Retro auf dem RennradTOUR auf den Spuren der Leidenschaft für Vergangenes

Jürgen Löhle

 · 14.04.2023

Retro auf dem Rennrad: TOUR auf den Spuren der Leidenschaft für VergangenesFoto: Getty Images

Immer mehr Radsportler jeglichen Alters begeistern sich für die Historie des Radsports, sammeln Vintage-Rennräder, schlüpfen in klassische Renntrikots vergangener Epochen und zelebrieren die Lust am chromblitzenden Altmetall bei Retro-Rennen wie der berühmten L’Eroica. Ein TOUR-Spezial auf den Spuren dieser Leidenschaft.

Retro auf dem Rennrad - Essay

Warum fahren Menschen auf alten, unbequemen und vergleichsweise schwer zu bewegenden Vintage-Rennrädern? Ein paar Erklärungsversuche.

Gleich wird es sich einstellen, das Hochgefühl, nur noch ein bisschen treten, komm schon. Es sagen doch schließlich alle, dass nach der Last die Befreiung ins Blut schießt, die Endorphine das Herz weit werden lassen. Also weiter. Der Puls hämmert im Hals, noch einmal die Hand vom Lenker, runterbeugen zum Unterrohr, den Hebel rechts ganz zu mir. Da geht aber nichts mehr, der leichteste Gang ist längst fix. Aber was heißt schon leicht – 42 x 26, mehr geht eben nicht bei Retro-Rennrädern.



Die Waden krampfen mehr und mehr, der Tritt ist so zäh wie Flüssigbeton, und wie zum Hohn begrenzen brennende Fackeln links und rechts den gefühlt 20 Prozent (tatsächlich eher 10 Prozent) steilen Naturweg durch das toskanische Weingut Brolio. Sieht aus wie der Weg zu einer Beerdigung und fühlt sich auch ein bisschen so an. Vielleicht doch schieben für den Kick? Heißt doch schließlich “Runner’s High” und nicht “Biker’s High”. Aber absteigen geht nicht, niemals. Irgendwann ist auch dieser Anstieg zu Ende und der Schmerz lässt nach, auch ohne Endorphin.

L’Eroica: Treffen der Vintage-Rennräder

Das war eine kleine Szene von der L’Eroica in Gaiole, dem alljährlichen Treffen der Retro-Rennrad-Fans aus aller Welt, die sich hier zu Tausenden am ersten Oktobersonntag auf knapp 50 und bis zu mehr als 200 Kilometern die Kante geben. Auf Vintage-Rennrädern, die mindestens 30 Jahre alt sind und weder Klickpedale noch Schaltbremsgriffe oder innen liegende Züge haben dürfen. Auf den Felgen kleben Schlauchreifen, die Velos haben meist so zehn Gänge. Die Fahrer sollten für das Trittwerk die Muskulatur von Crossern haben, andernfalls können sie das große Kettenblatt vergessen.

Retro auf dem Rennrad - Stimmungsbild: Auf altem Stahl über holperigen Schotter - Fahrspaß mit zusammengebissenen Zähnen...Foto: Gruber Images
Retro auf dem Rennrad - Stimmungsbild: Auf altem Stahl über holperigen Schotter - Fahrspaß mit zusammengebissenen Zähnen...

Kurze Sinnkrise unterm Sturzring

Nach Brolio geht es wieder bergab, Kraft braucht man jetzt nur noch an den vergleichsweise putzigen Bremshebeln. Mit sinkendem Puls kommt dann die Frage aller Fragen hoch – warum tut man das? Ist es nicht so, dass die Spezies Mensch eher so programmiert ist, es sich ein wenig leichter zu machen? Wohl schon. Aber es gibt darunter ganz offensichtlich welche, die auch abseits der großen Retro-Treffen mit Begeisterung auf schlankem Stahl und mit dickem Gang unterwegs sind. Manchmal sogar in Wolltrikots, mit auf alt getrimmten Lederschuhen und Sturzring auf dem Kopf. Wenn schon, denn schon.

Aber noch einmal, warum? Mark Horlacher aus Nürtingen zum Beispiel faszinieren “die Fahrräder an sich”. Alter Stahl strahlt für den 57-jährigen Weinhändler “Schönheit und Eleganz” aus. Etwa 1000 Kilometer reißt er im Jahr auf seinem Moser Campione del Mondo aus dem Jahr 1982 runter, darunter auch gerne mal den langen Kanten bei L’Eroica – also 209 Kilometer mit 3900 Höhenmetern, die Hälfte davon auf Naturstraßen.

