Julian Schultz
· 06.08.2023
Das Wettkampfrad der US-Amerikaner, das 2005 in Form des S-Works E5 auf den Markt kam, zählt seit Jahren zu den besten Rennmaschinen der Welt. Im TOUR-Test ist das S-Works Tarmac SL7 eines von nur vier Modellen, das sich bislang die Bestnote 1,4 verdiente. Durch Top-Leistungen in den vier wichtigsten Kategorien: Gewicht, Aerodynamik, Komfort und Steifigkeit. Specialized will dem Ganzen mit dem Nachfolger eins obendrauf setzen: Das neue Specialized Tarmac SL8 soll “das schnellste Rennrad der Welt” sein. In Testlabor und Windkanal konnten wir das zwar noch nicht überprüfen, auf unserer ersten Testfahrt in Glasgow deutete die Neuheit ihr Potenzial aber bereits eindrucksvoll an.
Wie schon beim drei Jahre alten Vorgänger wählte der Fahrradbauer aus Morgan Hill/Kalifornien auch in der Entwicklung der neuesten Generation des Tarmac einen ganzheitlichen Ansatz. Heißt: Das Specialized Tarmac SL8 bleibt ein Race-Allrounder, der geringes Gewicht und bestmögliche Aerodynamik vereint. Damit soll es wie das SL7, das meistgefahrene Modell im Profi-Peloton, sowohl schnelle Flachetappen als auch steile Pässe bewältigen. Specialized war mit dieser Strategie der Vorreiter in der Branche. Weil die Konkurrenz aber ebenfalls nicht schläft und in den vergangenen Jahren aufholte, büßte das Original etwas von seinem Alleinstellungsmerkmal ein.
Um die alte Rangordnung wiederherzustellen, orientierte sich Specialized am Leichtbaumodell Aethos und setzte das Specialized Tarmac SL8 auf Diät. Für den S-Works-Rahmen (Größe 56) nennen die US-Amerikaner ein Gewicht von lediglich 685 Gramm. Das sind rund 100 Gramm weniger als beim SL7. Auch die einfachere Version des Carbonrahmens ist mit 780 Gramm bemerkenswert leicht - und könnte es ebenfalls locker mit Profi-Material anderer Hersteller aufnehmen. Cannondale beispielsweise gibt für den High-End Rahmen des neuen SuperSix Evo Lab71 ein Gewicht von 770 Gramm an. In Summe soll die leichteste Ausbaustufe des S-Works Tarmac SL8 unter dem UCI-Gewichtslimit liegen und 6,6 Kilo wiegen. Die “schwerste” Ausstattungsvariante ist laut Herstellerangaben rund 1200 Gramm schwerer.
“Je steiler ein Anstieg, desto wichtiger ist ein leichtes Rad. Man spürt es wirklich”, sagt Top-Star Remco Evenepoel über sein neues Arbeitsgerät: “Es kann einen Unterschied von ein oder zwei Sekunden machen - das kann reichen, um ein Rennen zu gewinnen”, ergänzt der Belgier, der wie sein dänischer Quickstep-Teamkollege Kasper Asgreen eng in den Entwicklungsprozess involviert war. “Wir haben jetzt eine Plattform, von der wir wissen, das sie auf vielen Terrains funktioniert”, so Asgreen. Das Duo startete das WM-Straßenrennen wie Julian Alaphilippe (Frankreich), Sam Bennett (Irland) und Peter Sagan (Slowakei) auf dem neuen Specialized Tarmac SL8.
Neben einem leichten Rennrad kommt es am Berg auch auf die aerodynamische Leistung an. Das zeigen Simulationen auf Basis unserer Windkanal-Tests in Immenstaad - und das zeigt auch Specialized mit dem neuen Tarmac auf. Insgesamt soll das Specialized Tarmac SL8 auf 40 Kilometer fast 17 Sekunden schneller als der Vorgänger sein. Für den durchschnittlich 7,3 Prozent steilen und 17,1 Kilometer langen Anstieg zum Col du Tourmalet soll das neue Specialized 20 Sekunden weniger brauchen. Auf dem 294 Kilometer langen Kurs von Mailand-San-Remo mit welligem Finale nimmt das SL8 dem Vorgänger laut Herstellerangaben mehr als zwei Minuten ab. Kurzum: Die neue Rennmaschine ist das schnellste Specialized, das jemals in Kalifornien entwickelt wurde. Noch vor dem Aero-Modell Venge, das bis 2018 gebaut wurde und im TOUR-Test auf 207 Watt bei 45 km/h kam.
Damit will der US-Hersteller die Lücke zum Top-Material wieder verkleinern, was gleichbedeutend mit der Rückkehr unter die Top Ten der schnellsten Serienräder im TOUR-Test wäre. Mit 210 Watt bei 45 km/h musste das SL7 in den vergangenen Monaten nicht nur gegenüber Aero-Spezialisten wie Canyon Aeroad oder Cervélo S5 (beide 202 Watt) abreißen lassen, sondern wurde auch von vergleichbaren Race-Allroundern wie dem Cannondale SuperSix Evo Hi-Mod 2 (207 Watt) oder dem in TOUR 7/2023 getesteten Van Rysel RCR Dura-Ace Di2 (207 Watt) verdrängt.
