Jörg Spaniol
· 31.05.2022
Ein Gravelbike - wer braucht denn so was? Wir haben drei neugierige Skeptiker gebeten, die ganze Bandbreite der Schotterräder auszuprobieren: Sie reicht vom ungefederten Mountainbike bis zum Rennrad mit dicken Stollenreifen. Am Ende der Hatz hatte das Gravelbike neue Freunde. Im Prinzip jedenfalls.
Eigentlich muss man Lukas Koller nicht zum Radfahren überreden. Eher vielleicht dazu, es nicht zu tun: Lukas fährt etliche tausend Trainingskilometer im Jahr, und wenn es irgendwo einen spannenden Mountainbike-Marathon gibt, nimmt er den auch gerne mit. Aber heute schleicht er ein wenig unentschlossen durch den Fuhrpark. In der Garageneinfahrt der Kollers stehen drei Räder, die ihn ins Grübeln bringen. Welches nehmen? Auch sein Vater Andreas und sein Kumpel Florian fremdeln noch mit dem Material.
Dabei macht das richtig was her. Gravelbikes sind eine Radgattung, mit der die drei bislang wenig zu tun hatten. Und was hier zur Testfahrt bereitsteht, dürfte viele Radler in Versuchung führen: Ein klassisches Gravelbike aus der verkaufsstarken 2000-Euro-Klasse, ungefedert, robust und spurtstark. Außerdem ein federleichtes Hardtail-Mountainbike mit starrer Carbongabel und schnellen Reifen - sicher Overkill für den Stadtpark, aber schon optisch mit Reserven im leichten Gelände. Dazu kommt eine etwa 7000 Euro teure Schottermaschine mit allem Schnickschnack.
Alles aus Carbon, ausgestattet mit funkgesteuerter Schaltung, versenkbarer Sattelstütze und filigraner Federgabel. Zweimal Rennlenker, einmal Mountainbike-Turnstange. Die Bandbreite dessen, was Renn- und Genussfahrer auf Naturstraßen bewegen.
Dass keiner der drei je ein Gravelbike gefahren ist, erschwert die Wahl. Dabei könnte ihnen das erste Rad des Tages eigentlich egal sein, denn sie werden unterwegs durchwechseln. Am Ende soll jeder jedes Konzept einschätzen können. Lukas, der sich die Strecke ausgedacht hat, entscheidet sich als Erster: Die Hightech-Ausstattung des gefederten Carbon-Salsa macht ihn neugierig. Als nächstes greift sich sein Vater Andreas die Vernunft-Variante von Rose.
Er hat sich vor einiger Zeit zusätzlich zum Mountainbike ein Rennrad zugelegt und brennt jetzt darauf, die Möglichkeiten des vermeintlich ähnlichen Schotter-Renners zu checken. Für Florian, der überwiegend Rennrad fährt, bleibt in der Startaufstellung das überraschenderweise leichteste Testbike, das ungefederte Carbon-MTB. Als trainiertem Biathleten steht ihm der breite Lenker gut zu Gesicht.
Eine ziemlich abwechslungsreiche Runde hat Lukas über die Schwäbische Alb gelegt. Etwa 80 Kilometer lang, gute 1000 Höhenmeter Anstieg. Mit Schotter, Asphalt, einigen Metern Singletrail und durchgängig so autofrei, dass die Testfahrer ins Material reinspüren können. Zum Aufwärmen geht es auf hoppeliger Teer- und Forststraße lange und steil aus dem Tal auf die Alb-Hochfläche.
Die drei kennen sich so gut, dass die männerüblichen Formtests ausbleiben. Durchschalten, letzte Korrekturen an der Sattelhöhe, und schon ist die erste klassische Schottermeile erreicht.
Was die Schwaben oben am Hohenneuffen angelegt haben, ist allerdings so fein geglättet wie ein Schlosspark. Je schnörkelloser ein Rad hier ist, desto leichter rollt es. Einmal kurz im Wiegetritt antreten, ein gespielter Sprint, und Andreas grinst zufrieden über dem Lenker seines Mainstream-Gravelbikes. Lukas’ Federgabel hat zwar kaum gepumpt, aber irgendwie fühlte sich das Rad durch den flacheren Lenkwinkel im Wiegetritt nicht so toll an. Und Florian? Hält sich vornehm zurück. Den Grip der breiten Mountainbike-Schlappen kann er auf dem gepflegten Kiesweg ohnehin nicht ausreizen.
