Jens Klötzer
· 26.11.2022
An modernen Rennrädern sind Leitungen und Züge gut versteckt. Das sieht gut aus, aber die Montage- und Wartungsarbeiten werden aufwendiger. Ist die Systemintegration auch praktisch?
Im Lenker integrierte Leitungen sind ein Trend, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Doch die Innovation erregt auch Unmut: zu kompliziert, zu unflexibel, zu teuer, so die Kritik vieler Händler, Mechaniker und Kunden. Immerhin: Viele Hersteller reagieren und wollen die Systeme vereinfachen. Wer sich für so ein Rad entscheidet, sollte sich vor dem Kauf gut informieren, das kann versteckte Kosten und Ärger mit Herstellern und Händlern vermeiden.
Dass ihre Schrauberkenntnisse für das neue Rad nicht ausreichen könnten, damit hatte Lisa Weichert am wenigsten gerechnet, als sie es im Internet bestellte. Die ehemalige Fahrradkurierin kennt sich gut aus mit Rennradtechnik, ansonsten weiß meist der große Freundeskreis Rat. Auch stand ihr Crosser mit mechanischer Schaltung nicht im Verdacht, Probleme zu machen: “Ich hatte bewusst nach etwas Unkompliziertem gesucht. Im ersten Corona-Jahr hatte ich nicht viel Auswahl, ich war froh, überhaupt etwas Passendes zu finden“, erinnert sich die 32-jährige Leipzigerin. Dass das Rad in Lenker und Vorbau versteckte Leitungen hatte, fand die passionierte Langstreckenradlerin nicht besonders wichtig, aber hübsch und praktisch: “Ich habe bei meinen Touren viel dabei: Liegelenker, Computer, Lenkertaschen. Dass da keine Kabel stören, fand ich anfangs wirklich toll.”
Erst als sich die 1,60 Meter große Marketing-Managerin nach einiger Zeit einen kürzeren Vorbau wünschte, wurde es kompliziert. “Ich wusste erst gar nicht, wo ich einen passenden Vorbau herbekomme”, erzählt sie. Der Verkäufer antwortete nicht mehr auf Nachfragen, auch die Kurier-Kumpels zuckten mit den Schultern. Als selbst die Profischrauber in einer Fachwerkstatt hilfesuchend unter die Vorbaukappe lugten, zweifelte Weichert langsam an ihrer Kaufentscheidung: “Ich dachte: Verdammt, damit hab’ ich mich ja richtig in die Nesseln gesetzt.”
Der hilfsbereite Händler - ein Lastenradspezialist, der lieber namentlich nicht genannt werden möchte - erinnert sich gut an die verzweifelte Kundin und seine prägende Erfahrung mit dem Renner. “Ich dachte, das wird schon irgendwie gehen, ich habe auch schon Züge an Zeitfahrrädern verlegt. Aber daran bin ich fast verzweifelt”, erzählt er.
Der Radhersteller konnte keinen so kurzen Vorbau liefern, zwei andere extra bestellte Varianten, ausgewiesen für innen verlegte Kabel, passten nicht. Erst der dritte Versuch funktionierte - halbwegs: “Sechs Stunden habe ich nach Feierabend damit verbracht, die Schalt- und Bremskabel neu zu verlegen”, berichtet er. Bei der fälligen Rechnung einigte er sich mit Kundin Weichert auf einen für beide erträglichen Betrag.
Fälle wie dieser könnten künftig immer häufiger vorkommen. Die in Lenker und Vorbau integrierten Leitungen sind ein Trend, der in voller Fahrt alle Rennradgattungen überrollt, nicht nur hochgezüchtete Rennmaschinen. “Es gibt seit geraumer Zeit eine enorme Nachfrage nach aufgeräumten Fahrrädern”, berichtet Daniel Heyder, Produktmanager bei Canyon. “Der Kundenfokus liegt ziemlich klar auf der Ästhetik. Dafür rückt das Kriterium Service in den Hintergrund”, analysiert er. Bei ausgewiesenen Wettkampfrädern sprechen außerdem Geschwindigkeitsvorteile für die Aufräumaktion im Cockpit: Die schnittigen Lenker sind nachweislich schneller, weil sie weniger Verwirbelungen und damit weniger Luftwiderstand produzieren.
