Tim Farin
· 18.12.2022
In Münster, einer der fahrradfreundlichsten Städte Deutschlands, feiert der deutsche Radsport Jahr für Jahr den Saisonabschluss mit dem Münsterland-Giro. Mit Rennen für Profis und Hobbyradsportler, für Ambitionierte und Einsteiger.
Die frühe Sonne bringt die Farben in der kalten Herbstluft zum Leuchten, Musik dröhnt aus den Boxen, die letzte Party des Straßenradsportjahres steigt. Einer, der mit Aerohelm ganz vorne aus dem B-Block ins Rennen über 95 Kilometer schießt, steht schon ein paar Meter weiter gebückt am Straßenrand. Sebastian Olbrich aus Halle in Westfalen hatte sich auf einen wunderbaren Saisonabschluss gefreut, war gut in Form und mit dem Wohnwagen angereist, hatte vermeintlich alles perfekt vorbereitet. Doch mit den ersten Pedalumdrehungen reißt seine Kette. “Das darf doch jetzt nicht am Material scheitern!”, fleht Olbrich, doch mit seinem Werkzeug kommt er nicht weiter. Enttäuscht läuft er zurück, während der nächste Startblock auf die Strecke geht. Es ist ein harter Kontrast im weichen Morgenlicht.
Eigentlich ist es ein Festtag. Der 3. Oktober ist nicht nur ein öffentlich-feierlicher Tag im Herbst, sondern bietet auch für den Straßenradsport in Deutschland den etablierten Schlusspunkt. Der Sparkasse Münsterland-Giro verschafft Weltstars, Amateuren, Jedermännern und Neueinsteigern die Gelegenheit, sich auf gesperrten Straßen noch einmal auf höchstem Niveau zu messen. “Das ist auf jeden Fall der Schlusspunkt”, sagt Fabian Wegmann, der als ehemaliger Weltklassefahrer die Sportliche Leitung des Profirennens in Münster schultert - und als Münsteraner das prominenteste Gesicht der Veranstaltung ist. Seit 2006 zieht der Giro die Sportler am Einheitstag an. Hier finden sie den Abschluss - so wie auch Sprint-Star André Greipel, der 2021 seine Karriere in Münster beendete.
Münster gilt als eine der fahrradfreundlichsten Städte in Deutschland, die Kommune selbst veranstaltet das Rennen. Das Event entstand in überaus krisenhaften Zeiten des Profiradsports, hat aber bis heute souverän überlebt. Fabian Wegmann berichtet von großer Unterstützung durch die umliegenden Landkreise. “Die ganze Region wird einbezogen und die Akzeptanz in der Bevölkerung ist immer weiter gewachsen”, sagt er. So ist der Münsterland-Giro ein “Leuchtturmprojekt”, wie es Wegmann beschreibt, und das sendet auch in die Hobbyfahrerszene ein klares Signal. Noch einmal ins Ziel kommen, noch einmal die Arme in die Höhe recken - das ist der Wunsch der etwa 3000 Menschen, die sich dieses Jahr für die drei Jedermannrennen melden.
Während einzelne Teilnehmer an ihren Autos noch die Kleidung für den Start überstreifen, versammelt sich auf dem Parkplatz neben dem Profi-Teamhotel eine Gruppe Männer und Frauen, viele mit Kameras um den Hals. Es ist sieben Uhr morgens, als Alexander Reder seinen 17. Renneinsatz des Jahres startet. Reder leitet im Nebenjob das Team von Sportograf und koordiniert die anderen zwölf Fotografen, die in den kommenden Stunden von Motorrädern, entlang der Strecke und an der Zielgeraden die Emotionen einfangen werden. “Für uns als Fotografen ist Münster schwierig, weil die Strecke so flach ist und die Fahrer so viel im Windschatten fahren”, sagt Reder.
Eine erhebliche Leistung müssen die Sport-Fotografen liefern und über Stunden konzentriert knipsen, um am Ende möglichst viele scharfe Bilder von Startern in Action verkaufen zu können. Das gehört dazu, wenn sich die Sportler an ihren Schlusspunkt der Saison erinnern wollen. Wenn die Bilder hochgeladen sind, ist es Zeit für eine Pause. Reder, der sonst auch mal 30 Rennen im Jahr übernimmt, freut sich auf den Urlaub mit der Familie.
