Damit hatte Matej Mohorič am allerwenigsten gerechnet. Zwar dominierten die Straßenprofis auch bei der zweiten Auflage der Gravel-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr. Doch dass es der Slowene, in Diensten des World-Tour-Teams Bahrain-Victorious, gleich bei seinem ersten Renneinsatz im Gelände aufs oberste Treppchen schafft, kam auch für ihn überraschend. Und für Merida.
Schließlich hatte Mohorič das Merida Silex unterm Hintern – ein Gravelbike, das der taiwanische Hersteller erst wenige Tage nach dem WM-Coup offiziell vorstellte, als “verlässlichen Begleiter für Bikepacking und Fahrradabenteuer”. Zudem vermarkten die Asiaten eigentlich das Scultura Endurance GR, das auf der Eurobike 2023 das Licht der Welt erblickte, als Geländerad mit Rennambitionen. Warum also wählte der Bahrain-Profi das überarbeitete Silex? Sind sich die beiden Gravelbikes doch ähnlicher, als es ihre Positionierung im Markt vermuten lässt?
Das von Mohorič gefahrene Merida Silex hat bis auf das Rahmen-Set nicht viele Gemeinsamkeiten mit dem Scultura. Vielmehr ähnelte der Aufbau mit straßentauglichen Komponenten, Laufrädern und Cockpit dem Scultura Team, das der 29-Jährige durchs Straßenpeloton pilotiert. Dennoch: Bis zur Gravel-WM in Norditalien wären Rennen auf dem Silex kaum vorstellbar gewesen; das seit fünf Jahren angebotene Modell war klar auf Komfort ausgelegt und der Lenker so hoch, dass man sich kaum rennmäßig übers Cockpit beugen konnte.
Das Update bringt den Fahrer nun in eine gestrecktere Position, die mit der auf aktuellen Marathonrädern vergleichbar ist. Überraschend: Auf dem Scultura Endurance GR 8000 sitzt man etwas aufrechter, da der Rahmen inklusive der Lenker-Vorbau-Kombi kürzer ausfällt. Der geländegängige Ableger des gleichnamigen Endurance-Modells (siehe TOUR 1/2021) rollt dafür wendiger über Schotterpisten. Die Erklärung zeigt sich am Geometrieprüfstand: Während das Scultura typische Werte eines langstreckentauglichen Rennrads erreicht, kommt das Merida Silex selbst für spurtreue Bikepacking-Modelle auf extreme Kennzahlen beim Gabelnachlauf (79 Millimeter), Lenkwinkel (69,5 Grad) und Radstand (1080 Millimeter).
Das agilere Fahrverhalten des GR 8000 basiert auch auf den schmalen Pneus. Die 38 Millimeter breiten Noppenreifen von Continental rollen schneller als die voluminösen Maxxis am Markenbruder. Dafür schluckt das Silex Unebenheiten im Gelände souveräner und bewältigt durchweichtes Geläuf besser. Die zehn Millimeter breiteren Gummis sind überdies tubeless montiert, was einen geringen Reifendruck erlaubt und das Bike spürbar besser federn lässt. Insgesamt bieten beide Räder, die serienmäßig die zulässige Reifenfreiheit ausreizen, ein gutes Federungsniveau.
Die Komfortmesswerte der Rahmen-Sets liegen fast gleichauf, wobei sich das Silex am Heck sogar minimal härter präsentiert. Der Grund: Merida steckt in das Top-Modell eine funkgesteuerte Vario-Stütze von SRAM, die in technischem Gelände zwar die Fahrsicherheit erhöht, aber etwas weniger Flex bietet als die Carbonstütze mit 15 Millimetern Versatz im Scultura.
Zum Patt kommt es beim Gewicht. Das abenteuertaugliche Merida Silex zählt zu den leichteren Bikepacking-Experten, nicht selten ufern die Gewichte der robusten Räder mit vielen Anschraubpunkten für Gepäck und Schutzbleche auf deutlich über neun Kilogramm aus. Das Scultura fällt gegenüber vergleichbaren Race-Modellen wiederum recht schwer aus. In der noch jungen Spezialkategorie der Renn-Gravelbikes stellt die Konkurrenz bereits Räder unter acht Kilogramm auf die Reifen.
