Jens Vögele
· 08.04.2023
Vintage Rennräder als Leidenschaft: Andreas Höhnen besitzt einen ganzen Raum voller historischer Räder, Trikots und Radsport-Erinnerungsstücke – und hinter jedem verbirgt sich eine faszinierende Geschichte voller Radsportleidenschaft.
Andreas Höhnen und deutet dabei eine Linie an, die deutlich oberhalb seiner Knie verläuft, “so hoch stand hier das Wasser.” An Weihnachten 1993 trat die Mosel so heftig über die Ufer wie noch nie. Im Haus der Familie Höhnen in einem idyllischen Winzerörtchen in Rheinland-Pfalz befand sich damals das elterliche Bekleidungsgeschäft, das schwer von den Auswirkungen des Hochwassers getroffen wurde.
Was ein solch hoher Wasserstand heute anrichten würde, das mag sich Andreas Höhnen allerdings gar nicht ausmalen. Weil die Räume, nachdem es das Geschäft längst nicht mehr gibt, mittlerweile unzählige historische Rennradschätze und eine Sammlung beherbergen, die wohl zu den bemerkenswertesten weit und breit gehört.
“Ich bin radsportwahnsinnig”, sagt Andreas Höhnen lapidar dazu. Begonnen hat alles im geschichtsträchtigen Sommer 1977, als Elvis Presley starb und Didi Thurau bei der Tour de France 15 Tage lang im Gelben Trikot fuhr. Während sich die Liebe zur Musik und zum Rock ’n’ Roll bei Andreas Höhnen eher in gewöhnlichem Ausmaß entwickelte, hatte seine Radsport-Leidenschaft von Beginn an fast schon manische Züge.
Das Peugeot PY 10, das er als Kind bekam, erzählt er mit leuchtenden Augen, habe ihm dabei geholfen, seine Identität zu finden. Und vor allem: “Ich hatte mit dem Radsport gute Gründe, auf dem Dorf nicht Fußball spielen zu müssen.”
Dass Andreas Höhnens Sammlung heute mehr als 35 historische Räder, rund 120 Trikots und unzählige Erinnerungsstücke umfasst, war damals natürlich noch nicht abzusehen – wobei insbesondere zwei Fotos vom Tour-de-France-Finale 1983 dokumentieren, wie immens ihn das Radsportfieber packte, nachdem er anfing, beim RV Schwalbe Trier im Schatten seines Vereinskameraden Reimund Dietzen Rennen zu fahren: Sie zeigen, fein säuberlich in einem Rahmen angeordnet, den 16-jährigen Andreas stolz neben den Rennfahrern Jacques Michaud und José Patrocinio Jiménez sowie seinem Onkel.
Der war damals ein hohes Tier bei der Firma Henkel, die mit ihrer Waschmittelmarke X-TRA das Weiße Trikot sponserte. So kam Andreas Höhnen das erste Mal in direkten Kontakt mit der großen Radsportwelt. “Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir die Etappe damals im Begleitfahrzeug mitgefahren sind”, erzählt er. Am Steuer saß ein gewisser Jean Stablinski, Weltmeister von 1962 und Teamchef von Bernard Hinault in dessen erster Profisaison.
“So fing das alles an”, sagt Höhnen im Rückblick. Und mit “das alles” meint er nicht nur seine Sammlung, die er sich immer wieder liebevoll anschaut, sondern all die Geschichten, die er damit verbindet – und die sein Leben so stark geprägt haben: “Ich könnte ohne Radsport nicht leben”, erklärt er voller Überzeugung. 10.000 Kilometer sitzt er jedes Jahr selbst im Sattel, fährt zu großen Rennen und Rundfahrten und fühlt sich dabei jeden einzelnen Tag “wie an Weihnachten”.
Und er hat dabei in all den Jahren eine große Liebe zu Italien entwickelt, die sich nicht nur darin widerspiegelt, dass die Räume seiner Sammlung in Italiens Nationalfarben gestrichen sind. Sondern auch darin, dass all seine Räder – ob aktuelle oder Sammlerstücke – aus italienischen Rahmen und Anbauteilen bestehen und mit Gruppen von Campagnolo ausgestattet sind. Der schlichte Grund dafür: “Ich halte nichts vom Einheitsgrau oder -schwarz der deutschen Marken – da fehlt mir die Seele.”