Wer einen schönen Schlusspunkt sucht, kann sich an diesem Montagmorgen auf ein gut funktionierendes Konzept verlassen. Beim Münsterland-Giro sitzen die Abläufe. “Es ist eine Zusammenarbeit mit Top-Leuten”, sagt auch Dieter Buchal, für den heute ebenfalls eine stressige Saison endet. Er ist passionierter Zweiradfahrer, allerdings braucht er für sein Hobby einen Motor. Buchal leitet die Motorradstaffel Köln, die bei Radrennen zur Sicherung der Strecke mitfährt oder Fotografen im Rennen transportiert. Die Staffel fährt bei den Hobbysportlern ebenso mit wie später bei den Profis.
Ein kraftzehrender Tag, und wieder mal war es auch ein anstrengendes Jahr. Eschborn-Frankfurt, Rund um Köln, die Deutsche Meisterschaft im Sauerland, Buchal war mit seinen Leuten da. Zehn Rennen hat er 2022 gemanagt, das klinge nach weniger, als es ist. Denn vor jedem dieser Rennen muss Buchal seine Leute wochenlang koordinieren, die Abläufe mit den Organisatoren absprechen.
Buchal macht es aus Freude, zugleich aber trägt der Mann aus Unna die Verantwortung für die 29 Leute im Feld. “Das musst du erst einmal alles unter einen Hut bekommen, das ist richtig Aufwand”, sagt er. Zeit für eine große Feier wird man sich nach dem Zieleinlauf nicht nehmen.
Es wird ein kurzes Feedback-Gespräch geben, dann fahren alle nach Hause - und Buchal startet in die Vorbereitung fürs nächste Jahr. Der Saisonabschluss ist für viele im Feld ein Datum, auf das sie sich akribisch vorbereitet haben - wobei sich die Ziele der Vorbereitung stark unterscheiden. Bei den Profis fährt Youngster Michel Heßmann vom Team Jumbo-Visma das Rennen zum ersten Mal.
Obwohl er aus Münster kommt, steht er morgens am Frühstücksbüffet im Teamhotel. Na klar, es geht um viel - und am Ende sprintet sein Teamkollege Olav Kooij sogar zum Sieg. “Ich habe als Kind immer bei diesem Rennen zugeschaut”, erzählt Heßmann, er sei froh, heute dabei zu sein. Das Rennen habe ihn beeinflusst. “Es war immer eine große Sache.”
Das ist der Giro auch für die vielen Menschen, die zum ersten Mal mit Nummer in ein Rennen starten. Morgens um kurz vor acht rollen etliche von ihnen zum hintersten Startblock vor dem kürzesten der drei Jedermannrennen. Hier steht auch Hanka Kupfernagel, die achtmalige Weltmeisterin begrüßt ihre Mitfahrerinnen im “Fun-Block” ganz hinten, vor dem Start auf die 65 flachen Kilometer. Kupfernagel hat im Sommer Frauen in einem Workshop auf die besonderen Situationen eines Straßenradrennens vorbereitet. Sie macht das jährlich für den Veranstalter, auch Fabian Wegmann leitet solche Workshops.
Es geht darum, den Straßenradsport jenen zu vermitteln, die ihn nicht über die Vereinsjugend gelernt haben. Kupfernagel macht ihr Angebot speziell für Frauen und erfährt viel Resonanz aus der Gruppe. “Das bringt auch mir was, weil ich denen echt was mitgeben kann”, sagt die ehemalige Weltklasse-Athletin. Gerade der Zugang zu einem solchen Rennen mit weiblicher Perspektive sei eine Sache, die den Starterinnen Offenheit und Sicherheit vermittle. Unter Frauen trauten sich Anfängerinnen eher, auch vermeintlich blöde Fragen zu stellen, sagt Kupfernagel. Im Workshop sei ein Gruppengefühl entstanden - und nun gehen die Frauen eben zusammen ins Rennen.
Im Ziel vor dem großen Platz, nicht weit vom barocken Schloss Münster, lassen sich die Emotionen kaum verbergen. “Mega!”, ruft Jennifer Terinde, als sie mit Hanka Kupfernagel durchs Ziel fährt. In 2:14 Stunden hat der “Fun-Block” das Ziel erreicht. Ein Meilenstein für alle, die in Kupfernagels Windschatten mitgefahren sind. Terinde ist in ihrem Verein, dem RSV Steinfurt, die Kleinste und die einzige Frau, sie war deshalb froh, dass es in Münster dieses spezielle Angebot für Rennradfahrerinnen gibt.
