Erlebt das Bergrad etwa eine Renaissance? Diese Frage drängt sich fast auf, nachdem in den vergangenen Monaten einige Neuheiten auf den Markt kamen, die sich vorwiegend durch geringes Gewicht definieren und sich um oder unter dem UCI-Gewichtslimit bewegen. Aktuellstes Beispiel ist das neue TCR, das Giant im Rahmen der Taipei Cycle Show offiziell der Weltöffentlichkeit präsentierte. Die zehnte Ausbaustufe soll in allen relevanten Kriterien Schritte nach vorne gemacht haben. Wie groß diese ausfallen, welche Faszination ein Wettkampfrennrad unter 6,8 Kilogramm auslöst und warum das Einsatzgebiet der Neuheit trotzdem beschränkt ist, zeigt unser Test des Top-Modells.
Im Zeitalter von Scheibenbremsen und Aero-Optimierung haben Leichtbaumodelle einen schweren Stand. Einerseits kommen sie nicht mehr wie die Vor-Vorgänger mit Felgenbremsen an Fabelgewichte deutlich unter dem Gewichtslimit des Radsportweltverbands heran, andererseits sind sie durch filigranere Rohrformen signifikant langsamer als aerodynamisch optimierte Spezialisten. Auch wenn es Kletterkünstler und Gewichtsfetischisten vermutlich anders sehen: Die Formel “Aero ist Trumpf” bestätigt sich wiederkehrend in unseren Simulationen. Demnach profitiert ein schnelles Rennrad trotz des höheren Gewichts in vielen Rennsituationen gegenüber einem leichteren Modell. Ein Abgesang auf das Bergrad? Mitnichten. Schließlich demonstriert das neue TCR eindrucksvoll, dass es dafür noch zu früh ist und mit einer zurückhaltenden Formensprache wohl auch weiterhin viele Rennradler anspricht.
Mit welcher Explosivität die Neuheit beschleunigt und den Fahrer bei jeder Kurbelumdrehung nach vorne katapultiert, ist wirklich beeindruckend. Die bis zu 16 Grad steilen Rampen rund um Taichung, Firmensitz des Fahrradgiganten und unser Testrevier, flog das Advanced SL 0 regelrecht hinauf. Das TCR liefert ein Fahrgefühl mit Suchtfaktor, das derzeit nur eine Handvoll Modelle bietet. “Ich war ehrlich gesagt etwas skeptisch, ob sich die detaillierten Verbesserungen im Sattel bemerkbar machen”, gesteht Ex-Profi Tom Dumoulin. “Aber das Rad ist in allen Belangen besser geworden“, bilanziert der Markenbotschafter, der Giant beim Giro d’Italia 2017 den letzten großen Rundfahrtsieg bescherte.
Mit 6520 Gramm (ohne Pedale und Flaschenhalter) zählt das Testrad in Lackierung des Jayco-Alula-Teams zu den aktuell leichtesten Rennmaschinen im TOUR-Test. Das Factor O2 VAM (6520 Gramm), Specialized S-Works Tarmac SL8 (6550 Gramm), Storck Aernario.3 Platinum (6560 Gramm) oder Wilier Zero SLR (6530 Gramm) spielen in derselben Liga und könnten auch fahrfertig unter dem von der UCI erlaubten Mindestgewicht bleiben. Allerdings: Bereits das alte “Total Compact Road” spielte beim Gewicht in der Champions League und hing nur 20 Gramm schwerer an der Waage. Der Rahmen des neuen Advanced SL 0 wiegt 758 Gramm, unter aktuellen Disc-Rädern stoßen nur das Cervélo R5 (784 Gramm) und Specialized S-Works Tarmac SL 8 (723 Gramm) in diese Region vor. Die Gabel kommt auf 386 Gramm.
“Es ist der leichteste Rahmen und das leichteste Rennrad, das wir jemals gebaut haben”, bilanziert Nixon Huang voller Stolz bei der Präsentation im hochmodernen Headquarter. Laut des Road Category Managers basiert das Gewichtstuning auf einer höheren Fertigungspräzision - sowohl beim Zuschnitt der Carbonmatten (Cold-Blade-Cutting) als auch beim Backen des vorderen Rahmendreiecks (One-Piece-Molding). Zudem reduzierte sich die Oberfläche des Rahmens. War beispielsweise beim Vorgänger der Knotenpunkt zwischen Sitzrohr und Sitzstreben noch verstärkt, spart das neue TCR hier Material ein. Auch Sitzdom und Oberrohr sind minimal filigraner.