Die drei Testfühler sind etwa gleich groß, daher passen die Bikes prinzipiell. Florian, der Biathlet, übernimmt das gefederte Salsa-Gravelbike, Andreas passt das Mountainbike seinen Maßen an, Lukas setzt sich auf den schnörkellosen Gravel-Allrounder von Rose. Die Oberflächen wechseln zwischen Betonplatten auf dem “Astrolehrpfad”, schwäbischem Premiumschotter und einem spaßigen Wiesenpfad. Klar, dass die mehr als sechs Zentimeter breiten Tubeless-Schlappen des Mountainbikes auf dem Pfad am meisten Spaß machen.
Doch der Triumph währt nicht lange. Auf der leicht abschüssigen Teerstraße eines ehemaligen Truppenübungsplatzes soll der Wettstreit der Systeme um einen “Roll-Down-Test” ergänzt werden. Dazu rollen die drei nebeneinander, ohne zu treten, jeweils mit der Hand auf der Schulter des Nebenmannes, um garantiert auf gleichem Niveau zu starten. Dann trennen sie sich und rollen im Spannungsfeld von Schwerkraft, Roll- und Luftwiderstand weiter. Nach 200 Metern haben Florian und Lukas mit den Rennlenkern deutlich Vorsprung. Das 29-Zoll-Hardtail bleibt zurück. Andreas hat es deshalb für sich und die Strecken der Alb aussortiert: “Also, da sehe ich die Nische nicht”, sagt er. “Man sitzt drauf wie auf einem Crosscountry-Mountainbike. Es rollt auch nicht leichter. Aber sobald der Boden gröber wird, fehlt mir die Federgabel.”
Lukas, der Streckenscout, fährt voraus und führt die Truppe schließlich an die Kante der Alb. Ein letzter Radtausch - und dann geht’s bergab. Die Abfahrt vom Beurener Fels ist schmal, aber technisch einfach. Mountainbiker würden die Schwierigkeit vielleicht mit dem unteren Grad “S1” bewerten und die 200 Tiefenmeter entspannt wegbremsen. Doch ohne Federgabel und schmal bereift hämmert der Untergrund in die Handgelenke, und immer wieder rutscht das Hinterrad. Spaß geht definitiv anders.
Unten ist gerade noch genug Sonne, um die Räder auf die Wiese zu legen und einen Strich unter die jeweiligen Gravelbike-Erfahrungen zu ziehen. Florian hat die Abfahrt zwar sturzfrei überstanden, aber die Grenzen des Materials gespürt: “Dafür gibt’s eine andere Art Fahrrad”, sagt er. “Man nennt es Mountainbike.” Andreas, der Senior im Team, fasst seine Erfahrungen fast werbetauglich zusammen: “Ein Bekannter hat mir ständig von seinem Gravelbike erzählt. Ich dachte, das ist doch eher überflüssig, wenn man den Keller schon mit Mountainbikes und Rennrädern voll hat. Aber ganz ehrlich: Es macht Spaß. Auf den Wegen hier würde mir das Ungefederte völlig reichen. Das rollt erstaunlich gut auf allen Untergründen. Ob es aus Carbon ist und alle möglichen Features hat, ist mir eigentlich egal.”
Und so rückt einmal mehr die Formel für die angemessene Größe des persönlichen Rad-Fuhrparks in den Vordergrund. Sie lautet: X plus eins.
Info: www.rosebikes.de*
Gewicht Rahmen/Gabel/Steuerlager*: 1811/460/91 Gramm
Rahmengrößen**: 46, 49, 51, 53, 55, 57, 59, 61, 64
Sitz-/Ober-/Steuerrohr: 498/560/199 mm
Stack/Reach/STR***: 623/372 mm/1,67
Radstand/Nachlauf: 1040/ 71 mm
Antrieb: Shimano GRX 600 (32-46, 11-42 Z.)
