Robert Kühnen
· 26.05.2022
Auf die Felgen geklebte Reifen waren lange Standard im Profi-Peloton. Aber die Zeichen stehen auf Abschied. Der TOUR-Report verrät, warum Schlauchreifen wohl keine Zukunft mehr haben.
Nostalgie ist, wenn Glauben und Emotionen die Realität verklären - so wie beim Schlauchreifen. Heute weiß man, dass diese Art von Reifen, bei denen der Schlauch in den Mantel eingenäht und das Ganze auf eine Felge geklebt wird, dramatisch schlechter rollen als moderne Falt- oder Tubeless-Reifen, wie sie 99,9 Prozent der Hobbysportler verwenden. Unter Profis hielt sich aber bis vergangenes Jahr der Glaube, mit geklebten Reifen besser dran zu sein, zumindest im Hochgebirge.
Warum? Vor allem, weil das System aus Reifen und Felge mindestens 200 Gramm leichter ist als Felge plus Tubeless-Reifen oder Clincher. Das wiederum liegt vor allem an der Felge. Die Schlauchreifenfelge hat keine Seitenflanke, die den Reifen halten muss, das macht sie 100 Gramm leichter. Da Profiräder oft etwas übergewichtig sind – das heißt, sie wiegen mehr als das vorgeschriebene Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm – liegt die Versuchung nahe, mit leichteren Reifen Gewicht zu sparen.
Wir haben diverse Rennsituationen mit Computersimulationen untersucht und die Reifendrücke dabei rechnerisch für ein vergleichbares Federungsverhalten an die Reifentypen angepasst. Das Ergebnis: Obwohl die breiteren Tubeless-Reifen mit weniger Druck durch die Simulationen rollten, waren sie in allen Rennsituationen überlegen. Die Zeitvorteile reichen von zehn Sekunden in einem Schlussanstieg bis hin zu mehreren Minuten für Ausreißer auf einer langen Flucht. An normalen Steigungen wird das geringe Mehrgewicht der Tubeless-Reifen durch ihr leichteres Rollen deutlich überkompensiert. Lediglich bei extremen Steigungen ab 22 Prozent stellt sich ein winziger Vorteil für den leichteren Schlauchreifen ein. Gute konventionelle Faltreifen sind ähnlich vorteilhaft wie Tubeless-Reifen.
Einer der ersten Top-Profis, der sich zumindest in seiner Spezialdisziplin früh vom geklebten Reifen verabschiedete, war Tony Martin. Inspiriert durch TOUR-Artikel, die aufzeigten, dass Schlauchreifen vergleichsweise schlecht rollen, experimentierte der viermalige Weltmeister im Zeitfahren schon mit Faltreifen, als andere Profis noch einen weiten Bogen um das vermeintliche Hobbymaterial machten. Das war vor rund zehn Jahren, seither ist beim Material einiges passiert. Scheibenbremsen haben Felgenbremsen ersetzt, und moderne Felgen werden zunehmend nur für Falt- und Tubeless-Reifen entwickelt. Die Felgen sind breiter geworden und binden nun auch 28 Millimeter breite Pneus so ein, dass sie ohne aerodynamische Nachteile beim Zeitfahren eingesetzt werden können.
Dennoch rollten 2021 die meisten Radprofis immer noch auf Schlauchreifen. Hersteller Continental, der sich im Gegensatz zu Tubeless-Pionier Schwalbe stark im Straßenradsport engagiert, beobachtet jedoch ein Umdenken. Produktmanager Jan-Niklas Voß, der Kontakt zu den sechs von Conti gesponserten Profiteams pflegt, resümiert:
Letztes Jahr habe ich den Teams noch gesagt, wenn ihr Tubeless fahrt, habt ihr einen Wettbewerbsvorteil. 2022 wird Tubeless normal.“
Schon der Klassiker Paris-Roubaix Anfang Oktober 2021 war eine eindrückliche Demonstration pro Tubeless. Die Britin Lizzie Deignan gewann auf Pirellis Tubeless-Reifen das Frauenrennen, bei den Männern pilotierte Sonny Colbrelli Contis Tubeless-Reifen in 32 Millimetern Breite zum Sieg. Die Strategie beider siegreichen Athleten: wenig Reifendruck. Deignan gab an, mit 2,3 Bar gefahren zu sein, Colbrelli mit 3,4 bzw. 3,8 Bar. Colbrelli kam mit Durchstichen an Vorder- und Hinterreifen ins Ziel, die Dichtmilch begrenzte jedoch die Luftverluste.
Bis vor Kurzem galten Schlauchreifen auf holperigem Untergrund als einzige Option, weil sie mit weniger Druck als Clincher gefahren werden können. Tubeless-Reifen laufen nun allen den Rang ab, auch wenn sie nicht gänzlich vor Pannen gefeit sind.
Solch plakative Siege und auch eigene Tests der Teams dürften ein Umdenken im Peloton bewirken. Vor Paris-Roubaix hatte schon Filippo Ganna vom Team Ineos das WM-Einzelzeitfahren auf Contis Tubeless-Reifen gewonnen; sein Teamkollege Dylan van Baarle fuhr, ebenfalls mit Tubeless, auf den zweiten Platz im WM-Straßenrennen. Selbst Julian Alaphilippe, der bei seinem WM-Sieg noch auf Clinchern unterwegs war - seit 2020 die Reifenwahl seines Quick-Step-Teams - nutzte in diesem Jahr bei Strade Bianche Tubeless-Prototypen.
