Kristian Bauer
· 08.12.2022
Feucht, fröhlich und ein Ex-Profi als Veranstalter einer Radrundfahrt: Marcus Burghardt hatte zu Shades of Speed in seine oberbayerische Wahlheimat geladen. TOUR war bei der Premiere des Radsport-Events dabei.
So klein kann eine Großveranstaltung sein: 1400 Rennradfahrer hatten sich für die Premiere von Shades of Speed am 18. September gemeldet. Eigentlich. In der Früh um acht Uhr gehen im oberbayerischen Kolbermoor aber nur tröpfchenweise Radlerinnen und Radler auf die Strecke. Das Thermometer zeigt sieben Grad, vor Kurzem peitschten noch Regenschauer über das Startgelände, wo immer noch die vielen Werbefahnen im starken Wind laut flattern.
Die Wolken hängen so dunkel über dem Parkplatz eines Autohauses, dass die Pkw mit eingeschaltetem Licht vorbeifahren. Ein Sauwetter, bei dem viele Vorangemeldete auf den Start verzichten und nur wenige, dick eingepackte Radler zwischen Absperrgittern und Verkaufsständen auftauchen. In der Mitte des Platzes steht der Stolz von Veranstalter Marcus Burghardt: eine große Startrampe mit großem Startbogen.
„Ich will den Leuten das Erlebnis bieten, auch mal von einer großen Startrampe zu starten“, erklärt der Ex-Profi. Schon seit Jahren hatte sich die Idee eines eigenen Rad-Events in seinem Kopf festgesetzt, und als es dann 2021 zu seinem Karriereende kam, war endlich Zeit, das Projekt Shades of Speed zu realisieren. Zum Glück habe es nicht zu seiner aktiven Zeit geklappt, meint er selbst, denn „ich habe den Riesenaufwand total unterschätzt“.
Während andere Radprofis nur ihren Namen hergeben für ein Event, hat Burghardt die meiste Arbeit selbst erledigt: „Alles außer Homepage-Bauen, und ich habe jemanden für die Fotos.“ Burghardt arbeitet seit Monaten nur noch für seine Radveranstaltung: „Die Genehmigung zu bekommen war schwierig und hat sich lange hingezogen – ich musste erst mal rausfinden, wer zuständig ist.“
Auf dem Startgelände ist es um halb neun immer noch sehr ruhig. Das liegt nicht nur an den vielen Daheimgebliebenen, sondern auch an den großzügigen Startfenstern. Fünf Distanzen zwischen 50 und 270 Kilometern stehen zur Auswahl, und jede Strecke hat ein eigenes Zeitfenster. Während andere Radveranstaltungen die Fahrer sehr früh auf die Strecke schicken, um dem Verkehr aus dem Weg zu gehen, ist bei Shades of Speed der Start bei der 150-km-Runde noch bis zehn Uhr und bei der 100-km-Runde sogar noch bis zwölf Uhr möglich.
Auffällig anders sind auch die Sammelplätze vor der Startrampe – nach Geschwindigkeit getrennt sollen sich Gruppen selbstständig bilden. Ein pfiffiges Konzept, das heute Morgen höchstens durch die geringe Zahl an Startern gebremst wird. Während Nieselregen vom Himmel fällt, hat sich eine kleine Gruppe vor dem 25-km/h-Schild gesammelt: Denise Brachtl, Maria Bohrer, Eva Ziegeltrum und Thorsten Keith haben spontan zusammengefunden, um auf die Strecke zu gehen. Angesichts des stürmischen Windes motiviert die Fahrt im Schutz einer Gruppe.
Marcus Burghardt hat es drinnen noch kuschelig warm: Im Autohaus, bei der Startnummernausgabe, klärt er offene Organisationspunkte und begrüßt die Promi-Starter, mit denen er später auf die Strecke gehen will. Lächelnd, aber etwas müde schaut er in die Runde – seit drei Uhr morgens ist er auf den Beinen, um noch einmal die Schilder zu kontrollieren und letzte Punkte zu regeln. Ihm zur Seite steht seine Frau Maria, die Startnummern ausgibt und Fragen der Helfer beantwortet.