“Für viele war es vorher nicht möglich, in der Gruppe zu fahren”, sagt sie. Sie und ihre Sportskameradinnen haben aber Vertrauen gefasst. Auch Beatrix Overmann schwärmt, sie steht gleich neben Terinde. Es war ihr erstes Rennen und sie habe gespürt, sagt die Münsteranerin, wie sie in der Gruppe über sich hinausgewachsen sei: “Jetzt bin ich einfach nur froh, dass ich es geschafft habe.”
Gleich geht sie zum Wohnmobil, das sie in der Nähe geparkt hat, zieht sich um und wird mit ihrem Mann Sven zusammen den Tag auf dem Schlossplatz abrunden, wo es zu Musik und durchaus fragwürdigen Moderationen auf der Bühne auch Münsteraner Currywurst und Pils vom Fass gibt. Es ist ein sonniger Sonntagmittag, Angehörige und Rennfahrer stehen beisammen, lange Lederstiefel neben roten Rennradschuhen.
Natürlich ist Radsport Fun, aber der Renntag in Münster bedeutet für manche Teilnehmer auch Zwänge. Bruce Steinkirchner hat das am Morgen so gesagt, als sein Team Münsterland sich ganz vorne am Start des 95-Kilometer-Rennens aufgebaut hatte: “Das Rennen ist das ganze Jahr über unser Ziel.” Auf anderen Veranstaltungen werben seine Athleten für das heimische Event, ab dem Sommer fahren sie akribisch die Strecke ab, am Ende tüfteln sie an einer Teamtaktik und helfen zugleich den Organisatoren beim Aufbau und den Kinderrennen.
Bezogen auf die Bandbreite der Teilnehmer am Münsterland-Giro operieren Steinkirchner und seine Teamkollegen und -kolleginnen im Vergleich zum Fun-Block am entgegengesetzten Ende. Klar: Die Fahrer sind keine Profis, aber es gibt Sponsoren, bezahlte Ausrüstung und die Erwartung, dass am Ende ein gutes Ergebnis beim Heimrennen rausspringt.
Und so ist es ein bisschen ärgerlich, dass wiederum ein Elite-Amateurteam aus Steinfurt nicht nur kurz vor dem Start vorne über das Absperrgitter drängt, sondern auch die Taktik des Heimteams neutralisiert. Christoph Wisse, im Hauptberuf Außendienstler und an diesem Tag der designierte Podiumsfahrer der Münsteraner, muss am Ende mit Platz 9 leben. “Enttäuscht” will er seinen Zustand nicht nennen, aber erhofft hatte er sich durchaus das Treppchen.
Doch Wisse findet seinen Frieden mit dem Tag, stößt mit Freunden an. Genau wie es Juliane Matzke tut, die jede Menge Kuchen, mehrere Kisten und ein Fass Bier vor die Bühne gekarrt hat, um ihren Mitstreitern beim Team Deutsche Kinderkrebsstiftung etwas zurückzugeben. Die junge Frau aus Münster gehört zu den Allerbesten hier im Feld, das Bierfass hatte sie in der Vorwoche in Bad Dürrheim beim Riderman gewonnen. Seither hatte auch festgestanden, dass Matzke in ihrer Heimatstadt zur Siegerin im German Cycling Cup 2022 gekürt werden würde.
Und während eine 64-minütige Zeremonie mit Siegerehrungen auf einen letzten sexistischen Spruch des Moderators zusteuert, zelebrieren Matzkes Freunde und Mitfahrer die gemeinsamen Leistungen. Die Saison ist rum, und Matzke greift zum Perlwein. “Es dreht sich alles um: Wie schwer bin ich? Wie viel Watt kann ich treten? Wie ist meine FTP gerade? Ich darf von April bis Oktober nicht krank werden. Wir investieren viel Zeit und Geld in dieses Hobby”, erklärt sie, wie es am obersten Ende der Jedermann-Szene läuft. Jetzt ist einfach Pause, der Rausch kommt, die Laune steigt. Man kann feiern, wie es Jennifer Terinde tut oder auch die Englischlehrerin Kathrin Jahn aus Wolfsburg. Die hat etwa eine halbe Stunde Schlange gestanden, um von ihrem ersten Rennen eine gravierte Medaille mitzunehmen.
Die Sonne scheint und die Partystimmung hält bis zum Abend an, weit nach dem Zieleinlauf der Profis. Und auch Sebastian Olbrich, der Mann mit der gerissenen Kette, hat tatsächlich noch das Ziel erreicht.