Christoph Allwang im Interview“Viele Entwicklungen machen das Rennrad besser”

Thomas Musch

 · 25.12.2022

Christoph Allwang im Interview: “Viele Entwicklungen machen das Rennrad besser”Foto: Georg Grieshaber

Christoph Allwang leitet die Werkstatt und das Testlabor von TOUR und den anderen Fahrradmagazinen des Delius Klasing Verlags. Ein Gespräch über den Rennradjahrgang 2022, die Herausforderungen der Technik und Ideen für die Zukunft.

Interview: Thomas Musch

TOUR: Mit Blick auf den Rennrad-Jahrgang 2022: Was sind die Trends, welche die Rennradentwicklung aus der Sicht des Labor- und Werkstattleiters prägen?

Christoph Allwang: Am Rennrad ganz klar Systemintegration und Aerodynamik. Vor allem bei Lenkern, Vorbauten und Steuersätzen. Damit einhergehend die immer weitere Verbreitung von elektronischen Schaltsystemen. Viele integrierte Lösungen wären mit mechanischen Schaltsystemen nicht sinnvoll möglich, weil die enge Zugverlegung durch Lenker, Vorbau und Steuersatz keine einwandfreie Funktion der Schaltung zuließe. Immer mehr Hersteller weichen auch von den klassischen und vereinheitlichten Bauteilen ab und entwickeln eigene Steuersatz- und Gabelschaftsysteme, die den Montage- und Testaufwand für uns teilweise drastisch erhöhen.

TOUR: Welche Rolle spielt das Gravelbike in eurer täglichen Arbeit?

Allwang: Bis vor ein, zwei Jahren war es noch eine Nische, wird aber immer wichtiger und ist fast schon dominanter Bestandteil der Rennlenker-Fraktion. Wobei es das typische Gravelbike fast schon nicht mehr gibt, es teilt sich in verschiedene Segmente auf, der Übergang ist oft fließend. Ein Marathon-Renner mit 32 Millimeter breiten, profilierten Reifen ist oft schon nicht mehr von einem leichten Gravelbike oder Crosser zu unterscheiden. Ein Race- oder Aero-Graveler zeigt alle Merkmale eines schnellen Aero-Renners. Und Gravelbikes mit Federgabel, Dämpfer, absenkbarer Sattelstütze und Ähnlichem sieht man auch immer mehr. Die Aufgabe für uns lautet, diese Räder in unsere Testabläufe zu integrieren und Kriterien festzulegen, um, wie bei allen anderen Rädern auch, transparente, vergleichbare und reproduzierbare Testergebnisse zu erzielen.

TOUR: Du bist selbst begeisterter und langjähriger Rennradfahrer; welche Räder haben dich aus Nutzersicht in diesem Jahr besonders beeindruckt?

Allwang: Meine Highlights des Modelljahres 2022 waren das neue Scott Foil und das BMC Kaius. Das Foil hat mich durch eine fühlbar überragende Aerodynamik angefixt, die einfach fasziniert, selbst wenn es vielleicht nicht das Alltags-Rennrad ist, mit dem man auch mal gemütliche Runden drehen möchte. Ich bin damit ein Einzelzeitfahren gefahren und hab das familieninterne Duell gegen meinen recht fitten Sohn gewonnen - das Rad muss also schnell sein ... Das BMC Kaius ist ein Gravelbike, wie ich es mir wünsche: sportliche Sitzposition und trotzdem viel Komfort. Die Geschwindigkeit, die darauf leicht zu erreichen ist, macht einfach Spaß. Das Rad erzielt sehr gute, aber keine herausragenden Messergebnisse. Das Gesamtkonzept und die Formensprache sind hier das, was richtig Vorfreude auf die nächste Fahrt macht.

TOUR: Die technische Entwicklung des Rennrads schreitet unaufhörlich voran. Wie bewertest du die jüngsten Innovationen wie Scheibenbremsen, breitere Reifen, Tubeless und elektronische Schaltungen aus Nutzersicht und aus deiner beruflichen Sicht als Labor- und Werkstattleiter?

