Tom Mustroph
· 11.11.2022
Bei der Vuelta a Espana 2022 erwies sich Gesamtsieger Remco Evenepoel als früh vollendeter Rundfahrer - und gilt als künftiger Herausforderer von Pogacar, Vingegaard & Co. - ein Rückblick auf die Spanien-Rundfahrt.
Remco Evenepoel war gerade unter das Zelt geschlüpft, das am Etappenziel der Spanien-Rundfahrt aufgebaut war, um die Träger der Führungstrikots und den Tagessieger vor der sengenden Sonne der Extremadura zu schützen.
Der 22-jährige Belgier hatte gleich drei Gründe für seinen Aufenthalt dort: Er hatte das Rote Trikot des Gesamtführenden auf der 18. Etappe verteidigt, lag damit auch in der Wertung des besten Nachwuchsfahrers vorn - und er hatte mit einer famosen Kraftanstrengung auf dem letzten Kilometer den Ausreißer Robert Gesink eingeholt und den Etappensieg auf dem Alto del Piornal errungen. Dabei hatte Evenepoel im Sprint seinen ärgsten Rivalen im Kampf um den Gesamtsieg bezwungen, Enric Mas - als wollte er die Hierarchie bei der 77. Auflage der Vuelta für alle noch sichtbarer machen.
Während sich der unterlegene Spanier freundlicherweise mit einem Klaps bei Gesink dafür entschuldigte, dass die beiden Besten dieser Vuelta ihm den bereits sicher geglaubten Etappensieg auf den letzten 100 Metern geraubt hatten, war Evenepoel bereits ins Gewimmel der Mikrofone eingetaucht. Mit vor Glück strahlenden Augen verkündete er: “Es ist schön, dass ich jetzt eine Bergetappe dieser Vuelta gewonnen habe. Der Anstieg war gar nicht so steil, aber der Wind machte es hart. Ich musste mit die höchsten Wattzahlen bei dieser Vuelta treten. Ich denke, ich habe mich heute als ein guter Bergfahrer und auch als guter Rundfahrer erwiesen.”
Der selbstbewusste Radprofi hatte quasi seine eigene Würdigung als Gesamtsieger der Spanien-Rundfahrt 2022 gesprochen. Aber der konnte man als Beobachter ohne Einschränkungen zustimmen. Evenepoel zeigte auf dieser viertletzten Etappe, dass sein Körper die Belastungen einer dreiwöchigen Rundfahrt bis zum Ende gut aushält - und widerlegte die Kritiker, die dem frühreifen Radsporttalent das Durchhaltevermögen bei einer Grand Tour noch immer absprechen wollten. Sein entschlossenes Finish gegen Mas war Beleg sowohl für seine Explosivität als auch seinen Siegeswillen nach mehrwöchiger Dauerbelastung.
Dass Evenepoel diesen Sieg wollte - es war sein zweiter nach seinem furiosen Auftritt im Einzelzeitfahren auf der 10. Etappe - ist ein Zeichen dafür, dass er Rennen nicht nur gewinnen, sondern sie dominieren will. Auch ästhetisch will er punkten: “Ich hoffe, ich sah auf den Zielfotos gut aus”, scherzte er unter dem Zeltdach. Ein Siegertyp im erschöpfenden Profiradsport, der auch noch auf sein Aussehen Wert legt - für die Sportentertainment-Branche eine Idealbesetzung.
Große Erwartungen weckte Remco Evenepoel in seiner belgischen Heimat bereits in jungen Jahren. Als 17- und 18-Jähriger gewann er bei 33 Renntagen 21-mal - selbst im WM-Rennen der Junioren-Klasse fuhr er der internationalen Konkurrenz als Solist früh auf und davon. Das brachte ihm den Spitznamen “Kannibale aus Schepdaal” ein. Kannibale wegen des Siegeshungers, der an Eddy Merckx erinnert, den Original-Kannibalen und wohl prominentesten Sportler seiner Heimat; Schepdaal, weil Evenepoel aus diesem Ort in Flandern kommt - auf halber Strecke zwischen Brüssel und Aalst gelegen.