“Radfahren soll ja auch eine Herausforderung sein”, sagt Horlacher, der zudem beeindruckt ist, “zu spüren, mit welchen Material sie vor 50 Jahren Rennen gefahren sind.” Und dann noch der “feine Sound der Nabe”, der sich so ganz anders anhört als das aggressive Klackern moderner Rennräder, die er natürlich auch fährt, um gut genug in Form zu sein für seine zwei Vintage-Rennräder. Am Ende eines Jahres kommen da so 8500 Kilometer zusammen.

Vintage-Rennräder: Faszinierende Technik

Bei vielen nicht mehr ganz so jungen Retro-Rennrad-Fans ist natürlich auch die Erinnerung an die eigenen Anfänge auf dem Rennrad ein starkes Motiv, immer mal wieder auf die alte Maschine zu steigen. Thomas Weber aus Stuttgart hat zum Beispiel noch sein erstes Rennrad, ein mittlerweile 47 Jahre altes Centurion. Den Ingenieur interessiert auch die Technik. Am liebsten fährt der 67-Jährige ein Gios Torino aus den 80ern, natürlich im originalen Blau und mit der historischen Campa-Gruppe: “Es ist faszinierend, sich in die Zeit zurückzuversetzen und live zu spüren, wie sich die Technik verändert hat.” Weber ist Ingenieur durch und durch, war bis 2017 im Vorstand der Daimler AG für Technik und Entwicklung des Autokonzerns verantwortlich.

Für Weber sind zum Beispiel die modernen Schaltbremsgriffe ein guter Beweis, dass technischer Fortschritt ein Segen sein kann. Trotzdem steigt er immer wieder mit ­Genuss auf sein Gios, bei L’Eroica auch in Wolltrikot und Retro-Schuhen. “Ein immer wieder intensives Erlebnis”, sagt er, “und hinterher schätzt man dann die Technik des neuen Rades noch mehr.”

Vintage-Rennräder - Genießer willkommen

Jugenderinnerungen können es nicht sein, welche die Architektin Senta Hajek aus Reutlingen immer wieder auf ein Bianchi aus den frühen 80er-Jahren steigen lassen. Als das Rad gebaut wurde, war die 32-Jährige noch nicht geboren. In ihrer Jugend fuhr sie Amateurrennen auf modernem Material. Aber schon damals hat sie ihr Vater mit dem Retro-Rennrad-Virus infiziert.

Wilfried Hajek ist ein Freund von Claudio Marinangeli, einem der Mitbegründer der L’Eroica und seit dem Beginn vor 26 Jahren in der Toskana am Start. Tochter Senta ist seit einiger Zeit auch dabei. Sie fasziniert “das ursprüngliche Gefühl, ganz ohne Schickimicki durchkommen zu müssen. Hinterher steigst du ab und sagst – wow, wie haben die das früher geschafft?”

Der Charme von Retro-Rennrädern

Eine durchaus berechtigte Frage. Aber vielleicht ist ja genau dies der Charme von Retro. Sich ein wenig zu quälen, das aber mit dem sicheren Gefühl, dass man ja am nächsten Tag wieder die federleichte Carbonmühle aktivieren, mit geschmeidigem Trikot und gnädiger Übersetzung durch die Gegend rollen kann. Klar scheint auch: Zu Retro gehört die Kulinarik. Da wird nicht im Sattel hektisch ein Riegel mit irgendeiner Isobrühe runtergespült. Da gibt es Pausen, und in denen darf’s dann gerne ein Glas Wein zu etwas Pasta sein. Haben die Profis früher auch gemacht.

Damals kamen dann noch rohes Ei und ein paar amtliche Stimulanzien mit ins Glas. Diese Zugaben braucht man zwar nicht, aber Retro wäre ohne den Genuss nur halb so schön – und dann wohl wirklich auch zu anstrengend. Es soll ja Sportsfreunde geben, die das Fahren auf dem Oldtimer ohnehin nur als eine Art Antipasti für ein amtliches Gelage danach betrachten.

Das ist dann allerdings auch nicht der Sinn der Sache. Die Mischung macht’s: Viel alter Stahl und ein wenig edler Wein – fein.

Retro auf dem Rennrad - Outfit & Teile

Retro auf dem Rennrad: Stilecht von Kopf bis FußFoto: Kerstin Leicht
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Vintage-Rennräder: Porträt eines Sammlers

Andreas Höhnen besitzt einen ganzen Raum voller historischer Vintage-Rennräder, Trikots und Radsport-ErinnerungsstückeFoto: Jens Vögele
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Vintage-Rennräder: Einzelstücke

Ein Exot mit GeschichteFoto: Kerstin Leicht
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Retro auf dem Rennrad - Events

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