Unbekannt
· 26.02.2016
Aerodynamisch, leicht, komfortabel wollen diese Räder sein – es wäre eine Art neuer Königsklasse der Allrounder. Wie gut es den Herstellern gelingt, Gegensätzliches miteinander zu versöhnen?
Es ist paradox: Die Rennradwelt wird vielfältiger, Grenzen zwischen den Gattungen verwischen, es gibt immer mehr Modelle zur Auswahl, Individualisierung ist Trumpf – und gleichzeitig fällt es vielen Rennradlern immer schwerer, sich für ein bestimmtes Modell zu entscheiden. Ist der Aero-Renner vielleicht doch zu extrem? Oder ein bisschen zu schwer? Ist der Leichtbau-Bolide zu empfindlich? Und zu wenig seitensteif? Und der Komfort-Renner – verschenkt man damit nicht doch wieder zu viel Aerodynamik?
Während die Spezialisten unter den Rennrädern immer weiter auseinander in Richtung der Extreme streben, sieht es so aus, als entstünde dadurch in der Mitte neuer Spielraum für Alleskönner – und das auf einem Niveau, auf dem diese neuen Allrounder fast in allen Disziplinen jene Räder ausstechen, die noch vor Kurzem die Klassenbesten in nur je einer Eigenschaft waren.
Die Rahmen von immerhin sechs der neun Modelle in diesem Test wiegen weniger als 900 Gramm, der leichteste, von AX Lightness, bringt keine 700 Gramm auf die Waage. Das ist, ohne Frage: Leichtbau. Die aerodynamisch Besten – Ultimate CF SLX von Canyon, Corratec CCT Evo und Time Skylon – schließen nahtlos an das Testfeld der Spezialisten aus unserem Januarheft an. Und beim Komfort an der Sattelstütze müssen sich die besten Allrounder kaum hinter den betont komfortabel abgestimmten Marathonrädern (Test in TOUR 2/2016) verstecken.
Vorläufig – und das ist der Wermutstropfen – sind diese Räder noch ziemlich teuer. Für die Verbindung von Eigenschaften, die sich vor Kurzem noch tendenziell ausschlossen, müssen die Konstrukteure alle Register ziehen und die Möglichkeiten vor allem des Materials Carbon ausreizen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die neuen Allrounder sind in keiner Eigenschaft absolute Spitze – aber in allen Eigenschaften besser, als es die Spezialisten noch vor wenigen Jahren waren.
Die Testergebnisse dieser Allrounder finden Sie in diesem Artikel:
• AX Lightness Vial Evo D Di2
• Cannondale SuperSix Evo Black Inc.
• Canyon Ultimate CF SLX 9.0 Aero (TOUR Testsieger)
• Corratec CCT Evo DA
• Cube Agree C:62 SL
• Merida Scultura Team
• Scott Addict SL
• Storck Aernario Platinum G1
• Time Skylon
Vollprogramm
Das perfekte Beispiel für den All-Inclusive-Ansatz liefert Canyon. Das im vergangenen Sommer vorgestellte neue Ultimate beeindruckt mit ausgewogener Performance in allen Disziplinen. Dass der Rahmen nach aerodynamischen Gesichtspunkten gestaltet wurde, wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Abrisskanten an Unter-, Sitzrohr sowie Sitzstreben, sogenannte Kammtails, helfen dem Fahrer, im Kampf gegen den Wind ein paar Watt zu sparen. Damit ist das Rad das schnellste innerhalb dieses Testfeldes, gemessen nach denselben Bedingungen wie die 15 Aero-Renner in TOUR 1/2016. Tauscht man die am Ultimate montierten 303-Laufräder von Zipp gegen die noch schnelleren 404 des gleichen Herstellers, überholt das Ultimate sogar einige der Aero-Spezialisten. Zugleich bietet das Rad einen der besten Komfortwerte am Sattel, den wir bisher messen konnten. Das alles bei knapp sieben Kilo Komplettgewicht, inklusive elektrischer Schaltung und guter Aero-Laufräder. Was, bitte, will man mehr?
Vielleicht ein etwas individueller komponiertes Rad? Kein Problem, auch das ist hier im Angebot: An Cannondales neuem Super Six Evo in der noblen, extrem teuren Ausstattungsvariante Black Inc. ließ der Produktmanager offensichtlich seiner Passion für edle Tuning-Komponenten freien Lauf. Leichtbau-Bremsen von Eecyleworks und viele Teile des amerikanischen Carbon-Spezialisten Enve, darunter Aero-Laufräder mit feinen Chris-King-Naben, machen das Rad zum Augenschmaus für jeden Rennrad-Fan mit Faible für Lösungen abseits des Mainstreams. Über dezente Aero-Attribute verfügt das knapp sechs Kilo leichte SuperSix Evo auch, hier in Form eines Unterrohrs mit kegelförmigem Querschnitt.