Trotz der Diät erzielt das Giant weiter exzellente Steifigkeitswerte und macht bei der Aerodynamik einen respektablen Satz nach vorne. Um den Luftwiderstand bei 45 km/h zu überwinden, sind gegenüber dem Vorgänger sechs Watt weniger nötig. Mit 221 Watt sortiert sich das TCR im Umfeld der leichten Konkurrenten wie Bianchi Specialissima RC (222 Watt), Canyon Ultimate CFR Di2 Aero (222 Watt) oder Storck Aernario.3 Platinum (220 Watt) ein. Mehr ist bei Rädern der Leichtbau-Kategorie kaum möglich oder bedarf eines immensen Aufwands, wie Specialized beim S-Works Tarmac SL 8 (209 Watt/6,6 Kilo) zeigte. Grundsätzlich sind die besten Race-Allrounder und Aero-Spezialisten mindestens zehn Watt schneller.
Im Windkanal profitiert das TCR von den neuen Vollcarbon-Laufrädern der Eigenmarke Cadex, die fast das Niveau unseres schnellen Referenzlaufradsatzes (221 Watt) erreichen und mit 2400 Gramm ebenfalls ihren Beitrag zum geringen Gesamtgewicht und hervorragendem Antritt leisten. Zudem modernisierten die Taiwaner die Front: Die Bremsleitungen laufen jetzt semiintegriert unter dem Vorbau ins Steuerrohr, durch das vom aerodynamischeren Giant Propel (209 Watt/6,7 Kilo) bekannte System lässt sich die Sitzposition relativ einfach anpassen. Ein klarer Vorteil gegenüber vergleichbaren Race-Modellen mit einteiligen Lösungen. Der neue Lenker ist außerdem windschnittiger geformt.
Wenig Verbesserungspotenzial bot sich der Entwicklungsabteilung beim Fahrkomfort. Der integrierte Sitzdom ist weiter gesetzt und federt hervorragend, auch am Cockpit ruckelt auf rauem Asphalt relativ wenig. Die tubeless montierten Reifen, eine weitere Neuentwicklung von Cadex, tun ein Übriges, obwohl sie effektiv sogar leicht schmaler als 28 Millimeter ausfallen. Durch Rahmen und Gabel passen maximal 33-Millimeter-Pneus.
“Wir bei Giant sind alle verrückt nach dem TCR”, sagte Chefentwickler Owen Chang am Rande der Vorstellung. Es wird sich weisen, ob der Fahrradgigant auch außerhalb des Firmensitzes Fans für seine Neuheit findet und ob die Leichtbau-Maschine wieder öfter im Profi-Peloton auftaucht. Jayco-Alula um Simon Yates, Vuelta-Sieger von 2018, setzte in der Vorsaison schließlich fast ausschließlich auf das schnellere Propel, selbst bei Bergetappen während der letztjährigen Tour de France blieb das TCR auf den Begleitfahrzeugen. Immerhin: Seine Rennpremiere hat das neue Modell bereits hinter sich. Filippo Zana pilotierte das TCR am vergangenen Wochenende bei Strade Bianche auf den neunten Platz.
Gegen große Verkaufszahlen des Advanced SL 0 spricht neben der durchschnittlichen Aerodynamik die einlaminierte Sattelstütze. Trotz des hohen Komforts erschwert sie den Transport im Auto und bietet am Klemmkopf nur einen kleinen Einstellbereich. Bei der Anpassung der Sitzhöhe muss damit je nach Körperproportionen der Sitzdom gekürzt werden. Mit 12299 Euro ist das Top-Modell inzwischen zudem das teuerste Rad im Stall der Taiwaner, zum Vorgänger wird ein Aufpreis von 700 Euro fällig. Die nächste Ausstattungsvariante kostet zwar fast nur die Hälfte, allerdings kommt das Advanced Pro 0 wegen einer geringeren Carbonqualität beim Rahmen sowie schwererem Laufradsatz und Antrieb nicht an die Performance des Profirads heran.
Insgesamt sind in Deutschland sieben Versionen (ab 2799 Euro) und zwei Rahmen-Sets (3699 und 2499 Euro) erhältlich. Bis auf das Basismodell schalten alle Modelle elektronisch mit Gruppen von Shimano (Dura-Ace, Ultegra, 105) oder SRAM (Force). Eine Variante mit neuer SRAM Red AXS, zu der im Internet bereits Fotos kursieren, dürfte mit offizieller Vorstellung der Schaltung folgen.