Robert Kühnen
· 24.11.2021
Knautschzone plus Rotationsschutz – in aktuellen Rennrad-Helmen steckt fortgeschrittene Schutztechnik. Aber wer schafft den besten Mix aus Prävention und Tragekomfort? Im TOUR-Crash-Test: 13 MIPS Helme zwischen 80 und 145 Euro.
Kawumm! Wenn der behelmte Testkopf auf die stählerne Teststraße prallt und mit Schmackes in die Auffangkiste schießt, macht diese einen ordentlichen Satz nach hinten und die Zuschauer zucken zusammen. Zuschauer zieht dieser Test eigentlich immer ins TOUR-Testlabor. Einen Crash aus nächster Nähe zu erleben – das will sich keiner entgehen lassen. Nervenkitzel light, denn natürlich crasht hier kein echter Kopf im Dienste der Sicherheitsforschung, sondern ein Dummy, der keinen Schmerz kennt. Aus der Nähe zu erleben, wie hart der Aufprall bereits bei der moderaten Aufprallgeschwindigkeit von „nur“ 21 km/h ist, lässt einen trotzdem erschauern – insbesondere mit der Erfahrung rasanter Rennrad-Abfahrten im Hinterkopf.
Wir leisten uns bei TOUR (zusammen mit unserem Schwestermagazin BIKE) einen Luxus, den kein anderes Fahrradmagazin für sich reklamieren kann: Wir testen im Dienste unserer Leserschaft Rennrad-Helme auf Sicherheit – und zwar mit eigenem Equipment, also unabhängig von Herstellern. Und das nicht irgendwie, sondern mit beträchtlichem Aufwand, wie er vergleichbar nur in wenigen Forschungseinrichtungen betrieben wird. Die nach offizieller EN-Norm vorgeschriebenen Standardprüfungen sind weniger streng und ignorieren manche Fortschritte im Fahrradhelm-Design der vergangenen 20 Jahre. Seit vielen Jahren werden zwar angepasste Tests-Standards diskutiert, aber die Mühlen der europäischen Komitees für Standardisierung mahlen langsam.
De facto haben sich bei Radhelmen längst neue Sicherheitsfeatures etabliert, die die gängigen Normen nicht abbilden. Das ist ganz wesentlich einem schwedischen Unternehmen zu verdanken, das seit 20 Jahren hartnäckig seine Philosophie verfolgt und einen Schutzmechanismus ersonnen hat, der anders wirkt als die klassische Schlagdämpfung über einen EPS-Schaum, der beim Aufprall Energie aufnimmt. MIPS, das für „Multi Directional Impact Protection System” steht, hat einen Rotationsschutz erdacht, eine zusätzliche, bewegliche Kunststoffschale zwischen Helmpolster und Helmschale.
Die Aufgabe dieser inneren Schale besteht darin, bei einem schrägen Aufprall – wie er zum Beispiel beim Sturz über den Lenker typisch ist – etwas zusätzliche Rotationsbewegung der Helmschale zuzulassen. Das senkt die Wahrscheinlichkeit von Hirnschäden, die auftreten, wenn der Schädel sich so schnell dreht, dass die träge Masse des Gehirns nicht folgen kann und Blutgefäße bei der Scherbewegung zwischen Schädelknochen und Gehirn einreißen. Der Übergang von leichter Gehirnerschütterung zu schwerer Kopfverletzung ist dabei nach Ansicht der Mediziner fließend. Das heißt, man sollte möglichst alles tun, was die Belastung des Gehirns bei einem Unfall senkt.
Zugegeben, als wir erstmals von Mips hörten und die zusätzlichen Kunststoffeinbauten im Radhelm sahen, die das Helmgewicht erhöhen und anfangs auch die Belüftung verschlechterten, waren wir auch nicht gleich überzeugt, dass das bisschen Kunststoff mehr Sicherheit bringt. Aber die von uns erhobenen Messdaten sprechen eine deutliche Sprache. Erfasst werden sie von einem Sensor im Inneren unseres Testkopfes, der Beschleunigung und Drehrate des Kopfes misst. An den Beschleunigungswerten lesen wir ab, wie gut die klassische Schlagdämpfung des Helms wirkt – der wichtigste Schutz für den Kopf!
Aus der Drehrate errechnen wir zusätzlich die Gefahr einer Gehirnerschütterung durch die Rotation. 2.400-mal pro Sekunde checkt der Messchip, der in weniger edler Ausführung auch in jedem Smartphone steckt, die Lage und macht Dinge sichtbar, die sich dem bloßen Auge entziehen: zum Beispiel, dass die Drehraten des Kopfes nach dem schrägen Aufprall im Schnitt um 40 Prozent zurückgehen, wenn ein MIPS-System im Helm eingebaut ist. Die Wahrscheinlichkeit, eine mittlere Gehirnerschütterung durch die Rotation zu erleiden, sinkt sogar um drei Viertel, von durchschnittlich 39 auf nur noch 10 Prozent – verglichen mit einem Helm ohne MIPS.