So lässt sich fortfahren mit dem Schwärmen. Auch das Vial Evo von AX Lightness ist ein Hochamt für Freunde individueller Rennräder. Die Sorgen, die man sich um den in der Nähe von Bayreuth ansässigen Hersteller nach der Insolvenz im vergangenen Sommer machen musste, scheinen fürs erste passé; ein Investor will das Unternehmen fortführen. Und es wäre wirklich schade, wenn Modelle wie das Vial Evo keine Zukunft hätten. Mit atemberaubenden 693 Gramm zählt der Rahmen zu den leichtesten, die wir je im TOUR-Labor auf der Waage hatten. Dass der Spagat zwischen Leichtbau und Aerodynamik gelingt, ist wie bei Canyon den Erkenntnissen der deutschen Auto-Designers Wunibald Kamm zu verdanken. Der hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Strömungsversuchen entdeckt, dass der aerodynamische Vorteil eines Tragflächenprofils auch dann weitgehend erhalten bleibt, wenn das hintere Ende des Flügels gekappt wird. Unter Rahmenkonstrukteuren gelten Kammtails heute als Blaupause für die aerodynamische Optimierung. Bei annähernd gleichem Materialeinsatz wie bei runden Rohren lassen sich damit zugleich niedriges Gewicht, viel Komfort und hohe Steifigkeit in Einklang bringen.
Vorurteil widerlegt
Ein Hersteller, den man fast schon abgeschrieben hatte, der aber immer noch seine Nische im ausufernden Markt behauptet, ist der französische Carbonrahmen-Pionier Time. Nach wie vor fertigt die Firma ihre Rahmen und Gabeln im eigenen Werk nahe Lyon, und das mit einem ganz eigenen Verfahren. Time zählt zu den wenigen Rahmenherstellern, die ihre Carbongewebe selbst fertigen. Auf Spezialmaschinen werden Fasern zu nahtlosen Strümpfen verwoben, die dann in die Fertigungsformen eingelegt werden; erst dann wird bei dieser als "Resin Transfer Molding" bezeichneten Methode das Harz in die geschlossene Form eingespritzt. Lange galten Time-Rahmen als wenig steif, dafür komfortabel. Beim Modell Skylon ist es nun gelungen, dieses Vorurteil quasi umzukehren: Der Rahmen ist allen Richtungen supersteif, leider auch am Sattel, was vor allem auf das Aero-Profil der Sattelstütze zurückzuführen ist. Immerhin verfügt der Skylon über das beste aerodynamische Potenzial von allen Modellen in diesem Test.
Mit den im Testrad montierten, mäßig windschnittigen Mavic-C40-Laufrädern belegt das Rad Rang drei im Aero-Ranking. Mit schnellen Zipp 404 gelingt ein deutlicher Sprung. Bei dieser Vergleichsmessung landet der Skylon sogar vor dem Canyon Ultimate inklusive Zipp 404.
Ein Modell, das die Tester weniger durch einzelne Messwerte als durch sein Fahrverhalten nachhaltig beeindruckt, ist das neue Merida Scultura. Was die Aero-Performance angeht, erfüllt die vierte Modellgeneration trotz Kammtails an Unter- und Sitzrohr zwar nicht ganz die hohen Erwartungen, was auch an den Fulcrum-Laufrädern mit relativ flachen Felgen liegt. Dafür fiel das Rad auf unserer Testrunde am südlichen Gardasee mit ungewöhnlich effektiver Vibrationsdämpfung auf. Schon beim Vorgängermodell hatte der taiwanische Hersteller zur Verbesserung des Komforts einen Mix aus Carbon- und Flachsfasern eingesetzt. Beim aktuellen Modell ist nun in Sachen Dämpfung ein deutlicher Unterschied im Fahrverhalten gegenüber vielen anderen Rädern zu spüren.
Beherrschbare Technik
Es wird also jede Menge geboten in diesem Test, wobei sich Stärken und Schwächen der einzelnen Kandidaten jeweils unterschiedlich zusammensetzen. Was sie indes eint – und damit von den extremen Aero-Spezialisten aus dem vorangegangenen Test abgrenzt – ist, dass es im Umgang vergleichsweise unkomplizierte Räder sind. Die schnellsten der Aerorenner, insbesondere Trek Madone und Specialized Venge ViAS, erzielen ihre überragende Performance im Windkanal vor allem durch einen hohen Grad an Systemintegration. Das macht sie aus technischer Sicht zwar faszinierend, für Mechaniker mitunter jedoch zum Albtraum.
Die neun Räder in diesem Test dagegen haben alle konventionelle Bremsen, bei denen sich die Züge auch ohne Schrauber-Tutorium tauschen lassen. Nur das Canyon Ultimate verfügt über einen integrierten Lenker, der sich aber problemlos auch gegen ein klassisches Exemplar tauschen ließe. Und die Sattelstützen sind, außer bei Time, rund und leicht zu demontieren – wichtig, wenn man etwa mit dem eigenen Rad im Koffer ins Trainingslager fliegen möchte. Auch solche Fragen können wichtige Argumente bei der Kaufentscheidung sein. Die Räder in diesem Test mögen vielleicht weniger spektakulär aussehen als die Crème der Aero-Modelle – doch spektakuläre Fahreigenschaften bieten die Besten von ihnen allemal.
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