Allwang: Die Entwicklungen gehen grundsätzlich in eine gute Richtung und machen die Rennräder besser. Besser bedeutet in diesem Sinne: schneller, komfortabler, bequemer zu bedienen und den Bedürfnissen der Fahrerin oder des Fahrers angepasst. Das heißt aber nicht, dass der Weg zum idealen Rad einfacher geworden ist, eher im Gegenteil. Der Markt wird immer unübersichtlicher, und die Liefersituation bei vielen Rädern ist immer noch dramatisch schlecht. Hinzu kommt: Ohne Fachkenntnisse und Spezialwerkzeug ist es immer schwieriger, ein modernes Rad selbst zu warten; schon die feine Anpassung der Sitzposition ist an vielen aktuellen Rennrädern deutlich schwieriger als noch vor einigen Jahren. Auch wenn es kein Hexenwerk ist: Den Seilzug einer Felgenbremse richtig einzuziehen und zu klemmen, trauen sich immer noch mehr Hobbyschrauber zu, als das hydraulische Scheibenbremssystem mit giftiger DOT-Bremsflüssigkeit blasenfrei zu entlüften. Die Teile moderner Systeme sind meist weniger selbsterklärend, benötigen mehr Präzision und Fachwissen bei der Justage und können nur bedingt selbst repariert werden. Elektronische Schaltungen funktionieren entweder perfekt oder gar nicht. Bei Fehlern hilft die App als Werkzeug meist weiter als eine Zange. Und wenn der Fehler gefunden ist, muss trotzdem oft das ganze Bauteil ersetzt werden.

Tubeless-Reifen sind schnell und weniger pannenanfällig, aber im Vergleich zum klassischen Reifen mit Schlauch ist die Handhabung bei Installation oder Reparatur um ein Vielfaches aufwendiger und schwieriger. Ein Plattfuß beim Tubeless-Reifen unterwegs auf der Tour, den ich am Straßenrand auf Schlauch umrüsten muss, ist selbst für mich ein Albtraum. Da kann der Spaß schnell mal flöten gehen.

Außerdem muss man immer den Ladestand der diversen Akkus der elektronischen Ausstattung im Blick behalten; der schnelle Laufradtausch von einem Rad aufs andere ist mit Scheibenbrems­laufrädern auch nicht mehr so einfach. Gleichzeitig kosten elektronische und hydraulische Komponenten mehr Geld und ziehen höhere Folgekosten bei ­Service und Ersatzteilen nach sich. Der Radsport mit modernem Material ist im Vergleich zu den analogen Zeiten spürbar teurer geworden.



TOUR: Gibt es technische Neuerungen, die du als Fehlentwicklung bezeichnen würdest? Oder die zumindest dringend der Überarbeitung oder weiteren Entwicklung und Verbesserung bedürfen?

Allwang: Schwierige Frage. Rennradtechnik, die dem Tour-de-France-Profi die entscheidenden Sekunden Vorsprung bringt, oder den Hightech-Tubeless-Reifen, der noch mal ein paar Watt spart, kann man wohl nicht als Fehlentwicklung bezeichnen. Diese Systeme funktionieren aber nur dann gut, wenn sich ein Profi-Mechaniker intensiv und regelmäßig damit beschäftigt. Insofern stellt sich die Frage, ob das für den Massenmarkt die richtige Entwicklung ist. Wenn der Hobbyradsportler es akzeptiert, dass er seine Rennmaschine zum hoch spezialisierten Mechaniker bringen muss, und bereit ist, die Kosten dafür zu tragen; wenn es normal wird, sich bei einer Reifenpanne unterwegs abholen zu lassen statt selbst zu flicken; wenn es akzeptiert wird, dass die Verstellung oder der Austausch von Vorbau und Lenker am komplexen Fahrzeug Rennrad mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann, dann möchte ich nicht von einer Fehlentwicklung sprechen. Andererseits erlebe ich im Freundeskreis, wie “unmontierbare” Reifen per Seitenschneider von der Felge geschnitten werden, höre von Händlern, die mit ihren Kunden nur noch über die horrende gestiegenen Servicekosten diskutieren. Das erweckt den Eindruck, als orientiere sich die technische Entwicklung nicht an den Erwartungen und Bedürfnissen der großen Mehrheit der Radsportler in Sachen Nutzerfreundlichkeit. Hier hätte die Industrie eine große Chance, dem Endverbraucher Optionen anzubieten, bei denen er sich zwischen dem technisch Machbaren und einer servicefreundlicheren Variante entscheiden kann.