Andreas Höhnen zieht das Rad hervor, mit dem seine Sammelleidenschaft begann. “Bottecchia – wie das schon klingt”, sagt er begeistert. Bei einem Händler in Mailand fand er einen ungebrauchten Stahlrahmen aus den High-End-SLX-Rohren von Columbus mit verchromter Gabel – exakt so, wie ihn Greg LeMond bei seinem Acht-Sekunden-Sieg gegen Laurent Fignon bei der Tour de France 1989 fuhr.
“Es hat mehr als ein halbes Jahr gedauert, bis ich zusammenhatte, was ich suchte”, erzählt Höhnen und zeigt auf so ziemlich alles, was Campagnolo in dieser Zeit zu bieten hatte: eine komplette C-Record-Gruppe, einen pneumatischen Electra-Sattel und Shamal-Hochprofilfelgen. Komplett NOS. New old stock.
Drei Worte, die Sammlerherzen der Vintage-Rennräder höherschlagen lassen. Jene alten, unbenutzten Teile waren gegen Ende der 2000er-Jahre “noch erschwinglich”, wie Höhnen sagt. “Damals hast du noch für ein paar Hundert Euro eine ganze Campa-Gruppe bekommen.” Summen, für die mittlerweile alleine die Verpackungen mancher historischer Komponenten gehandelt werden.
Höhnen saß fortan stunden-, ja nächtelang vor dem Computer und suchte wie besessen nach neuen Träumen, die er verwirklichen wollte. Was ihn dabei antrieb? “All die Emotionen, die ich vor allem mit Italien verbinde.” Radsport sei da “Landschaftserlebnis, Sinneserweiterung, aber auch Kultur, Geschichte und Design, die pure Leidenschaft” eben, erzählt er von dem Prozess, in dem sich seine Sammlerliebe verselbstständigt hat.
So stehen in seiner Sammlung heute drei Colnagos in Reih’ und Glied. Ein unterverchromtes, ein C 35 – einer der ersten Carbon-Monocoque-Rahmen – und ein Master, so wie es Giuseppe Saronni fuhr, als er 1982 Weltmeister wurde. Oder ein Gios Torino, das mit Campagnolos Super-Record-Jubiläums-Edition von 1983 und vergoldeten Emblemen ausgestattet ist.
Ein Masi Special mit filigranen Muffen, ein Rossin-Zeitfahrrad mit dem markanten Büffelhornlenker und aerodynamischer Campa-Trinkflasche, oder ein Cesare M. mit den markanten Modolo-Kronos-Bremsen und einem Klickpedal-Prototypen von Cinelli.
Oder das Teamrad von TI-Raleigh mit Nuovo-Record-Gruppe sowie Cinellis Kult-Sattel Unicanitor – so wie es Didi Thurau 1977 bei der Tour de France fuhr. “Das hier ist das i-Tüpfelchen unter Sammlern”, sagt Andreas Höhnen und deutet auf die filigran gravierten – im Fachjargon pantografierten – Anbauteile, die sich etwa an Sattelstütze und Vorbau eines unterverchromten Coppi sowie an der Gabelbrücke des Bottecchia befinden.
Eine ganz besondere Geschichte setzt allerdings das Ausrufezeichen hinter Höhnens Sammlung. In einem Radladen in Heidelberg entdeckte er einen Rahmen, den er wegen seiner Farbe auf den ersten Blick für ein Cinelli Supercorsa hielt. “100 Euro habe ich dafür bezahlt”, erinnert er sich an die Situation, als ihm klar wurde, dass sich unter dem roten Lack das Modell Laser – die Stahlrahmen-Ikone der 80er-Jahre – befand.
Als Andreas Höhnen bei Cinelli-Chef Antonio Colombo mit dem Rahmen vorstellig wurde, beorderte dieser eigens den Rahmenbauer Andrea Pesenti aus dem Ruhestand zurück, um das gute Stück zu restaurieren und in dem kühlen Originalblau wiederherzustellen. Das Ergebnis: “Schöner als das Laser im Museum of Modern Art in New York”, zitiert Höhnen den Cinelli-Chef.
