Thomas Goldmann
· 19.08.2022
Wer sind die Favoriten für die Vuelta 2022? TOUR nimmt die Anwärter auf den Gesamtsieg bei der Spanien-Rundfahrt unter die Lupe und bewertet sie. Desto mehr Sterne er bekommt, desto höher ist der Kandidat eingestuft. Maximal können fünf Sterne erreicht werden.
Selten war es vor einer großen Landesrundfahrt so schwierig, einen klaren Favoriten auszumachen wie vor der Vuelta 2022. Mit Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar fehlen die beiden Dominatoren der Tour de France und genau das macht den Kampf um das Rote Trikot so spannend. Wir nehmen die potenziellen Vuelta-Sieger unter die Lupe.
Der Australier war im Juli ausgezogen, um seinen vierten Platz bei der Tour de France aus dem Vorjahr zu bestätigen. Daraus wurde nichts. Er verlor früh viel Zeit und trat zur 10. Etappe nicht mehr an. Wie sein Team mitteilte, litt er unter einer Muskelverletzung im Gesäßbereich. Seither hat O’Connor kein Rennen mehr bestritten, laut dem sportlichen Leiter Julien Jurdie aber gut trainiert. Ein klares Ziel für die Vuelta hinsichtlich der Gesamtwertung wurde nicht definiert.
Bei kleineren Rundfahrten hat Sivakov in der Vergangenheit oft geglänzt. Platzt der Knoten nun auch endlich bei einer Grand Tours? Bislang bestritt der Franzose sechs dreiwöchige Rundfahrten mit Platz neun beim Giro d’Italia 2019 als bestem Ergebnis.
Seine aktuelle Form lässt ihn zumindest zum erweiterten Favoritenkreis zählen. Sivakov war zuletzt Zweiter bei der Clasica San Sebastian und gewann Anfang August die Burgos-Rundfahrt - eines der wichtigsten Vorbereitungsrennen auf die Vuelta. Allerdings ist es fraglich, ob er angesichts weiterer Top-Fahrer wie Richard Carapaz oder Tao Geoghegan Hart bei Ineos Grenadiers auf eigene Kappe fahren darf.
Dieser junge Mann gilt als eines der größten Talente des internationalen Radsports. Mit erst 19 Jahren bestreitet Ayuso seine erste große Landesrundfahrt und hat dabei Joao Almeida als Kapitän im Team. Für den Youngster geht es zunächst darum, zu lernen und mit der Belastung einer dreiwöchigen Rundfahrt klarzukommen.
Das wird den Spanier möglicherweise nicht daran hindern, bei der Vuelta seinen ganz großen Durchbruch zu schaffen und damit in die Fußstapfen von Tadej Pogacar zu treten. Der slowenische Superstar trumpfte 2019 ebenfalls erstmals ganz groß bei der Spanien-Rundfahrt mit Platz drei auf, war erst 20 Jahre alt und fuhr genau wie Ayuso für das Team UAE Emirates.
Der Baske Landa wäre normalerweise einer der Top-Favoriten auf den Vuelta-Sieg. Seine Auftritte bei der Burgos-Rundfahrt lassen aber ernsthafte Zweifel an Landas Form aufkommen. Der 32-jährige Kletterspezialist konnte keine Akzente setzen und landete bei der Bergankunft an den Lagunas de Neila abgeschlagen auf Rang 32. Auf einer Pressekonferenz vor dem Rennen spielte Landa seine Klassement-Ambitionen dementsprechend herunter. Deshalb gibt es für ihn nur einen Stern.
In der Form des Giro d’Italia 2020, den er gewann, wäre der Brite ein ernst zu nehmender Favorit. Von dieser Verfassung war Geoghegan Hart zuletzt allerdings weit entfernt. Zumindest zeigte er bei der Burgos-Rundfahrt eine aufsteigende Tendenz (Platz 13 am Ende), was hoffen lässt, dass er zusammen mit Richard Carapaz und Sivakov die Speerspitze von Ineos Grenadiers bei der Vuelta bilden kann.
Der Niederländer ist stark im Zeitfahren und am Berg. Er war bereits Fünfter bei der Tour de France 2021 und Dritter beim Giro d’Italia 2020. Ob er diesmal ein ähnlich gutes Ergebnis einfahren kann? Mit Jai Hindley und Sergio Higuita hat er teamintern starke Konkurrenz. Vielleicht harmoniert Bora-Hansgrohe aber genauso gut wie schon beim Giro in diesem Mai und Kelderman ist am Ende derjenige, für den sie fahren.
Der leichtgewichtige Kolumbianer bestreitet seine erste große Landesrundfahrt für Bora-Hansgrohe und bewies bei der Polen-Rundfahrt eine sehr gute Form. Die Strecke der Vuelta sollte dem 25-Jährigen sehr entgegenkommen.
Sein Handicap ist das Einzelzeitfahren und der Fakt, dass in seiner Mannschaft auch noch zwei andere Fahrer (Jai Hindley und Wilco Kelderman) die Kapitänsrolle beanspruchen dürften.
Der Mallorquiner führt das Team Movistar bei der Vuelta zusammen mit Altstar Alejandro Valverde an. Mas stand bereits zweimal als Zweiter auf dem Podium (2018 und 2021). Hat er damit nicht mehr als zwei Sterne verdient? Nein. Denn die Auftritte des 27-Jährigen waren - genau wie die von Movistar - in diesem Jahr mehr als diskret. Sein letztes Rennen war die Tour de France, die er nach der 18. Etappe auf Platz elf liegend mit einer Corona-Infektion verlassen musste. Es stehen viele Fragezeichen hinter Mas.