“In diesen Jahren war er so gut wie unschlagbar. Ich bin damals bestimmt zehn- oder elfmal Zweiter geworden hinter ihm”, erzählt sein heutiger Teamkollege Ilan Van Wilder. Der Belgier ist wie Evenepoel Jahrgang 2000 und kennt ihn seit 2017. “Damals sah ich ihn zum ersten Mal bei einem Kirmes-Rennen. Das gewann er auch. Was mir an ihm vor allem auffiel, waren seine enormen Oberschenkel. Er kam ja vom Fußball”, erinnert sich Van Wilder.
Der Sohn des Radprofis Patrick Evenepoel hatte es als Fußballer bis zum Mannschaftskapitän der belgischen Nachwuchs-Nationalmannschaft gebracht - ehe er beschloss, die Selbstverwirklichung lieber auf zwei Rädern voranzutreiben. Schon sehr bald zeigte es der Späteinsteiger den gelernten Radsportlern. Mit 18 unterschrieb er seinen ersten Profivertrag beim traditionsreichen heimischen World-Tour-Team Quick-Step - das galt damals als Sensation.
Fans und Radsportjournalisten waren sehr schnell entzückt vom jugendlichen Senkrechtstarter. Es begann eine regelrechte Remco-Mania - vor allem in seiner radsportverrückten Heimat. In Belgien - laut aktueller Weltrangliste Radsportnation Nummer eins – sah man in dem Jüngling eine Erlöserfigur, die das Land von einem Trauma befreien sollte: Seit 1978, als Johan De Muynck den Giro d’Italia gewonnen hatte, war kein Belgier mehr bei einer der drei großen Landesrundfahrten erfolgreich gewesen.
Den großen Erwartungen wurde der Jungstar allerdings nur zum Teil gerecht. Gut, er gewann mit 19 Jahren schon die schwere Clasica San Sebastian mit einem beeindruckenden Soloritt, wurde Europameister und Vize-Weltmeister im Einzelzeitfahren. Aber der schwere Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt 2020, als er von einer Brücke fiel und sich einen Beckenbruch zuzog, unterbrach die rasante Entwicklung abrupt. Acht Monate lang fuhr Evenepoel kein Rennen.
Danach folgte ein ehrgeiziges Projekt, bei dem er Lehrgeld bezahlte: Der Giro d’Italia 2021 war nicht nur die erste dreiwöchige Rundfahrt seiner Karriere, sondern auch das erste Rennen nach der Verletzungspause. Er hielt zehn Tage lang mit den Besten mit - lag nur Sekunden hinter dem Gesamtführenden Egan Bernal.
Dann kam die Fahrt über die Schotterstraßen der Toskana nach Montalcino - und es wurde sichtbar: Schon nach halber Rundfahrtdistanz fehlte es an physischer Widerstandsfähigkeit und an Radbeherrschung auf schwierigen Geläuf sowie bei Abfahrten. Am Monte Zoncolan zerstoben die Träume endgültig, er könne auch auf Anhieb den Durchbruch als Klassementfahrer schaffen. Nach der Passage der Dolomiten entkräftet und durch einen Sturz geschwächt, gab er nach der 17. Etappe auf.
Aus diesen Erfahrungen hat Evenepoel gelernt. Er hungert sich jetzt vor langen Etappenrennen nicht mehr so herunter wie vor seinem Debüt. “Wir streben nicht mehr das Gewicht an, das er beim Giro hatte”, sagt sein Trainer Koen Pilgrim. Statt 60,5 Kilogramm wie vor der Italien-Rundfahrt lag sein Gewicht in Spanien angeblich zwischen 63 und 64 Kilogramm - wo genau, gilt als Betriebsgeheimnis in seinem Rennstall Quick-Step-Alpha Vinyl. Die öffentlich vor dem Start formulierten Ziele waren vergleichsweise bescheiden: ein Etappensieg und eine gute Platzierung im Abschlussklassement.
