Windkanal-TestsTOUR blickt auf die Anfänge vor 10 Jahren und in die Zukunft

Julian Schultz

 · 17.03.2022

Windkanal-Tests: TOUR blickt auf die Anfänge vor 10 Jahren und in die ZukunftFoto: Robert Kühnen
Aerodynamik-Testfahrten im Windkanal gehören bei TOUR Rennrad-Tests seit Jahren zum Standard.

Seit zehn Jahren nutzt TOUR den Windkanal in ­Immenstaad, um die Aerodynamik von Wettkampf- und Aero-Rennrädern zu testen. Ein Blick auf die Anfänge und in die Zukunft.

199 Watt, Simplon Pride II Dura-Ace Di2
Foto: Kerstin Leicht
Aerodynamisch überzeugend: Die schnellsten Serien-Rennräder im TOUR-Test

Der Radsport, gibt Ernst Pfeiffer unumwunden zu, habe ihn lange Zeit kaum interessiert. Doch nach Jan Ullrichs Sieg bei der Tour de France vor 25 Jahren war auch der Betreiber des GST-Windkanals infiziert und fieberte am heimischen Fernseher mit, wenn die magenta­farbenen Trikots durch die Weltgeschichte fuhren. Vor allem aber sah der ­Geschäftsmann im aufkommenden Radsport-­Boom ein neues Betätigungsfeld. “Wir könnten doch im Wind­kanal einen Prüfstand für Fahrräder bauen”, erinnert sich Pfeiffer an seine Überlegungen. Als langjähriger Mitarbeiter des Luft- und Raumfahrtunternehmens Dornier verfügte er über entsprechende Expertise.

Die nötige In­fra­struktur stand ihm seit Anfang der 1990er-Jahre zur Verfügung, als er mit zwei Mitstreitern unter dem Dach der Gesellschaft für Strömungsmesstechnik (GST) den ehemaligen Dornier-Windkanal in Immenstaad am Bodensee übernahm. Gesagt, getan. Aber wie will man einen Windkanal, in dem bis ­dahin vorwiegend Flugzeuge aerodynamisch optimiert wurden, Fahrradherstellern schmackhaft machen? Heute kaum noch vorstellbar, versuchte Pfeiffer es mit einer Zeitungsannonce - und hatte Erfolg, denn auch TOUR wurde darauf aufmerksam. Eine enge Kooperation war geboren.

Mehr als 350 Rennräder im Windkanal

Seit nunmehr zehn Jahren testet TOUR Wettkampf- und Aero-Rennräder im GST-Windkanal, der sich in einem tristen Flachbau auf dem Airbus-Gelände in Immenstaad versteckt. Rund 350 Rennräder haben die TOUR-Tester seitdem von Wind umströmen lassen, um deren aerodynamische Qualität zu ermitteln. Auch Laufräder, Helme oder Zeitfahranzüge wurden und werden seitdem dort getestet. Das Mess­protokoll, das TOUR-Testingenieur Robert Kühnen gemeinsam mit Ernst Pfeiffer entwickelte, setzt bis heute den weltweiten Maßstab für Aerodynamik-Tests von Fahrrädern. Kein anderes Rennrad-Magazin betreibt bei Tests von Wettkampfrennrädern einen höheren Aufwand. Aus gutem Grund: Der Luftwiderstand ist bereits ab einer Geschwindigkeit von 18 km/h der größte Fahrwiderstand. Wer ein aerodynamisches Rennrad unter dem Sattel hat, ist schneller am Ziel (siehe Grafik).

Die Infografik zeigt, wie viel Gewicht am Rennrad eingespart werden müsste, um die Fahrzeit genauso zu reduzieren wie durch aerodynamische Verbesserungen.Foto: TOUR Magazin
Die Infografik zeigt, wie viel Gewicht am Rennrad eingespart werden müsste, um die Fahrzeit genauso zu reduzieren wie durch aerodynamische Verbesserungen.

Robert Kühnen hatte zuvor schon viele Windkanäle von ­innen gesehen, doch als er die Annonce entdeckte und erste Versuche am Bodensee unternahm, war er sofort überzeugt: “Immenstaad statt Dresden.” In Dresden hatte TOUR zuvor Windkanal-Messungen unternommen. “Der GST-Wind­kanal bietet optimale Voraussetzungen. Nirgends konnten wir so genau, so schnell und mit so hoher Reproduzierbarkeit testen wie bei Ernst Pfeiffer”, begründet Robert Kühnen die Entscheidung zum Wechsel. In Zahlen: Für jedes Rennrad werden bei einer Anströmgeschwindigkeit von 45 km/h über einen Winkelbereich von -20 bis +20 Grad 130 Einzel­werte ermittelt. Dieses Produkt aus cW-Wert und angeströmter Fläche wird an 41 Messpunkten bewertet und zu einer Widerstandszahl in Watt verdichtet, die in der TOUR-Bewertung von Wettkampf-Rennrädern und Aero-Rennrädern ein Fünftel der Gesamtnote ausmacht.