Bei den Buchmachern gilt der Belgier als einer der Top-Favoriten auf den Vuelta-Sieg. Sein Auftritt bei der Clasica San Sebastian war beeindruckend, als er die Konkurrenz Ende Juli in Grund und Boden fuhr. Das war aber ein Eintagesrennen und keine dreiwöchige Rundfahrt. Davon hat der 22-Jährige bislang erst eine bestritten: den Giro d’Italia 2021. Auch dort ging Evenepoel mit großen Vorschusslorbeeren an den Start, musste die Rundfahrt aber nach der 17. Etappe mit über einer Stunde Rückstand vorzeitig beenden.
Es fehlt dem Supertalent noch die Fähigkeit, ökonomisch zu fahren, was auch zuletzt bei der Tour de Suisse im Juni zu sehen war. Zudem ist Quick-Step Alpha Vinyl eher eine Klassiker-Mannschaft und kein Grand-Tours-Sieger-Team. Evenepoel hat bei der Vuelta die Chance, seine Kritiker mal wieder eines Besseren zu belehren - zuzutrauen ist ihm das.
Der kolumbianische Bergspezialist gilt als Enfant terrible. Beim Giro d’Italia schlug er einst einen Fan ins Gesicht, nachdem dieser ihn vom Rad geholt hatte, und zuletzt wurde er von Astana suspendiert, nachdem er am Madrider Flughafen ins Visier von Ermittlern geriet. Mittlerweile hat ihn der kasachische Rennstall begnadigt und Lopez befindet sich in sehr guter Form.
Bei der Burgos-Rundfahrt wurde er Dritter in der Gesamtwertung. Bei der Vuelta a Espana war er schon einmal Fünfter und hat drei Etappen gewonnen. Vom Potenzial her ist bei ihm das Podium oder gar der Gesamtsieg drin. Dazu muss er aber seine Nerven im Griff haben. Aktionen wie die bei der Vuelta 2021, als er ohne ersichtlichen Grund gegen das eigene Team aufbegehrte und das Handtuch warf, lassen Zweifel daran aufkommen.
Der Brite hat die Vuelta 2018 bereits einmal gewonnen. Jenes Jahr war für Yates eines mit Licht und Schatten: Einerseits feierte er seinen bislang einzigen Grand-Tours-Gesamtsieg, andererseits entstand unter Radsport-Fans 2018 das geflügelte Wort “den Yates machen”. Gemeint ist damit schnell losfahren und am Ende einbrechen.
Das bezieht sich bei Yates auf den Giro d’Italia 2018. Dort war der Kletterspezialist extrem dominant, verschleuderte aber seine Kräfte unnütz. Das führte drei Tage vor dem Ende des Giros zu einem Einbruch des Briten, wie man ihn nur selten gesehen hat.
Genau das könnte Yates auch 2022 wieder zum Verhängnis werden. Er ist bereits seit Ende Juli in herausragender Form - zu früh?
Der Portugiese kommt in die Blütephase seiner Radsportkarriere. Bei UAE Team Emirates geht er als Kapitän in die Vuelta und ist einer der Top-Favoriten. Er klettert gut und ist stark im Zeitfahren. Mit seinem Sieg an den Lagunas de Neila hat er bei der Burgos-Rundfahrt seine gute Form bereits unter Beweis gestellt.
Allerdings hat es Almeida bislang noch nicht auf das Podium einer Grand Tours geschafft - bestes Resultat war Platz vier beim Giro 2020. Ändert sich das bei der Vuelta?
Der Giro-Sieger von 2019 hat die wahrscheinlich stärkste Mannschaft in den Bergen und ist dort selbst kaum abzuschütteln. Seine einzige Schwachstelle ist das Zeitfahren, wo er wohl Rückstand auf Fahrer wie Primoz Roglic in Kauf nehmen muss.
Zudem kommt es bei der Vuelta zu einem Wiedersehen mit Jai Hindley, der Carapaz das Rosa Trikot beim Giro kurz vor Schluss noch auszog. Gut möglich, dass die Vuelta zur Revanche wird.
Schafft der Australier das Double aus Giro- und Vuelta-Sieg in einem Jahr? Das war zuletzt Alberto Contador 2008 gelungen. Die Vorzeichen dafür stehen gut. Hindley hat ein sehr starkes Team an seiner Seite und seine Formkurve zeigt rechtzeitig nach oben. Nach Problemen bei der Clasica San Sebastian wurde er bei der Burgos-Rundfahrt Siebter.
Ähnlich wie bei Carapaz ist das Zeitfahren die Achillesferse von Hindley. Mit einer Bergform wie beim Giro am Fedaia-Pass, wo er ins Maglia Rosa stürmte, sollte seine Zeitfahr-Schwäche aber nicht zu schwer ins Gewicht fallen.
Der amtierende Vuelta-Sieger strebt den vierten Titel in Folge an. Er würde damit mit Rekordsieger Roberto Heras gleichziehen. Ironischerweise war die Vuelta oft eine Art “Trostpflaster” für den Slowenen, da es bei der Tour de France nicht so recht mit dem Sieg klappte. So auch in diesem Jahr.
Nach seinem schweren Sturz in Frankreich wurde erst auf den letzten Drücker entschieden, dass er überhaupt am Start der Spanien-Rundfahrt steht. Hinter seiner Form steht ein sehr großes Fragezeichen. Keine Frage: Roglic ist der kompletteste Fahrer in diesem Starterfeld: unwiderstehlich am Berg und im Zeitfahren kaum zu schlagen. Doch aufgrund fehlender Leistungsnachweise bekommt er statt fünf nur vier Sterne, wie vier weitere Konkurrenten.
**** Yates, Almeida, Carapaz, Hindley, Roglic
*** Evenepoel, Lopez
** Geoghegan Hart, Kelderman, Higuita, Mas
* O’Connor, Sivakov, Ayuso, Landa