Angesichts dessen wirkte es fast schon übermütig, wie der junge Belgier bereits auf der 6. Etappe in das Rote Trikot des Gesamtführenden stürmte. Mit enormer Tempohärte fuhr er dabei im Finale der Vuelta das Feld der Favoriten auseinander. Er beschleunigte nicht ruckartig, lieferte vielmehr eine Steigerungsbelastung bei der Fahrt auf den Pico Jano ab, der lediglich Enric Mas folgen konnte. Der dreimalige Vuelta-Champion Primoz Roglic verlor 1:22 Minuten. Am Gipfel fehlten ganze 15 Sekunden zu Tagessieger Jay Vine. Evenepoel sprach vom “besten Rennen, das ich je gefahren bin”.
Drei Tage später distanzierte er hinauf nach Les Praeres die wichtigsten Rivalen deutlich, nahm Roglic 52 Sekunden, Mas 44 Sekunden ab. Eine wichtige Rolle bei diesem Showdown im Norden Spaniens spielte Julian Alaphilippe. Der Weltmeister verzichtete auf eigene Ambitionen und zermürbte in Diensten Evenepoels wie eine Art rollender Vorschlaghammer die Rivalen und deren Helfer - der Junior-Chef vollendete. Es folgte der überlegene Sieg beim Einzelzeitfahren auf der 10. Etappe, als er 48 Sekunden auf Roglic herausfuhr, immerhin Olympiasieger in dieser Disziplin. Doch zur Halbzeit der Rundfahrt gab es noch Ungewissheiten und Risiken.
Prompt kamen Rückschläge - eingeleitet vom Corona-bedingten Aus des Teamkollegen Pieter Serry, einer von letztlich insgesamt 24 Rennfahrern, die das Rennen nach positivem Test verließen. Zwei Tage später, auf der 11. Etappe, schied Julian Alaphilippe durch Sturz aus. Auf der 12. Etappe erwischte es den Kapitän selbst: Evenepoel rutschte in einer Kurve weg. In den Tagen danach litt er unter den Sturzfolgen. Und Roglic drehte auf. Bei den beiden Bergankünften in der Sierra de La Pandera und tags darauf in der Sierra Nevada holte der Titelverteidiger insgesamt mehr als eine Minute auf.
Aber Evenepoel, an Rennen weit über 2000 Höhenmeter noch nicht gewöhnt, zeigte Nehmerqualitäten. Er steckte die Rückschläge physisch wie mental weg. Sein Körper erholte sich am letzten Ruhetag. “Das ist in meinen Augen die größte Entwicklung, die Remco in den letzten Jahren gemacht hat: Er ist viel ruhiger geworden und verfällt auch in Stresssituationen nicht in Panik. Das macht die Rennen auch für uns einfacher”, konstatierte Van Wilder. Das sieht auch sein Teamchef Patrick Lefevere so: “Mental ist er als ein ganz anderer Rennfahrer zurückgekommen.” Er nannte seinen Schützling sogar “Remco Evenepoel 2.0” - die verbesserte Version des Rohdiamanten.
Auch der Athlet selbst bemerkte seine eigene Veränderung - weg vom puren Egoismus hin zum Blick auf die, deren Kraft er braucht. “Wenn ich früher drei Eclair (französische Süßwaren; Anm. d. Red.) vor mir sah, dachte ich, sie seien alle für mich. Jetzt gucke ich, wem sie sonst noch schmecken könnten”, sagt der junge Anführer, der brav Komplimente an seine Mitarbeiter verteilt: “Und auch mein Team, das bisher nicht so viel Rundfahrterfahrung hat, ist in die Aufgabe hineingewachsen. Wir haben jeden Tag gut performt.” Und Edelhelfer Van Wilder lobte die Motivationsrede, die Evenepoel vor dem Start der 20. Etappe durch die Sierra vor den Toren Madrids im Teambus gehalten hatte - ehe er souverän das Gesamtwerk auf der letzten Bergetappe vollendete. Nachdem Roglic sich mit einem Sturz wenige Tage zuvor aus dem Rennen katapultiert hatte, fehlte Evenepoel am Ende ein echter Herausforderer.
