungen verändern zu müssen, um 15 Millimeter in der Höhe sowie dreistufig in der Breite verstellen lässt. Mit 222 Watt Tretleistung, die es für 45 km/h benötigt, ist es aber kaum schneller als sein Vorgänger, der mit minimal anderer Ausstattung bei 224 Watt landete (TOUR 8/2020). “Ein leichtes Rad aerodynamisch zu machen, ist die schwierigste Aufgabe”, stellt Entwickler Birr fast schon entschuldigend fest. Vergleichbare Leichtbau-Allrounder wie das Cervélo R5 (231 Watt) oder das Giant TCR Advanced SL (227 Watt) sind allerdings langsamer.
In Summe fällt die aerodynamische Qualität in Relation zum großen Feld der Wettkampfräder also nur durchschnittlich aus - die einzige nennenswerte Schwäche der Neuheit. Das Vorgängermodell federte zwar noch etwas besser, in den meisten Fahrsituationen ist der Komfort der neuen Carbonsattelstütze in Kombination mit der Serienbereifung aber ausreichend. Das Ultimate lässt zudem Platz für bis zu 32 Millimeter breite Reifen, mit denen man das Rad auch für schlechtere Straßen wappnen kann. Genau das machte sich Gianni Vermeersch zunutze und wurde mit einem für die Gravel-WM modifizierten Canyon Ultimate Weltmeister.
Weil Canyon nach dem Update des Aeroad (siehe TOUR 7/2022, S. 60) das Ultimate nun nachlegt, drängt sich die Frage auf, welches Rad wohl das Bessere ist? Gemessen an der TOUR-Note lässt sich keine eindeutige Aussage treffen, da beide Modelle bislang mit unterschiedlichen Qualitätsstufen im Test waren. Es würde jedoch nicht überraschen, wenn viele Käufer das eher klassisch anmutende Ultimate aufgrund seines gelungenen Balanceakts dem noch deutlicher rennorientierten Aeroad vorzögen. Ungewöhnlich ist Canyons Herangehensweise allemal: Während andere Hersteller wie Specialized mit dem Tarmac oder Giant mit dem Propel auf ein universelles Renngerät setzen, bieten die Koblenzer weiterhin sowohl ein eher leichtes als auch ein betont aerodynamisches Wettkampfrad an.
Der Direktvertreiber offeriert das neue Ultimate in elf Modellen und drei Qualitätsstufen, die sich neben der Ausstattung durch ihr Carbon-Layup unterscheiden. Zwischen dem Rahmen des CF SL (ab 2699 Euro) und CFR (ab 10499 Euro) liegen laut Herstellerangabe 320 Gramm. Das getestete CF SLX 9 Di2 kostet 8699 Euro und damit 900 Euro mehr als das vergleichbare Vorgängermodell, ist angesichts seiner hochwertigen Komponenten aber noch verhältnismäßig fair kalkuliert.
Gewicht Rahmen/Gabel/Steuerlager* 843/350/42 Gramm
Rahmengrößen** 3XS, 2XS, XS, S, M, L, XL, 2XL
Sitz-/Ober-/Steuerrohr 505/555/141 Millimeter
Stack/Reach/STR*** 563/395 Millimeter/1,43
Radstand/Nachlauf 990/55 Millimeter
Antrieb/Schaltung Shimano Dura-Ace Di2 (2x12, 52/36, 11-30 Z.)
Bremsen Shimano Dura-Ace (160/140 mm)
Laufräder/Reifen (Gewichte)**** DT Swiss ARC 1100 50/Schwalbe Pro One 25/28 mm (1.171/1.499 g)
¹Angaben laut Bici da Strada
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersicht geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.
******Aerodynamik theoretisch benötigte Tretleistung, um den Luftwiderstand bei 45 km/h zu überwinden, gemessen im Windkanal mit einem tretenden Beindummy.