Der erste, noch bekleidete TOUR-Dummy im EinsatzFoto: Robert Kühnen
Der erste, noch bekleidete TOUR-Dummy im Einsatz

45 km/h? Viele Hobbysportler haben das schon als praxisfern kritisiert. Aero-Spezialist Kühnen erklärt: “Die Testgeschwindigkeit löst die Messungen besser auf und macht das Ergebnis genauer. Und für den Profi-Rennsport ist das Tempo definitiv relevant.” Der Ingenieur ergänzt außerdem: “Bei gleichem Wind ­erleben langsamere Fahrer mehr Schräganströmung als schnelle. Das führt zur paradoxen Situation, dass langsamere Fahrer den größten Gewinn aus aerodynamischem Material ziehen können, weil dessen Vorteil bei Schräg­anströmung zunimmt.”

Der Tester ohne Oberkörper

Zwischen der ersten Windkanal-Messung im Oktober 2012 und heute haben sich nicht nur die Rennräder kontinuierlich weiterentwickelt. Auch das Testverfahren hat TOUR immer wieder angepasst. Speziell die Einführung des Dummys mit rotierenden Beinen und ohne Oberkörper - zuvor saß eine mit Glasfaser überzogene Schaufenster­puppe auf den Rädern - verbesserte die Messqualität signifikant und erbrachte realitätsnähere Ergebnisse. Der Testfahrer ohne Torso, mit Haut aus Fiberglas, Knochen aus Aluminium und Hüftgelenken aus Hollowtech-Tret­lagern, erblickte in Kühnens Werkstatt das Licht der Welt. Auf den Oberkörper verzichtete er, “da er aus aerodynamischer Sicht wenig mit dem Rahmen interagiert, aber eine Fehlerquelle darstellt”. Ein Fahrer aus Fleisch und Blut kommt nicht infrage, da dessen Ausdauerfähigkeit und stets gleiche Haltung bei bis zu 20 Messungen à 10 Minuten an einem Testtag zwangsläufig flöten ­gehen würde.

Seit 2013 wird ein Dummy ohne Oberkörper eingesetzt, dank der rotierenden Beine sind die Ergebnisse näher an der Realität, da Radfahrerbeine und Rad in enger Wechselwirkung stehen.Foto: Robert Kühnen
Seit 2013 wird ein Dummy ohne Oberkörper eingesetzt, dank der rotierenden Beine sind die Ergebnisse näher an der Realität, da Radfahrerbeine und Rad in enger Wechselwirkung stehen.

Ein wagemutiger TOUR-Tester ließ sich bei der Messung von einteiligen Rennanzügen dennoch auf das Experiment ein - und brachte ein Andenken mit nach Hause: eine Grippe. “Mit dem dünnen Stoff musste er damals bei minus zwei Grad in den Wind­kanal”, erzählt Pfeiffer und schmunzelt. Er empfängt die TOUR-Tester meistens in den Wintermonaten. In der Hochsaison zwischen Mai und September ist es inzwischen kaum noch möglich, einen Termin zu ergattern. “Als ich den Prüfstand gebaut habe, wusste ich schon, dass auch Radfahrer in den Windkanal gehen. Dass es aber so ein Hype wird, damit habe ich nie gerechnet”, so der ­Diplom-Ingenieur.



Treffpunkt der Rennradwelt

Im GST-Windkanal geben sich längst namhafte Fahrradhersteller aus aller Welt und Profi-Triathleten wie Jan Frodeno die Klinke in die Hand. “Inspiriert durch die erste Messung von TOUR testen wir seit November 2012 in Immenstaad”, sagt Michael Adomeit, Entwickler bei Canyon. Giant als größter Fahrradhersteller der Welt zog mit Entwicklungsleiter Andreas Wollny einige Jahre später nach und forscht seitdem ebenfalls am Bodenseeufer an der ­aerodynamischen Qualität von Rennmaschinen und Komponenten. Das Ergebnis sind Aero-Rennräder wie das neue Giant Propel.

