Mechaniker der Tour de FranceWie Profischrauber mit Innovationen zurechtkommen

Jens Klötzer

 · 05.09.2022

Mechaniker der Tour de France: Wie Profischrauber mit Innovationen zurechtkommenFoto: Julian Schultz

Moderne Rennradtechnik bringt viele Hobbyschrauber an den Rand der Verzweiflung. Wir haben die Mechaniker der Profiteams bei der Tour de France besucht, um herauszufinden, ob es ihnen genauso geht.

Am Ende eines Renntages, wenn die Profis sich von den Strapazen erholen, beginnt für die gut hundert Mechaniker in den Tour-de-France-Teams die Arbeit erst. Hinter den Hotels rund um die Etappenorte kann man dann vielerorts das gleiche Schauspiel beobachten: Bis in die Dämmerung werden Räder mit Hochdruckreinigern gewaschen, Reifen gewechselt und Ketten geölt, damit die Maschinen auf der nächsten Etappe wieder perfekt funktionieren.

Hin und wieder schlurft ein Rennfahrer in Shorts und Flipflops herbei und äußert einen Sonderwunsch; ansonsten ist man unter sich, die Stimmung meist gelöst, aber konzentriert. Einer, der das schon seit 14 Jahren mitmacht, ist der Deutsche Guido Scheeren, aktuell Mechaniker beim Team Quick-Step Alpha Vinyl.

“Die neuen Reifen und Laufräder sind insgesamt robuster”, sagt Guido Scheeren, Mechaniker des Teams Quick-Step Alpha VinylFoto: Jens Klötzer
“Die neuen Reifen und Laufräder sind insgesamt robuster”, sagt Guido Scheeren, Mechaniker des Teams Quick-Step Alpha Vinyl

Mechaniker offen für Neues

In seiner Zeit als Profimechaniker hat er schon viele technische Veränderungen an Rennrädern erlebt: Carbon­felgen, elektrische Schaltungen, Scheibenbremsen und Tubeless-Reifen, vor allem in jüngster Vergangenheit ging es Schlag auf Schlag. Beinahe jährlich musste er sich auf Neuerungen einstellen, an Schulungen teilnehmen, neue Abläufe trainieren. Kein Problem für Scheeren: “Gut für uns ist, was schneller macht, nicht, was sich einfach reparieren lässt”, sagt er. “Alles andere ist nach­rangig. Wenn es die Zukunft ist, stellen wir uns darauf ein”, erklärt der Mechaniker die Perspektive des Profisports auf die Rennradtechnik.

Welche Dichtmilch, wie viel und wann: Beim Team Intermarché  wird alles penibel auf Aufklebern dokumentiert.Foto: Jens Klötzer
Welche Dichtmilch, wie viel und wann: Beim Team Intermarché wird alles penibel auf Aufklebern dokumentiert.

Die jüngsten Technologiesprünge, die Hobbyfahrer oft als unnötig kompliziert und wenig wartungsfreundlich kritisieren, bewertet er nicht als Mehrarbeit. “Im Gegenteil – die Arbeit im Rennalltag ist mit den vielen Innovationen sogar entspannter geworden”, findet Scheeren. Das fange damit an, dass hydraulische Bremsen und elektrische Schal­tungen weitestgehend wartungsfrei seien und kaum nachgestellt oder gepflegt werden müssten. “Früher haben wir nach einem Regentag alle Züge gewechselt. Darum muss man sich bei den neuen Gruppen nicht mehr kümmern”, resümiert der Quick-Step-Mechaniker.

Bremsen werden nur im Ausnahmefall gewartet, normalerweise hält die Hydraulik lange durchFoto: Jens Klötzer
Bremsen werden nur im Ausnahmefall gewartet, normalerweise hält die Hydraulik lange durch

Vorteil zum Hobbyschrauber

Die Akkus der Elektroschaltungen werden nur noch alle paar Tage nachgeladen, wenn sie etwa die Hälfte ihrer Kapazität erreicht haben. Wenn die Räder gut vorbereitet zum Rennen kämen, müssten auch die Leitungen der Scheibenbremsen nur selten entlüftet werden, sagt Scheeren: “Sind sie einmal mit Ruhe justiert, also auch ein- bis zweimal penibel entlüftet, bleibt das Set-up meist über eine Rundfahrt unangetastet.”

Beläge werden seltener und schneller gewechselt als bei Felgenbremsen, Bremsscheiben nur bei Bedarf getauscht, wenn sie etwa nach einem Sturz verbogen sind. Eine zusätzliche Aufgabe für die Mechaniker sei das Einbremsen neuer Beläge. Im Gegensatz zu Hobby­schraubern haben Profiteams dafür aber Maschinen, die das in Minutenschnelle erledigen. “Das ist unbedingt notwendig, damit die Bremsen ihre volle Leistung entfalten. Viel Aufwand ist es für uns aber nicht”, sagt Scheeren.