Steckbrief Christoph Allwang

Christoph Allwang leitet Testlabor und Werkstatt der Fahrradmagazine des Delius Klasing Verlags seit 2015. Der 52-jährige passionierte Radsportler arbeitete zuvor beim Komponentenhersteller SRAM und betrieb davor ein Radsportgeschäft. Der verheiratete Familienvater mit zwei Kindern fährt ca. 10000 Kilometer im Jahr auf Renner, Crosser und Mountainbike.

  Moderne Rennräder mit integriertem Cockpit erfordern auch vom Profi viel Zeit zur Montage und Wartung Foto: Kerstin Leicht
Moderne Rennräder mit integriertem Cockpit erfordern auch vom Profi viel Zeit zur Montage und Wartung

TOUR: Wenn du mit deiner Erfahrung als Nutzer und aus TOUR-Labor und -Werkstatt die Entwicklung von Rennrädern beeinflussen könntest, welche Richtung, welche Details würdest du in den Vordergrund stellen?

Allwang: Ich würde auf Möglichkeiten drängen, die eine einfache und feine Einstellung von Sattelhöhe, Sattelposition sowie Lenker- und Vorbauposition erlauben. Die perfekte Sitzposition ist meines Erachtens immer noch der Garant für das Wohlbefinden auf dem Rad. Die nur schwierig oder grob verstellbaren Sättel und Lenker halten viele davon ab, ihre Sitzposition in kleinen Schritten immer weiter zu optimieren.

TOUR: Was fährst du aktuell für ein Rennrad?

Allwang: Sehr häufig fahre ich Räder aus dem TOUR-Test-Pool. Privat besitze ich noch ein Cannondale SuperSix, Modelljahr 2013. An dem Rad kann ich aber keine aktuellen Teile mehr testen. Es hat noch eine mechanische Elffach-Schaltung und Felgenbremsen. Ich bin aber dringend auf der Suche nach einem Nachfolger. Heißeste Kandidaten sind das Rose X-Lite 6 und das Simplon Pride II.

TOUR: Welche Kriterien zeichnen das Rennrad aus, für das du dein derzeitiges Rad in Rente schicken würdest?

Allwang: Deutlich bessere Aerodynamik, aerodynamische Laufräder. Scheibenbremsen. Elegantes Design.

TOUR: Gibt’s für dich ein No-Go am Rennrad?

Allwang: Lenkertaschen, Oberrohrtaschen oder Rahmentaschen gehören nur ans Rennrad, wenn man mindestens drei Tage allein auf sich gestellt unterwegs ist. Und steil nach oben gerichtete Vorbauten sind keine Option, die falsche oder verpfuschte Sitzposition retten zu wollen. Plattformpedale und bunte Reifen haben an einem Rennrad nichts verloren. Aber da kommen wir schon sehr in den Bereich des persönlichen Geschmacks, da will ich nicht für andere sprechen. Ich finde auch, dass ein Mountainbike-Helm mit Visier oder ein Skater-Helm auf dem Rennrad komisch aussehen. Ebenso wie lange Kompressions-Strümpfe. Oder gar keine Socken ...

TOUR: Welche Tipps gibst du TOUR-Lesern, die sich für ein neues Rennrad interessieren? Worauf sollen sie beim Kauf besonders achten?

Allwang: Geht mit euren Erfahrungen und Erwartungen und viel Zeit zu einem renommierten Bikefitter, erarbeitet euch mit dem zusammen eure optimale Sitzposition und kauft dann ein Rad, bei dem diese Position möglich ist und welches auch sonst zu mindestens 90 Prozent eure Wünsche erfüllt. Leistet euch eher einen Tick mehr, als ihr ursprünglich geplant habt; die Freude an einem viel genutzten, passenden und dann auch noch schönen Rennrad ist es wert.

TOUR: Wie überwinterst du als passionierter Radsportler?

Allwang: Skilanglauf, wann immer es die Bedingungen zulassen. Aufs Rad, wenn die Straßen und Wege nicht salzig oder eisig sind. Auf Zwift, wenn die Zeit knapp ist oder das Wetter ganz gruselig. Und Joggen, wenn alle anderen Optionen nicht möglich sind.