Specialized verzichtete beim Aero-Tuning bewusst auf flächige Rohrformen, die das neue UCI-Reglement inzwischen erlaubt: “Ein tiefes Unter- und Sitzrohr sehen vielleicht aerodynamisch aus. Wegen der Luftverwirbelungen an diesen Stellen des Rahmens bringen sie aber nur verschwindend geringe Aerodynamik-Vorteile, beeinträchtigen jedoch Gewicht und Fahrqualität erheblich.” Stattdessen konzentrierten sich die US-Amerikaner auf Details. “Wir wollten die Charakteristiken des SL7 und Aethos in einem neuen, großartigen Modell vereinen”, so Chefingenieur Peter Denk aus Freiburg.
Allein das neue Aero-Cockpit vom hauseigenen Komponentenspezialisten Roval soll vier Watt gegenüber der Lenker-Vorbau-Kombi des Vorgängers einsparen. Auffälligstes Bauteil ist das Steuerrohr, das die US-Amerikaner launig als “Speed Sniffer” (dt.: Geschwindigkeits-Schnüffler) oder “Nose Cone” (dt.: Raketenspitze) bezeichnen. Die physikalische Erklärung hinter der ungewohnten Form: Durch die Ausbeulung an der Vorderseite des Lenkkopfes soll der Luftstrom effektiver um Rahmen und Fahrer geleitet werden. Die filigrane Aero-Sattelstütze und das schlanke Sitzrohr dürften ebenfalls helfen, den Luftwiderstand des Renngeräts zu reduzieren.
Weil das Tuning bei Gewicht und Aerodynamik nicht viel wert ist, wenn sich das Tarmac bretthart fährt, hat der US-Konzern - natürlich - auch an Komfort und Steifigkeiten gedacht und laut eigener Aussage signifikante Fortschritte erzielt. Speziell der Stiffness-to-Weight-Faktor (STW), der die Lenkkopfsteifigkeit ins Verhältnis zum Gewicht setzt, soll um mehr als 30 Prozent besser als beim SL7 sein. Für mehr Federkomfort, laut Specialized ein Plus von sechs Prozent, zeichnet die neu-konstruierte Aero-Stütze verantwortlich. Schon das SL7 lag äußerst fahrstabil auf der Straße und federte für ein Wettkampfrad überdurchschnittlich gut.
Nachdem kurz vor der offiziellen Präsentation durch einen Leak Informationen durchgesickert waren, konnten wir unsere erste Testrunde rund um Glasgow kaum erwarten. Specialized stellte uns das Top-Modell S-Works Tarmac SL8 Di2 mit Shimanos Dura-Ace und schnellen Roval-Laufrädern zur Verfügung, auf dem man genauso rennmäßig wie auf dem Vorgänger sitzt. Das auf den ersten Blick aber nicht sonderlich schnell ausschaut. Denn flächige Rohrformen, wie man sie von windschnittigen Aero-Spezialisten kennt, finden sich am Specialized Tarmac SL8 nicht. Stattdessen steht ein Rennrad vor uns, das durch eine zurückhaltende und elegante Formensprache ohne viel Schnickschnack überzeugt.
Apropos überzeugt: Die Neuheit aus Kalifornien hielt bei unserer Runde um Glasgow, was die Entwicklungsabteilung im Vorfeld versprach. Das Specialized Tarmac SL8 hängt sowohl im Anstieg als auch in der Ebene exzellent am Gas und steuert Kurven präzise an. Der flächige Aero-Lenker liegt gut in der Hand und bringt den Fahrer in Aero-Position - ohne dabei extrem gestreckt auf dem Renner sitzen zu müssen. Einzig an längeren Anstiegen könnte die breite Auflagefläche am Oberlenker etwas überdimensioniert sein. Überraschend war der hohe Heckkomfort: Auf den durchaus rauen schottischen Straßen federte das Tarmac für ein Wettkampf-Rad exzellent. Neben der Carbon-Stütze auch ein Verdienst des komfortablen Power-Pro-Sattels aus dem 3D-Drucker. Wird das SL8 damit wieder die TOUR-Bestnote 1,4 erreichen oder als erstes Rennrad möglicherweise sogar die 1,3 erreichen? Unser Test in Labor und GST-Windkanal wird es zeigen.
Das von Specialized als “schnellstes Rennrad der Welt” angepriesene Tarmac SL8 wird in fünf Ausstattungsvarianten und verschiedenen Lackierungen erhältlich sein. Die beiden S-Works-Modelle basieren auf dem leichten Carbonrahmen (Fact 12r), sind mit One-Piece-Cockpit sowie Aero-Laufradsatz von Roval ausgestattet und kosten mit Shimano Dura-Ace Di2 bzw. SRAM Red AXS 14000 Euro. Kleine, nicht ganz ernst gemeinte Randnotiz: Damit sind die Top-Versionen 500 Euro “günstiger” als beim Tarmac SL7. Die übrigen Versionen mit rund 100 Gramm schwererem Carbonrahmen (Fact 10r) haben eine Lenker-Vorbau-Einheit, wobei das Basismodell Expert mit einem Alu-Lenker kommt. Mit Ultegra Di2, Force AXS oder Rival AXS werden zwischen 6500 und 9000 fällig.
Alle Modelle sind mit einem Powermeter (4iiii oder Quarq) ausgestattet. Die maximale Reifenfreiheit beträgt 32 Millimeter, ab Werk sind 26 Millimeter breite Pneus von Specialized aufgezogen. Durch den abnehmbaren Umwerfer kann das Tarmac mit Einfach-Antrieb gefahren bzw. aufgebaut werden. Das Rahmen-Set als Basis bietet der US-Hersteller für 4000 und 5500 Euro an.