Bremsen: Shimano GRX 400 (160/160 mm)
Schaltung: Shimano GRX 600 2x11
Laufräder/Reifen (Gewichte)****: DT Swiss P 1850 Spline/ Schwalbe G-One Bite 40-622 (v./h.: 1661/2287 Gramm)
Gabel: Rose Backroad Carbon mit Gewindeösen
Sattel/Stütze: Selle Italia X3/ Rose Race Attack Alu
+ sehr vielseitig, feine Gangabstufung
- eingeschränkter Fahrkomfort auf gröberem Untergrund
Mit Rädern wie diesem hat Rose schon relativ früh den aufkommenden Gravelbike-Trend befördert. Zweifach-Schaltgruppe und Lenkerform sind dicht an den Komponenten herkömmlicher Rennräder. Der Alu-Rahmen spart gegenüber Carbon reichlich Budget, das Rose in eine ausgewogene, sehr funktionale Ausstattung investiert hat. Dank seines günstigen Preises ist das Backroad AL* sowohl ein attraktives Zweitrad für engagierte Mountainbiker und Rennradler als auch ein gut mit Vollausstattung aufrüstbares Alltags- oder Tourenrad. Die Sitzposition ist eher auf der gemütlichen Seite, doch das Lenkverhalten bleibt lebendig.
Info: www.cosmicsports.de
Gewicht Rahmen/Gabel/Steuerlager*: 1041/1250/60 Gramm
Rahmengrößen**: 49, 52,5, 54,5, 56, 57,5 cm
Sitz-/Ober-/Steuerrohr: 476/565/160 mm
Stack/Reach/STR***: 596/369 mm/1,62
Radstand/Nachlauf: 1040/81 mm
Antrieb: SRAM Force XPLR (38, 10-44 Z.)
Bremsen: SRAM Force (160/ 160 mm)
Schaltung: SRAM Force XPLR AXS
Laufräder/Reifen (Gewichte)****: Zipp 101 XPLR/ Zipp G40 XPLR 40-622 (v./h.: 1493/2011 Gramm)
Gabel: Rockshox Rudy, 30mm Federweg, Luftfederung
Stütze: Rockshox Reverb 50 AXS Teleskopstütze, 50mm Hub
+ verbesserter Langstreckenkomfort, erhöhte Sicherheit in technisch schwierigen Passagen
- weniger agiles Lenkverhalten, finanzieller und technischer Aufwand, etwa ein Kilo Mehrgewicht
Die Kategorie “gefedertes Gravelbike” belegt in Deutschland nach wie vor eine sehr schmale Nische. Das Salsa ist ein Einzelaufbau mit der SRAM-XPLR-Gruppe. Während wir die nur fünf Zentimeter absenkbare Stütze unterwegs verzichtbar finden, kann die gut 1,2 Kilo schwere Federgabel der Konzernmarke Rockshox mit gutem Ansprechverhalten auf langen Rüttelstrecken Hände und Arme entlasten. Doch sie macht das Rad gegenüber einer Starrgabel 500 bis 800 Gramm schwerer und die Lenkung träge. Nach Herstellerangaben wurde sie in erster Linie für US-Langstreckenrennen auf Naturstraßen entwickelt.
Info: www.vpace.de
Gewicht Rahmen/Gabel/Steuerlager*: 1135/647/74 Gramm
Rahmengrößen**: S, M, L, XL
Sitz-/Ober-/Steuerrohr: 483/630/115 mm
Stack/Reach/STR***: 617/447 mm/1,38
Radstand/Nachlauf: 1112/83 mm
Antrieb: SRAM GX Eagle (34, 10-52 Z.)
Bremsen: Magura MT8 Pro (180/160 mm)
Schaltung: SRAM GX Eagle (38/ 10-52 Z.)
Laufräder/Reifen (Gewichte)****: VPace Duke/ Wolfpack TLR Race/Speed 29 x 2,4“ (v./h.: 1651/2154 Gramm)
Gabel: Starrgabel VPace C2FK Carbon
Sattel/Stütze: Selle Italia X-LR Air Cross Superflow/VPace XSL
+ souveränes Handling, relativ hoher Komfort, Custom-Aufbau möglich
- erhöhte Fahrwiderstände, nur eine Griffposition
Ähnlich selten wie Gravelbikes mit Federgabel sind Mountainbikes ohne Federgabel. Beim sehr leichten Einzelaufbau von VPace kommen sich die Radgattungen Gravel- und Mountainbike relativ nahe: Gewicht und Radgröße ähneln sich. Doch die kürzer ausgelegte Übersetzung, die gröberen Reifen und der breite, gerade Lenker kosten auf schnellen, glatten Flachpassagen deutlich Kraft. Auf guten Forststraßen läuft das VPace dagegen souverän, auf leichten Hoppelstrecken bringt verringerter Reifendruck etwas Komfort und Grip. Doch unsere Mountainbike-gewohnten Tester vermissten dann doch die Federgabel ...
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe, Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach): 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine sehr aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
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