Rund 30 Minuten benötigt das TOUR-Team für die komplette Messung eines Rennrads - inklusive Auf- und Abbau auf dem PrüfstandFoto: Robert Kühnen
Rund 30 Minuten benötigt das TOUR-Team für die komplette Messung eines Rennrads - inklusive Auf- und Abbau auf dem Prüfstand

Etwa 35 Watt unterscheiden derzeit ein sehr schnelles von einem langsamen Fahrrad; seit aber fast alle Rennräder unter aerodynamischen Gesichtspunkten entwickelt werden, ist die Leistungsdichte enorm hoch. Dennoch gibt es Ausreißer - sowohl nach oben als auch nach unten. “Große Überraschungen waren zuletzt zwar eher selten”, sagt TOUR-­Testleiter Jens Klötzer, “aber das Trek Madone aus dem Jahr 2015 hat mich dann doch beeindruckt, weil es entgegen seiner für damalige Verhältnisse ­ungewöhnlichen Formensprache bemerkenswert schnell war.” Die aktuelle Bestenliste von Serien­rädern führt das Simplon Pride II an, als bislang einziges Rad durchbrach es im TOUR-Test die Schallmauer von 200 Watt (TOUR 2/2022).

Ein Wert, der künftig noch öfter geknackt werden wird? Darüber gehen die Meinungen auseinander. “Es wird das eine oder andere Nischenprodukt geben, das aufgrund des ­aktuellen UCI-Reglements etwas anders aussehen und vielleicht unter 200 Watt liegen wird. Dafür werden diese Rennräder aber schwerer sein”, prophezeit Andreas Wollny. Ernst Pfeiffer hält dagegen: “Aktuelle Rennräder sind zwar schon ­extrem ausgereift, aber fünf bis sieben Watt könnten sie schon noch schneller werden”, mutmaßt er. Wer weiß - der Windkanal-­Betreiber hat vor zehn Jahren ja schon einmal ein gutes Gespür für die Zukunft bewiesen.


10 Jahre Windkanal - Historie

2012 - Oktober - Erster Vorversuch mit Canyon F8 (Jg. 2010) als Referenzrad

Dezember - Erster Test von Kompletträdern mit Vollkörper-Dummy sowie Testfahrer

2013 - März - Erster Test von Laufrädern und Zeitfahrrädern; Einführung des Bein-Dummys

Dezember - Erster Test von Aero-Rennrädern

2014 - Mai - Erster Aero-Helm-Test

November - Neuer Testaufbau: Rennräder werden nun im Serienzustand gemessen, inkl. Lenker und Laufradsatz

2015 - November - Neues Bewertungs­system: Wettkampfräder, Marathonräder und Gravelbikes werden entsprechend ihrem Einsatzzweck unterschiedlich bewertet; Aerodynamik von Wettkampfrädern wird Teil der Gesamtnote (20 Prozent)

2017 - Februar - Umstellung auf Canyon Ultimate Disc als Referenzrad

2018 - April - Erster Test von Rennanzügen

2021 - Oktober - Simplon Pride II knackt als erstes Rennrad die Schallmauer von 200 Watt

Windkanal - Die schnellsten Serienräder im TOUR-Test

Als bislang einziges Serienrad im TOUR-Test erreichte das Simplon Pride II eine Aero-Leistung unter 200 WattFoto: Kerstin Leicht
Als bislang einziges Serienrad im TOUR-Test erreichte das Simplon Pride II eine Aero-Leistung unter 200 Watt

199 Watt - Simplon Pride II Dura-Ace Di2 (TOUR 2/2022)

201 Watt - Storck Aerfast.4 Pro Disc Red eTap AXS 1x12 (TOUR 2/2022)

202 Watt - Canyon Aeroad CFR Di2 (TOUR 11/2020)

203 Watt - Cannondale SystemSix Hi-Mod Dura-Ace Di2 (TOUR 1/2019)

204 Watt - Canyon Aeroad CFR Disc MVDP (TOUR 7/2022)

205 Watt - Cervélo S5 Red eTap Disc (TOUR 1/2019)

206 Watt - Canyon Aeroad CF SL 8 (TOUR 7/2022), Factor One (TOUR 8/2020), Scott Foil Ultimate (TOUR 9/2022)

207 Watt - Stevens Arcalis (TOUR 9/2021)

199 Watt, Simplon Pride II Dura-Ace Di2
Foto: Kerstin Leicht
Die schnellsten Serien-Rennräder im TOUR-Test