Um neue Bremsbeläge einzubremsen, gibt es MaschinenFoto: Jens Klötzer
Um neue Bremsbeläge einzubremsen, gibt es Maschinen

Mikey van Kruiningen, Chefmechaniker des Teams Intermarché-Wanty-Gobert, sieht den Umstieg auf Tubeless-Reifen als prägendste Innovation der Neuzeit. Sein Team experimentiert bereits seit einigen Jahren damit und hat in dieser Saison komplett auf die neue Technologie umgestellt. “Viele Fahrer waren zuerst skeptisch. Aber allein die von uns gemessene Leistungsersparnis, bis zu zehn Watt bei Renntempo, hilft bei der Überzeugungsarbeit”, berichtet er.

Bergfahrer Louis Meintjes fährt sogar auf guten Straßen 28 Milli­meter breite Tubeless-Pneus mit nur fünf Bar Luftdruck. Mit diesem Ansatz ist Van Kruiningens Team nicht allein, die große Mehrheit des Pelotons fährt mittlerweile auf Schlauchlos-Reifen; nur noch Astana und Movistar ver­wenden geklebte Schlauchreifen.

“Wir müssen beim Umgang mit Tubeless noch viel ausprobieren”, sagt Mikey van Kruiningen, Chefmechaniker des Teams Intermarché-Wanty-GobertFoto: Jens Klötzer
“Wir müssen beim Umgang mit Tubeless noch viel ausprobieren”, sagt Mikey van Kruiningen, Chefmechaniker des Teams Intermarché-Wanty-Gobert

Spannende Findungsphase

Für die Mechaniker bedeutet der Technologiewechsel größere Veränderungen in der täglichen Arbeit, viele sind noch in der Findungsphase. “Wir müssen noch viel ­auspro­bieren: Wie viel Dichtmilch ist perfekt, und wie lange hält sie? Welche Sorte eignet sich am besten?”, beschreibt Van Kruiningen die neuen Fragen. Ein Problem sei beispielsweise, dass die Dichtmilch nach etwa zwei Monaten eintrocknet.

Damit so ein Laufrad nicht versehentlich beim Rennen montiert wird, hat sich Van Kruiningen kleine Aufkleber einfallen lassen, die Fülldatum, Menge und Art der Dichtmilch auf der Felge dokumentieren. Das Team um Guido Scheeren versucht, dem Problem mit Bewegung zu begegnen: “Wir drehen die Ersatzlaufräder regelmäßig, damit sich kein Klumpen im Reifen bildet”, verrät er. Auch die Menge an Dichtmilch unterscheidet sich stark. Während die Specialized-Teams kein Risiko eingehen und etwa 60 Milliliter Milch in einen Reifen kippen, sind es bei Intermarché nur 30 bis 40 Milliliter.

Handarbeit für Mechaniker

Weitgehend einig sind sich die Mechaniker, was die Montage angeht: Die gelinge mit den neuen Reifen deutlich einfacher und schneller. Geheime Spezialwerkzeuge sucht man ver­gebens, die Mechaniker benutzen ihre Hände und handelsübliche, kleine Kunststoff-­Reifenheber.

Damit es im Alltag flutscht, haben die Profischrauber viel experimentiert und eigene Tricks gefunden. Inter­marché hat zum Beispiel verschieden dicke Felgenbänder ausprobiert, bis die Reifen leicht auf die Felgen hüpften und auch auf Anhieb dicht waren. Bei Quick-Step Alpha Vinyl bläst man die Reifen zuerst durch den Ventilschaft mit der Druckluftpistole auf, damit sie schon vor dem Einfüllen der Dichtmilch fest im Bett sitzen.

Wenn alles passt, sind Reifenwechsel mit Tubeless-Reifen nur noch MinutensacheFoto: Jens Klötzer
Wenn alles passt, sind Reifenwechsel mit Tubeless-Reifen nur noch Minutensache

Inzwischen dauert ein Reifenwechsel nur noch fünf ­Minuten”, schätzt Bora-Hansgrohe-Mecha­niker Marek Bajfus. “Für Schlauchreifen haben wir uns immer einen halben Ruhetag zum Kleben vorgenommen. Jetzt machen wir das direkt nach der Etappe nebenbei”, berichtet er. Das wird auch Auswirkungen auf die Logistik der Laufräder haben, vermutet Guido Scheeren. “Im Prinzip haben wir jetzt viel zu viele Ersatzlaufräder an Bord; bislang waren die ja vorwiegend Ersatz für beschädigte Reifen”, erklärt er. Die Reifen seien nun schnell gewechselt, außerdem ­gebe­ es weniger kaputte Felgen durch Platten oder Brems­schäden, insgesamt sei das System robuster.

Das gilt auch für die im Cockpit integrierten Leitungen, wie sie inzwischen bei allen High-End-Modellen Standard sind. “So ein Rad aufzubauen, ist anspruchsvoller geworden”, erzählt Guido Scheeren. Besonders die Sitzpositions­anpassung nehme zu Saisonbeginn viel Zeit in Anspruch, denn das Cockpit zu wechseln, könne locker eine Stunde dauern. Früher hat man das in der Saison gemacht, da konnte sich ein Fahrer für den nächsten Tag einfach einen kürzeren oder längeren Vorbau wünschen. Und heute? “Da müsste er schon einen sehr, sehr guten Grund haben”, sagt Guido Scheeren - und macht für heute Feierabend.