Weil Shades of Speed keine Veranstaltung einer Event-Agentur ist, sondern eine Familiensache, war sie die letzte Zeit ebenfalls voll eingespannt. „Vergangene Woche habe ich 1400 Beutel für die Teilnehmer gepackt“, sagt sie, nimmt die jüngste Tochter auf den Arm und schaut nach ihren zwei anderen Kindern, die durch den Raum flitzen.
Als geborene Samerbergerin kennt Maria Burghardt jeden Helfer beim Vornamen und hat auch geholfen, Kontakte zu knüpfen – etwa zum WSV Samerberg. Zählt man die Kinder mit, sind es 60 Helfer vom Wintersportverein, die heute anpacken. „Samerberg ist eine große Familie“, sagt Matthias Geißler, Langlauf-Abteilungsleiter des WSV. Auch zwei Kinder der Burghardts sind im WSV.
>> Dehnübungen für Radsportler: Stretching mit Marcus Burghardt
Dass Burghardt den Langläufern für die Mithilfe neue Rennanzüge und Wärmejacken spendiert, weckt zusätzliche Motivation. Aber auch der Radsportverein Rosenheim hat Burghardt unterstützt: „Klaus Wagenstetter vom Rosenheimer Radmarathon hat mir viele Tipps gegeben, etwa was die Mengen an den Verpflegungsstationen betrifft. Die Rosenheimer haben auch Werbung für mich gemacht – da gab es kein Konkurrenzdenken“, zeigt sich Burghardt dankbar.
Für ein Foto schart Burghardt um neun Uhr die eingeladenen Promi-Starter und die Mitfahrer der Sponsoren um sich. Immer wieder kommen Kleinigkeiten dazwischen: eine Trinkflasche, die fehlt, ein Werkzeug oder ein Ansprechpartner, der gesucht wird. Um halb zehn ist es dann endlich so weit: Burghardt rollt mit dem Promi-Team zur Startrampe. Der Streckensprecher begrüßt die Sportler und fragt scherzend nach der Zahl der olympischen Medaillen, die hier versammelt sind.
Der nordische Kombinierer Eric Frenzel hat schon mal sechs zu bieten, sein Sportkollege Björn Kircheisen vier, Biathlet Simon Schempp drei – der Rest geht im allgemeinen Gemurmel unter. Während der Streckensprecher mit einem Seitenhieb auf das Wetter betont, dass die Wintersportler heute im Vorteil seien, schwenken die Kameras über die Starter. Ex-Radprofi André Greipel ist wohl bei diesen Bedingungen wirklich im Vorteil – in seiner Karriere hat er schließlich schon viele Tage bei Regen auf dem Rennrad verbracht. Endlich geht es los – für Burghardt ist es das Ende einer langen Radpause. Nie zuvor in seinem Leben ist er so wenig Rad gefahren wie in den Wochen bevor dem Shades of Speed.
In geordneter Zweierreihe fährt die Gruppe auf der Straße, wechselt kurz darauf auf einen Radweg. Bevor es scharf rechts auf eine kleine Straße abzweigt – kaum sichtbar weist ein schwarzer Richtungspfeil den Weg. Bei leichtem Regen und kaltem Wind geht es über eine schmale Straße, auf der tiefe Pfützen stehen. Einige Kilometer später folgt zu allem Übel ein Schotterstück, bevor man wieder steil links auf eine schmale Straße biegt. Das Wasser spritzt ohne Pause vom Reifen des Vordermanns ins Gesicht, nach wenigen Kilometern kriecht mit der Nässe auch die Kälte in Hände, Füße und Beine. Immer wieder kommen Radfahrer entgegen, die angesichts der widrigen Bedingungen aufgegeben haben und zurück zum Start fahren.