Dennoch: Eine Spazierfahrt war diese Vuelta für das hochveranlagte Talent in keinem Fall. Evenepoel musste kämpfen. Er wurde zur Souveränität herausgefordert - zumal seine Team Quick-Step nicht so stark aufgestellt war wie die Konkurrenten Movistar, Jumbo-Visma oder UAE Emirates. Teamchef Lefevere wird darüber nachdenken, wie er die Eskorte seines jungen Stars in den kommenden Jahren schlagkräftiger machen kann. Die Art und Weise, wie Evenepoel gewann, bringt ihn in die Poleposition unter den Herausforderern der beiden letzten Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard. Dem Straßenradsport könnten aufregende Jahre bevorstehen.
Mission vollendet: Annemiek van Vleuten hatte sich für diese Saison unter anderem als Ziel gesetzt, die Frauen-Rennen bei Giro Donne (zehn Etappen), Tour de France Femmes (acht) und Vuelta a Espana (fünf) zu gewinnen. Und die bald 40-jährige Niederländerin ließ Worten Taten folgen. Auf der 2. Etappe der Ceratizit Challenge by La Vuelta, wie das Frauenrennen in Spanien offiziell heißt, trat sie am vorletzten Berg zweimal energisch an - und niemand konnte folgen. Bei ihrem anschließenden Soloritt ins Ziel nach Colindres fuhr sie mehr als zwei Minuten aufs Feld der Verfolgerinnen heraus.
“Es war die schwerste Etappe. Und wir wollten es mit dem Team vom Start weg hart machen”, sagte die Seriensiegerin im Ziel, nachdem sie den Grundstein zum Gesamtsieg gelegt hatte. “Es gibt hier weder die harten Etappen noch die Länge, die man von einer Grand Tour erwarten würde”, ordnete sie ihren dritten Sieg und das Triple ein. Die 22-jährige Liane Lippert aus Friedrichshafen konnte sich auf allen Etappen und an den längeren Bergen als eine der stärksten Verfolgerinnen etablieren - im kommenden Jahr fährt die aktuell beste Radsportlerin Deutschlands mit Annemiek van Vleuten beim Team Movistar.
Ceratizit Challenge by La Vuelta
1. (MZF) Trek-Segafredo
2. Annemiek van Vleuten (NED, Movistar)
3. Grace Brown (AUS, FDJ-SUEZ)
4. Silvia Persico (ITA, Valcar)
5. Elisa Balsamo (ITA, Trek-Segafredo)
1. Annemiek van Vleuten (NED, Movistar), 12:21:46 Stunden
2. Elisa Longo Borghini (ITA, Trek), +1:44 Min.
3. Demi Vollering (NED, SD Worx), +2:11
4. Liane Lippert (GER, DSM), +2:34
5. Cecilie Uttrup Ludwig (DEN, FDJ), +2:43
6. Ane Santesteban (DEN, BikeExchange), +3:03
7. Anna Shackley (GBR, SD Worx), +3:07
8. Elise Chabbey (SUI, Canyon), +3:29
9. Juliette Labous (FRA, DSM), +3:35
10. Katarzyna Niewiadoma (POL, Canyon), +3:38
... 58. Hannah Ludwig (GER, Trek), +26:41; ... 69. Aileen Schweikart (GER, Bizkaia), +34:06; ... 78. Linda Riedmann (GER, Jumbo), +37:12; ... 91. Lin Teutenberg (GER, Ceratizit), +44:21; ... 102. Hannah Buch (GER, Roland), 1:07:58 Std.