Neben dem robusten Carbonrahmen macht sich an der Waage die einfache Lenker-Vorbau-Kombi aus Aluminium bemerkbar. Angesichts der flachen Carbonfelgen ist auch der Merida-Laufradsatz vergleichsweise schwer. Obwohl sich im Offroad-Segment Antriebe mit einem Kettenblatt etabliert haben, geht Merida beim GR 8000 einen eigenen Weg und schraubt die Force AXS ans Rad, eine elektronische Zweifach-Straßengruppe von SRAM. Im Vergleich zu Bikes mit Gravelkomponenten ist die Übersetzung größer und lädt zu Tempojagden über die Schotterautobahn ein.
Im krassen Kontrast dazu steht der SRAM-Komponenten-Mix am Silex, der Rennradkurbel mit Mountainbike-Schaltwerk und -kassette mit riesiger Bandbreite kombiniert. Damit können steile Anstiege auch mit Gepäck bewältigt werden. Wie viel Druck man dabei auf die Pedale bringt, lässt sich dank eines im Kurbelstern integrierten Leistungsmessers kontrollieren. Die Sprünge zwischen den Gängen sind recht groß, im größten Gang braucht es eine höhere Trittfrequenz, um mit dem Scultura mithalten zu können.
Auf maximalen Speed ist das Merida Silex als Bikepacking-Spezialist aber auch gar nicht aus. Stattdessen unterstreichen sechs Montagepunkte für Taschen, Werkzeugbox, Schutzbleche und Trinkflaschen – am Unterrohr mit magnetischer Fidlock-Halterung – die Abenteuertalente des Silex. An den ebenfalls überarbeiteten Modellen mit Aluminiumrahmen lässt sich zusätzlich ein Gepäckträger anbringen. Das Rahmen-Set aus Carbon ist für maximal 120 Kilogramm freigegeben.
Damit das 10K auch bei voller Zuladung schnell verzögert, sind Bremsscheiben mit 180 Millimeter Durchmesser montiert – in dieser Rad-Kategorie ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Kühlrippen sollen vor Überhitzung schützen. Ein Detail, das auch das Scultura auszeichnet. Weitere Gemeinsamkeit ist ein Mini-Tool unterm Sattel, das nach einem gepflegten Ritt durch den Schlamm jedoch in der Halterung feststeckt und unbrauchbar wird. Ansonsten zeigt sich das GR 8000 spartanisch, lediglich Schutzbleche lassen sich nachrüsten.
Neben viel Matsch an den Rädern nach den Testfahrten bleibt die Erkenntnis übrig, dass beide Räder kurzweilige Geländefahrten erlauben und mit ihrer unterschiedlichen Ausrichtung ein großes Spektrum abdecken: Das Silex nimmt auch anspruchsvolles Terrain unter die Reifen und ist ein treuer Reisebegleiter. Das Merida Scultura lässt trotz des etwas hohen Gewichts eine schnellere Gangart auf wechselnden Belägen zu. Mit 5499 Euro ist das Allroad-Bike, das inzwischen nur noch in silberner Lackierung erhältlich ist, vergleichsweise fair kalkuliert.
Für das Silex werden 4100 Euro mehr fällig. Der satte Aufpreis hat viele Interessenten jedoch nicht vom Kauf abgehalten: Wie Merida mitteilt, wurde die limitierte Edition schon abverkauft. Zur nächsten Ausstattungsvariante Silex 7000 (3249 Euro) klafft technisch wie preislich eine riesige Lücke. Die Pressemappe liefert allerdings ein interessantes Detail: Darin ist ein Silex 8000 (5499 Euro) gelistet, das laut Hersteller noch nicht präsentiert werden kann, da “die Parts noch unter Embargo” stehen. Nach der mechanischen Zwölffach-GRX scheint damit die elektronische Version von Shimanos neuer Gravel-Gruppe in den Startlöchern zu stehen.
Beide Räder erlauben kurzweilige Geländefahrten. Das Silex ist klar vielseitiger als das Scultura. - Julian Schultz, TOUR-Testredakteur.
In einer ersten Version erhielt das Merida Silex 10K die TOUR-Gesamtnote 2,2. Diese basierte fälschlicherweise auf der Bewertung eines Marathonrads, wodurch sich eine schlechtere Einzelnote für das Gewicht ergab. Mit der Bewertung als Gravelbike erzielt das Silex die Einzelnote 2,7 für das Gewicht und verbessert sich dadurch auf die TOUR-Note 1,9. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.