“Nie im Leben”, sagt Andreas Höhen, würde er auch nur einen Meter mit einem seiner Sammlerräder fahren. Schon gar nicht auf Veranstaltungen wie der L’Eroica, wo die guten Stücke unter permanenten Beschuss von Staub und Schotter geraten würden. Natürlich war er schon dort, hat aber schnell gemerkt, dass ihm der Trubel “zu viel Folklore” ist. Höhnen geht lieber seinen eigenen Weg in Sachen Radsport-Historie. Beruflich hat er sich in den Führungsetagen großer Software- und Technologieunternehmen Netzwerke aufgebaut.
Und dank seines kommunikativen Talents ist er in der Radsportszene längst bekannt wie ein bunter Hund. Die Wände im Vorraum sind voller Bilder von Begegnungen. Francesco Moser, Paolo Savoldelli, Gilberto Simoni, Rudi Altig, Jan Ullrich. Zu allen ist Höhnen vorgedrungen. Nur Bernard Hinault, sein “allergrößtes Idol”, hat der Radsport-Fan in all den Jahren nicht getroffen.
Im Sommer vor Corona witterte er aber seine Chance. Hinault hatte angekündigt, zum Fahrrad-Kurzfilm-Festival “Tous en selle” ins Grand-Rex-Kino nach Paris zu kommen. “Ich war aufgeregt”, gibt der fließend Französisch sprechende Höhnen rückblickend unumwunden zu. Aber der Champion erkannte die Situation, als sie aufeinandertrafen, und sagte: “Lass uns erst mal ein Bier zur Beruhigung trinken.”
Seither halten sie losen Kontakt, auch weil Höhnen den fünfmaligen Tour-de-France-Sieger damit beeindrucken konnte, Schuhe von ihm in seiner Sammlung zu haben. “Hinault ist in Frankreich ein Nationalheld, und ich bin für ihn eben der verrückte Deutsche”, sagt er. Immerhin überreichte ihm Hinault später ein altes Streckenschild von Mailand-San Remo.
All diese Geschichten verleihen Höhnens Vintage-Rennräder-Sammlung eine unglaublich facettenreiche Lebendigkeit. Er hat ein gutes Gespür dafür, sie zu einem beeindruckenden Gesamtbild zusammenzufügen. Mit unzähligen Trikots, die eingerahmt die Wände zieren. Mit Postern, Aufklebern, Verpackungen, Mützen, alten Brügelmann-Katalogen oder TOUR-Ausgaben. “Das hier ist das schönste Trikot aller Zeiten”, sagt er, als er an seiner Peugeot-Ecke vorbeigeht und beinahe andächtig stehen bleibt.
Er erzählt dann von 1978. Das Jahr, in dem er mit elf Jahren in Belfort zum ersten Mal am Streckenrand der Tour de France stand und dem französischen Star Bernard Thévenet zujubelte. Und das Jahr, in dem Gregor Braun Weltmeister wurde. Andreas Höhnen nimmt einen Bilderrahmen von der Wand.
“Dieses Trikot”, sagt er, “hat mir damals meine Tante geschenkt.” Das, was dieses Geschenk ausgelöst hat, ist heute auf dem von den Folgen des Hochwassers ziemlich schiefen Holzboden unweit des Moselufers zu bestaunen. Was er an seiner Sammlung am meisten mag?
Andreas Höhnen muss nicht lange überlegen. Seine Finger richten sich nicht auf eines seiner Räder, sondern sofort auf einen schlichten Campagnolo-Verpflegungsbeutel aus den 50er-Jahren: “Das hier ist für mich wie ein Kunstwerk.” Es sind die kleinen Dinge, an denen er sich trotz der Größe seiner Rennradschätze immer noch erfreuen kann. Und trotzdem hat er seine Träume noch lange nicht ausgeträumt. “Ein Cinetica Giotto hätte ich noch gerne”, sagt er: “Für mich das schönste Rad, das jemals gebaut wurde.”
Er richtet den Blick in die Luft und legt seine Stirn in die für ihn so typischen markanten Falten: “Und ich würde gerne die Sammlung in meinen Wohnort Heidelberg umziehen, um dort ein Radsport-Begegnungszentrum mit allem Drum und Dran zu eröffnen – das wäre genau mein Ding.” Aber dann meldet sich pünktlich zu einem geschäftlichen Telefontermin sein Smartphone. Es klingelt mit dem Intro eines der größten Rock-’n’-Roll-Hits aller Zeiten.