Das heißt nicht, dass ein MIPS Rennrad-Helm Hirnschäden immer vollständig vermeidet, aber das Risiko bei einem schrägen Stoß sinkt signifikant gegenüber Standardhelmen. Im Superzeitlupen-Video des TOUR-Tests (siehe unten) kann man den Effekt sehen: Die Helmschale verdreht sich beim schrägen Aufprall klar erkennbar gegenüber dem Kopf, dieser zusätzliche Bremsweg nimmt Energie aus der Drehung.
Das MIPS-Konzept hat viele Hersteller überzeugt, die Technik in die Rennrad-Helme einzubauen, auch wenn das keine Norm fordert und zusätzliches Geld kostet. Wie verbreitet das System ist, lässt sich am aktuellen Angebot eines großen Online-Händlers ablesen: 1000 von insgesamt 4000 verfügbaren Straßen-Fahrradhelmen sind inzwischen mit MIPS ausgestattet, nur wenige Marken beschreiten gänzlich eigene konstruktive Wege in Sachen Sicherheit (siehe auch Helmtest in TOUR 9/2020).
Unser Testfeld spiegelt auch wider, dass die Einstiegspreise für MIPS-Helme gesunken sind: Der günstigste Rennrad-Helm kostet 80 Euro, der teuerste im Testfeld 145 Euro. Die spannende Frage lautet: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Preis und Schutzwirkung? Um das herauszufinden, unterzogen wir jeweils mindestens zwei Helme jedes Modells dem Crash-Test, überprüften aber auch den Tragekomfort und testeten die Belüftung mit einem Mini-Windkanal.
Im Rotationsschutz bei schrägem Aufprall zeigen alle Helme deutlich Wirkung. Vier Modelle können sich vom Feld absetzen, sie zeichnen sich durch besonders niedrige Drehraten bei einem Sturz auf die Stirn aus, darunter auch der günstige Giant Rev Comp. In der klassischen Schlagdämpfung, bei frontalem und seitlichem Aufprall, schneidet der günstige Giant-Helm hingegen etwas schwächer ab. Bestwerte in dieser Prüfung erzielt Giro mit dem Modell Syntax und schneidet auch in der kombinierten Sicherheitswertung aus Schlagdämpfung und Rotationsdämpfung am besten ab. Insgesamt ist das Sicherheitsniveau des Testfeldes hoch. Im Schnitt schneiden die teureren Rennrad-Helme in der Sicherheitsprüfung einen Tick besser ab als die günstigen. Pauschal kann man aber nicht sagen, dass teurere Fahrradhelme sicherer sind.
Die Gewichte der getesteten Rennrad-Helme variieren zwischen 265 und 340 Gramm. Eine Korrelation zwischen Gewicht und Schutzfunktion sehen wir nicht. Scott liefert mit dem Modell Arx Plus innerhalb dieses Testfeldes sogar einen besonders leichten Radhelm mit der zweitbesten Schutzfunktion und obendrein der besten Belüftung. Was diesem Modell unterm Strich auch den Testsieg nach Punkten beschert.
Von unseren Noten kann man sich bei einer Vorauswahl für ein Helmmodell nur leiten lassen, denn in der Praxis ist es wichtig, dass der Helm gut sitzt.