Burghardt wechselt ans Ende der Gruppe und plaudert mit den Mitfahrern. Nach eineinhalb Stunden taucht in Bernau am Chiemsee die erste Verpflegungsstation auf. In der Garage eines Bauernhofs stehen Bierbänke, es gibt Kuchen, Riegel, heißen Tee und Kaffee. Auf die Verpflegungsstationen hat Burghardt besonderen Wert gelegt. „Ich wollte welche, die überdacht sind, falls es regnet. An dem Bauernhof bin ich auf einer Trainingsfahrt vorbeigekommen und dachte, der wäre perfekt. Er hat eine Garage, liegt an der Strecke – und man hat sogar einen schönen Blick auf den Chiemsee. Ich habe dann einfach geklingelt und gefragt, ob es möglich wäre.“
Jetzt drängen sich die Radler dankbar im geschützten Bauernhof. Die meisten sind durchgefroren, und in der Promi-Gruppe wird besprochen, dass hier die letzte Möglichkeit zum Abkürzen sei, bevor es um den Chiemsee geht. Fast geschlossen biegt die Gruppe ab – nur Greipel und Burghardt fahren weiter. Letzterer ohne Handschuhe, weil er immer wieder das Telefon bedient, um bei Verpflegungsstationen nachzufragen, ob alles läuft und wie viele Fahrer schon da sind.
Dass der Erste der längsten Strecke schon an der Station am Königssee angekommen ist, freut ihn sichtlich. „Da rechts ist die Kampenwand“, sagt Burghardt und zeigt auf eine graue Wolkenwand, die alle Berge verdeckt. Hunderte Male sei er diese Runde im Training gefahren – deshalb sei ihm die Streckenplanung nicht schwergefallen. Zwar verhüllen heute Wolken die Panoramablicke, dafür herrscht kaum Verkehr. Ausflügler mit dem Auto sind bei diesem Regenwetter nicht unterwegs – das wäre bei Sonnenschein ganz anders.
Während bei der benachbarten Wendelsteinrundfahrt an kritischen Punkten Helfer an Straßenkreuzungen und Querungen vor dem Verkehr schützen, sind die Teilnehmer bei Shades of Speed ganz auf sich gestellt. „Es ist eine behördliche Auflage, dass wir nicht den Verkehr regeln“, meint Burghardt. Aber auch die Ausschilderung ist nicht so präsent wie bei der Wendelsteinrundfahrt oder dem Rosenheimer Radmarathon: Die schwarzen Richtungspfeile sind teils vom Wind verdreht, spät sichtbar oder sogar zerbrochen. Ohne den GPS-Track, den die Teilnehmer per E-Mail bekamen, ist es kaum möglich, die Strecke zu finden.
Selten sind die Verpflegungsstationen so wichtig wie heute. An der zweiten Station drängen sich verfrorene Starter und warten geduldig darauf, dass die Pizza aus dem Ofen kommt. Unterdessen wringen viele ihre Handschuhe aus. Helfer vom WSV Samerberg und Burghardts Freunde, darunter auch Köche aus der Region, sorgen für die notwendige Stärkung. Burghardt hat seinen Radmarathon als entspannte Fahrt mit kulinarischen Höhepunkten angekündigt – nur das Wetter trübt die Genussfahrt von der Pizza zu den Kässpatzn und Nudeln etwas.
Die Straße verlässt jetzt den Wald. Links unten taucht aus dem Grau der Chiemsee auf, das „bayerische Meer“, dessen graue Fläche sich heute aber nur schwach von den Wolken abhebt. Kein Grünblau oder Azurblau lockt, wie an einem schönen Sommertag. Die nahe gelegenen Berge sind mit frischem Schnee überzogen. Im Gegensatz zur Wendelsteinrundfahrt und dem Rosenheimer Radmarathon führen die meisten Strecken von Shades of Speed nicht in die Berge – angesichts des frühen Wintereinbruchs ein glücklicher Umstand. Nur die 270-Kilometer-Strecke musste wegen des Wetters verkürzt werden, weil Neuschnee die Rossfeld-Panoramastrecke bedeckte.
