Julian Schultz
· 08.07.2022
Beim Colnago C68 trifft Tradition auf Moderne: Die modulare Bauweise des Carbonrahmens erinnert an die ikonischen Vorgänger der C-Serie. Direktvertrieb und Blockchain-Technologie weisen in die Zukunft. Der Preis ist jedoch „incredibile“. TOUR hat das Rad ausführlich getestet.
Wie nähert man sich einem Rad, an dem ein Preisschild mit dem Wert eines Kleinwagens hängt? Entweder man tut den Renner als unnötige Spinnerei ab, den man sich als Durchschnittsverdiener ohnehin nicht leisten kann. Oder man lässt sich vorurteilsfrei auf das Luxusmodell ein und ergründet die Ingenieurskunst hinter dem Meisterwerk. Wir bei TOUR können natürlich nicht anders und haben uns für letztere Variante entschieden.
Das neue Flaggschiff der italienischen Traditionsschmiede ist das siebte Modell der ikonischen C-Serie, die Firmenpatron Ernesto Colnago 1989 zusammen mit Sportwagenbauer Ferrari aus der Taufe gehoben hat. So spektakulär das Ur-Modell C35 mit seinem geschwungenen Monocoque-Rahmen auch war, weltweite Bekanntheit erreichte 1995 erst ein Nachfolger: Als erstes Carbonrennrad der Welt siegte das C40 bei der Kopfsteinpflaster-Tortur nach Roubaix, etliche Triumphe dort, beim Giro oder bei Weltmeisterschaften folgten. Eine Legende auf schmalen Reifen war geboren.
Für den Rennbetrieb ist das neue C68 nicht bestimmt, Colnago setzt dafür auf das leichtere und aerodynamischere Race-Modell V3Rs, das Tadej Pogačar im Juli zum dritten Tour-Sieg in Folge geleiten soll. Doch wie schon in den Anfangsjahren zählt die Neuheit wieder zu den spektakulärsten Rennern der Welt. Allein der am Firmensitz in Cambiago handgefertigte Rahmen ist ein Kunstwerk für sich. Wer diese Besonderheit nicht gebührend wertschätzt, den erinnert der Schriftzug „Realizzato a mano in Italia“ an Sitzrohr und Kettenstreben daran.
Entscheidender ist jedoch, dass der Carbonrahmen immer noch aus Einzelteilen zusammengesetzt wird; laut Colnago besteht ein C68 aus gleich vielen Elementen wie ein C64. Jedoch werden nicht mehr einzelne Rohre in klassische Muffen gesteckt, sondern separat gefertigte Module – Tretlager und Sitzrohr bilden beispielsweise eine Einheit – an neuen Knotenpunkten miteinander verklebt.
Das neue Design steht dem C68 ausgesprochen gut. Der Rahmen ist filigraner als die gemufften Vorgänger, vergisst jedoch nicht seine Wurzeln und bleibt an Details wie dem kantigen Steuerrohr und akzentuierten Absätzen als außergewöhnliche Konstruktion erkennbar. Einen Vorteil der C-Serie gaben die Konstrukteure allerdings mit der neuen Bauweise auf: die beinahe grenzenlose Freiheit bei der Geometrie- und Größengestaltung. Das C68 ist „nur“ noch in sieben Standardgrößen erhältlich, beim Vorgänger hatte man noch die doppelte Auswahl und eine Maßrahmen-Option.
Immerhin: Letztere gibt es auch beim C68. Die limitierten Modelle C68Ti verfügen am Steuerrohr über eine individuell angefertigte Titanmuffe aus dem 3D-Drucker. Durch diesen Kniff können die Italiener weiterhin Rahmen nach Maß anbieten. Aufpreis: zirka 1.000 Euro. Zusätzlich kann man eine Wunschlackierung (plus 1.200 Euro) und einen exklusiven, persönlichen Lieferservice (plus 1.000 Euro) ordern. Wer alle Register zieht, kann mit einem Rennradkauf bei schwindelerregenden 20.000 Euro landen.
Nüchtern betrachtet sicher nicht. Zwar muss der Individualist einen technischen Vergleich mit den heute üblichen Monocoque-Rahmen asiatischer Herkunft nicht scheuen. Trotz modularer Bauweise, die vor allem an den Klebestellen mehr Material erfordert, drücken die Italiener das Rahmengewicht in unserer Testgröße auf beachtliche 1.060 Gramm, die Vorgänger brachten noch deutlich mehr auf die Waage. Die Steifigkeitswerte von Tretlager, Lenkkopf und Gabel sind auf Top-Niveau. Einzig beim Komfort offenbart die Sattelstütze, die auch im Race-Modell V3Rs steckt, leichte Defizite. Doch wer bewegt schon so ein Sammlerstück auf derben Schlaglochpisten?
Das C68 will als Gesamtkunstwerk verstanden werden, dessen Reize über ein „Realizzato a mano in Italia“ hinausgehen, und eine futuristisch-digitale Erlebniswelt rundet den Auftritt ab: Erstmals lassen sich die High-End-Renner online konfigurieren und bestellen. Registrierte Käufer sollen unter anderem die Entstehung ihres Rades in kurzen Filmen verfolgen können. Die Italiener nutzen dafür die von Kryptowährungen bekannte Blockchain-Technologie. Auf dieser Grundlage funktioniert auch eine Art digitaler Radpass, der in Form eines kleinen Aufklebers am Unterrohr Echtheit und Besitz nachweist. Colnagos Bemühungen sind zumindest innovativ und geben einen Ausblick, wohin sich der Rennrad-Markt des 21. Jahrhunderts entwickeln kann. Der traditionsreiche Name und der zukunftsweisende Ansatz werden solvente Liebhaber finden.
Das C68 gibt es mit SRAM Red AXS ab 13.260 Euro, das Rahmen-Set ab 5.650 Euro. Eine Version mit Felgenbremsen soll noch kommen, zudem stehen breiter bereifte Allroad- und Gravel-Versionen des C68 in den Startlöchern.
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.