Die Anpassungssysteme sind zwar ziemlich ausgereift und tolerant, aber der beste Helm nützt nichts, wenn er nicht richtig passt oder schlecht getragen wird. Deshalb raten wir zu einer Anprobe. Sitzt der Helm gut, findet er im Falle eines Falles gute Arbeitsbedingungen vor, um sein ganzes Schutzpotenzial zu entfalten.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung: 16 %
Fazit: Der schwerste Helm im Test fällt klein und kompakt aus – besser eine Nummer größer ausprobieren. Die seitlichen Gurtbänder lassen sich mit der Dreiecksführung zwar sehr leicht anpassen, verrutschen aber wegen fehlender Arretierung schnell wieder. Extras wie Reflexmaterial und Lichthalter erhöhen die Sichtbarkeit.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 21 %
Fazit: Der leichte Bell hat eine Allround-Passform, Größe M passt am besten Köpfen zwischen 56 und 58 Zentimetern Umfang. Das höhenverstellbare Kopfband lässt sich mit griffigem Drehverschluss leicht anpassen, hinten sind die Gurtbänder gut geführt. Selbst die im Vergleich geringste Rotationsdämpfung schützt immer noch besser als bei Helmen ohne Mips.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 7 %
Fazit: Der Bollé passt auf viele Köpfe, sein relativ hohes Gewicht ist jedoch spürbar. An einer hervortretenden Stirn können die Luftschlitze in der Styroporschale Druckstellen hinterlassen. Als einziger Helm im Testfeld besitzt der Exo Mips eine kleine Rutschkupplung im Drehverschluss. Verarbeitung und Schutz sind gut.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 2 %
Fazit: Nach unserer Prüfstandsmessung verhindert der Rev Mips eine mögliche Gehirnerschütterung durch Rotation am effektivsten. Auch in den anderen Disziplinen überzeugt der relativ leichte Helm. Obwohl Größe M laut Tabelle bis 59 Zentimeter Kopfumfang reicht, empfehlen wir, ab 57er-Umfang eine Nummer größer zu probieren.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 5 %
Fazit: Der günstigste Helm im Test hat sehr guten Rotationsschutz und baut sehr schlank. Die Größe S/M passt ideal für Köpfe mit 56 Zentimeter Umfang, trotz geschlossener Mips-Schale kommt viel Luft an den Kopf. Der Drehverschluss ist etwas schwergängig, das Helminnere vorne großflächig gepolstert, hinten kann man ein LED-Rücklicht nachrüsten.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 20 %
Fazit: Den leichtesten Helm im Test gibt es nur in einer Größe, die mittelgroßen, eher breiten Köpfen mit etwa 57 Zentimeter Umfang am besten passt. Trägt sich angenehm durch viel Polstermaterial innen. Praktisches Ratschenschloss; die hinteren Kopfriemen verdrehen sich leicht, der große Drehverschluss funktioniert gut. Die Belüftung ist eher durchschnittlich.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 16 %
Fazit: Allround-Passform, dank vier verfügbarer Größen so fein abgestuft, dass er auf viele Köpfe passen dürfte. Die Größenanpassung mit höhenverstellbarem und gut gepolstertem Kopfband funktioniert aufgrund des sehr kleinen Drehverschlusses schwergängiger als bei anderen Testmodellen. Top verarbeitet, beste kombinierte Schutzwirkung im Test.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 10 %
Fazit: Als einziger im Test lässt sich der Lazer Blade+ Mips über ein Schneckengetriebe oben auf dem Helm in der Weite verstellen. Das ist zwar nicht so intuitiv zu bedienen wie ein Drehverschluss, dafür bietet er hinten viel Platz für Zöpfe aller Art. Die Größe M passt bis 56 Zentimeter Kopfumfang. Gute Kühlung. Sehr guter Rotationsschutz.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 14 %
Fazit: Der leichte, schmale Helm mit Allround-Passform liegt rundum gut an. Größe L passt Köpfen mit einem Umfang bis 61 Zentimeter. Sein höhenverstellbares Kopfband liegt gut gepolstert an und lässt sich dank großem Drehverschluss auch mit Langfingerhandschuhen gut anpassen. Die Verarbeitung ist insgesamt gut. Sechs Farbvarianten.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 3 %
Fazit: Der Estro fällt extrem klein und schmal aus. Bereits ab einem Kopfumfang von 55 Zentimetern kann es mit Größe M knapp werden. Schwächen leistet sich der Helm nicht: Er ist leicht, ordentlich belüftet, top verarbeitet und lässt sich schnell und flexibel anpassen. Sechs verschiedene Farbvarianten stehen zur Auswahl.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 11 %
Fazit: Der Arx Plus Rennrad-Helm von Scott ist in dieser Konkurrenz der absolute Testsieger. Ohne Schwächen räumt er bei Belüftung und Anpassung die besten Noten ab. Auch beim Crashtest überzeugt er mit der zweitbesten Note. Seine Größe fällt normal aus, seine Passform lässt sich mit Allround beschreiben. Insgesamt acht Farben gibt es.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 18 %
Fazit: Der Smith Persit MIPS Rennrad-Helm gefällt mit seiner Allround-Passform und deckt mit vier Größen Kopfumfänge von 51 bis 65 Zentimetern ab – so ein großes Spektrum bietet kaum ein anderer Hersteller. Größere Schwächen leistet sich das Modell kaum, lediglich die Riemenführung am Hinterkopf verheddert sich aufgrund fehlender Führung hin und wieder.
Wahrscheinlichkeit Gehirnerschütterung 3 %
Fazit: Mit 330 Gramm gehört der Specialized Echelon II Rennrad-Helm zwar zu den Schwergewichten im Test, dafür ist er sehr gut beim Rotationsschutz, wie unsere Crash-Tests beweisen. Als zusätzliches Sicherheitsfeature ist der Sturzsensor bereits an Bord, die zugehörige „Angi“-App muss jedoch gegen Zahlung erst aktiviert werden. Verarbeitung und Gurtsystem sind top.
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