Wendelsteinrundfahrt und Rosenheimer Radmarathon haben Jahre gebraucht, um ihre Teilnehmerzahlen zu steigern – Burghardt gelingt ein Blitzstart. 1.400 Anmeldungen sind erstaunlich für eine Premiere. Der Lohn für gutes Netzwerken: Anette Hanssum aus Brannenburg hat es über Strava mitbekommen, dass Marcus Burghardt zur Radfahrt lädt, Denise Brachtl aus Kiefersfelden über Instagram und andere über Freunde aus der Region. Marcus Burghardt ist ein professioneller Netzwerker, in den sozialen Medien ebenso wie im realen Leben. Das habe sich ausgezahlt, erzählt Burghardt: „Ich habe schnell Sponsoren gefunden und hatte daher sehr früh ein Budget, das ich verwenden konnte.“
Lob von den Teilnehmern gibt es für die Verpflegungsstellen – am besten ist die Stimmung am letzten Stopp vor dem Ziel. Marcus Burghardt lässt es sich nämlich nicht nehmen, bei seiner Pause an der Station persönlich Nudeln auszugeben. Unterhalten von Musik mit Gitarre und Ziehharmonika, die hier „Quetschn“ heißt, genießen die Radfahrer die warme Stärkung und fröhliche Stimmung.
Endlich ist auch der Himmel etwas heller geworden und die Temperatur zweistellig. Die letzten Kilometer ins Ziel bläst ein starker Gegenwind, aber es bleibt trocken. Teilnehmer rollen vereinzelt auf einem Radweg Richtung Ziel. Dort gibt es zur Belohnung ein „Goodie-Bag“ mit Geschenken der Sponsoren und noch einmal einen heißen Tee. Die am Morgen spontan gemeinsam gestarteten Denise Brachtl, Maria Bohrer, Eva Ziegeltrum und Thorsten Keith kommen auch als Gruppe an und tauschen im Ziel Kontaktdaten aus. „Wir machen bestimmt mal was zusammen“, meint Eva Ziegeltrum. Alle vier loben die Organisation und die Streckenführung der 150-Kilometer-Runde.
„Die Verpflegung war super“, sagt Denise Brachtl. Einigkeit herrscht bei einem weiteren Punkt: Die Orientierung sei schwer gewesen. Zum Glück hatte die Gruppe den Track auf dem Navi. Erstaunliche Feststellung im Ziel: Trotz miesem Wetter sind laut Burghardt fast 1.000 Starter auf die Strecke gegangen – oft auf eine kürzere Strecke als ursprünglich geplant. Das flexible Startfenster erwies sich als Glücksfall.
Neu-Hobbyfahrer André Greipel hat die erste RTF seines Lebens positiv erlebt: „Ein super Event“, sagt er im Ziel. „Landschaftlich hat man zwar nicht viel mitbekommen, aber das Wetter kann man nicht beeinflussen.“ Die durchgängige Kritik an der Ausschilderung ist auch bei Burghardt angekommen: „Die Beschilderung war ganz schlecht. Viele Schilder sind gebrochen, waren verdreht und die Farbe schlecht sichtbar. Sonst haben wir aber viel positives Feedback bekommen.“
Sein wichtigstes Fazit geht aber Richtung Helfer: „Ich bin wahnsinnig dankbar, dass mich so viele Freiwillige unterstützt haben.“
Der Termin für das Radsport-Event von Ex-Profi Marcus Burghardt für 2023 steht bereits fest. Der Granfondo im bayerischen Voralpenland findet am 23. Juli 2023 statt. Hier kann man sich bereits anmelden.