Um wie viel leichter die Tubeless-Reifen im Vergleich mit Schlauchreifen rollen, zeigt unser Test der beiden Continental-Modelle 5000 S TR (Tubeless) und Competition ALX (Schlauchreifen), Letzterer in der Profi-Variante mit einem noch leichter rollenden Latex-Schlauch, die nicht in den Handel geht. Im Rollwiderstand schlägt der 5000 S TR den ALX um Längen. Während der Tubeles-Reifen zu den schnellsten überhaupt gehört, vor allem in der 28 Millimeter breiten Variante, rollt der Profi-Schlauchreifen auf dem Niveau von Mittelklasse-Faltreifen.
Während Tubeless-Reifen immer besser werden - dünner, leichter und schneller - stockt die technische Entwicklung bei Schlauchreifen. Eine der letzten echten Innovationen stammt von 2011, als Mavic den Übergang zwischen Schlauchreifen und Felge mit einer Blende aerodynamisch verkleidete - was umgehend verboten wurde.
Kuriosum am Rande: Reifenhersteller Vittoria, der das Tubeless-Modell Corsa Speed als schnellsten Reifen herstellt, den TOUR bislang getestet hat, kaufte zuletzt die niederländische Reifenmanufaktur Dugast, die auf sehr traditionelle Weise Schlauchreifen herstellt. 2021 war von den sieben World-Tour-Teams, die Vittoria sponserte, nur Education First regelmäßig auf Tubeless zu sehen.
Dabei ist die Sache aus Performance-Sicht klar: Der Tubeless-Reifen ist besser, weil unter allen Umständen schneller. Wenn Felgen und Reifen optimal aufeinander abgestimmt sind, dürfte sich auch der Montageaufwand für die Teammechaniker im Vergleich zum Aufkleben der Schlauchreifen verringern. Hinzu kommt, dass Tubeless-Reifen, insbesondere jene ab 28 Millimetern Breite, über den Luftdruck sehr gut an die Straßenverhältnisse angepasst werden können. Merida-Entwicklungsleiter Jürgen Falke schildert seine Beobachtung beim Team Bahrein-Victorious, das von dem Radhersteller ausgestattet wird: “Progressiv denkende Fahrer wie Heinrich Haussler und junge Wilde wie Matej Mohoric waren schon 2021 komplett auf Tubeless unterwegs. Sie werden die Fahrer überzeugen, die etwas konservativer gestrickt sind.” Besonders Mohoric liefert dafür sehr überzeugende Argumente - er hat gerade erst auf Tubeless-Reifen Mailand-San Remo 2022 gewonnen.
Jan-Niklas Voß, Produktmanager für Straßenreifen bei Continental, der auch den Kontakt zu den sechs von Conti gesponserten Teams hält, über den Einzug der Tubeless-Reifen ins Profi-Peloton.
TOUR: Hat der Schlauchreifen noch eine Zukunft?
Voß: Wir verkaufen weiter Schlauchreifen, solange Nachfrage besteht, aber 2022 fahren alle unsere Teams hauptsächlich auf Tubeless.
TOUR: Was hat die Teams überzeugt?
Voß: Eigene Feldtests. Die Teams haben jetzt Performance-Manager. Seit die Teams selbst testen, ist es kein Thema mehr, die Vorteile sind zu offensichtlich.
TOUR: Wie war die Entwicklung bei Ineos?
Voß: Wir hatten die Tubeless-Reifen 5000 S TR fürs Training geliefert, und sie kamen sehr gut an. Beim Vuelta-Zeitfahren ist das Team dann erstmals Tubeless-Reifen gefahren, danach sind sie komplett umgestiegen.
TOUR: Wie kommen die Mechaniker mit Tubeless zurecht?
Voß: Unterschiedlich. Manche Teams haben schon sehr viel Erfahrung mit Tubeless, zum Beispiel Intermarche-Wanty-Gobert. Da klappt das sehr gut.
TOUR: Welche Reifenbreite werden wir bei den großen Rennen wie der Tour de France sehen?
Voß: Bei Straßenrennen sind schmale Reifen kein Thema mehr. 25 bis 30 Millimeter sind gesetzt, mit entsprechend breiten Felgen sind diese Reifen auch aerodynamisch schnell.
TOUR: Mit welchem Reifendruck werden die Profis bei der Tour de France fahren?
Voß: In 28er-Tubeless-Reifen werden wir Drücke zwischen 5 und 6,5 Bar sehen.
TOUR: Gibt es mit Tubeless weniger Pannen?
Voß: Grundsätzlich ja. Aber bei Paris-Roubaix 2021 hatten wir so schlechte Bedingungen, dass es untypisch viele Pannen trotz Tubeless gab. Bei den sehr niedrigen Drücken ist die Stichfestigkeit der Karkasse etwas geringer. Für Strade Bianche hatten wir deshalb zu etwas mehr Druck geraten und keine Pannen.
TOUR: Sind Tubeless-Reifen auch auf der Bahn ein Thema?
Voß: Auf jeden Fall. Zusammen mit FES* hatten wir für den Frauenvierer bei Olympia spezielle Reifen entwickelt. Auch die jüngsten Versuche zum Stundenweltrekord wären mit Tubeless-Reifen erfolgreicher gewesen.