Der Trend zur Systemintegration ist nicht neu. An Sattelstützen, die für mehr Komfort oder bessere Aerodynamik speziell geformt sind, hat sich die Rennradwelt längst gewöhnt. Aber die Erfahrung damit zeigt auch: Ersatz aufzutreiben, ist zeitaufwendig, bei seltenen und in die Jahre gekommenen Rädern vielleicht unmöglich. Bei Lenkern wird das Problem noch vielschichtiger.
Sie sind durch Stürze mehr gefährdet und wichtiges Element für die passende Sitzposition. Zudem verdrängen die schmucken Flügel einen erfolgreichen Standard der Fahrradindustrie: Das seit den 1990er-Jahren geläufige Ahead-System für Steuersätze kann mit wenig Schrauber-Erfahrung und einem einzigen Innensechskant in alle Einzelteile zerlegt werden. Lenker und Vorbau sind über alle Hersteller austauschbar, die wichtigen Maße fast überall gleich, Ersatzteile weltweit und in allen Preisklassen verfügbar - paradiesische Zustände für Schrauber und Bikefitter.
Bei Rädern mit versteckten Kabeln müssen Vorbau, Rahmen-Set und Lenker aufeinander abgestimmt sein, auch sämtliche Abdeckungen und Kleinteile passen oft ausschließlich zu einem Radmodell. Zudem produziert diese Technik weitere Beschränkungen: Weil die Leitungen von Scheibenbremsen fix mit dem Bremsgriff verbunden sind, lässt sich der Vorbau oft nicht demontieren oder in der Höhe verstellen. Das heißt, mindestens die vordere Leitung muss gekappt und die Bremse entleert werden, nicht selten muss eine neue Leitung her, weil die alte nicht mehr lang genug ist. Bei vielen Rädern muss zudem der Gabelschaft passend gekürzt sein, das heißt, der Lenker kann nur noch tiefer, aber nicht mehr höher positioniert werden. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Aufwand für einfachste Servicearbeiten ist mit einem Schlag explodiert.
Einer, dem deshalb häufig der Kragen platzt, ist Stefan Lindemaier. Er ist Inhaber von Bikeline, einer der ersten Adressen für exklusive Rennräder in München, und “fast täglich mit dem Wahnsinn konfrontiert”, wie er es beschreibt. Der 52-Jährige ist seit mehr als 30 Jahren im Geschäft; er hat Verständnis, wenn bei technischen Neuentwicklungen mal ein Schuss nach hinten losgeht. Doch im Fall der integrierten Leitungen urteilt Lindemaier ziemlich rigoros: “Ich wünsche mir nichts sehnlicher zurück als einen runden, geklemmten Lenker und Vorbau”, sagt er.
Als Mechaniker sei er zwar geduldig, doch für den Arbeitsaufwand von bis zu drei Stunden pro Rad - wenn es gut läuft - entwickelt er ebenso schwer Verständnis wie für die Preisvorstellungen der Hersteller. “Das ist so unfassbar teuer. Die Lenker der angesagtesten Räder kosten 1000 Euro oder mehr, für die Arbeitszeit müsste ich noch mal 300 Euro nehmen. Und das bei den Radpreisen! Wie soll ich das vermitteln?”, rechnet er vor. “Meinen Laden sperr’ ich erst um zwölf auf, weil ich vormittags Kabel verlegen muss”, sagt er, nur halb im Scherz.
Christoph Allwang, Leiter des TOUR-Testlabors, kennt das Thema Systemintegration auch in allen Details. Gemeinsam mit seinen Kollegen hat er schon Hunderte integrierter Renner zerlegt, die Einzelteile gewogen und wieder zusammengebaut. Unter optimalen Voraussetzungen, das heißt auch mit einer helfenden Person, rechnet er mit mindestens zwei Stunden mehr pro Rad. “Es gab aber auch schon Fälle, die acht Stunden gebraucht haben”, sagt er. “Die Vielfalt an unterschiedlichen Konstruktionen ist enorm.” Das Problem sei, dass man den Aufbau von außen kaum erkennen könne. Sein Tipp: “Lassen Sie sich das System vom Händler genau zeigen, und klären Sie vorab, welche Kosten im Fall der Fälle auf Sie zukommen. Dann bleiben wenigstens böse Überraschungen erspart.”
Über Lösungen für das Problem Systemintegration zerbricht sich unter anderem Lloyd Thomas den Kopf, aus eigenem Interesse. Der 50-jährige gebürtige Kanadier ist Bikefitter und setzt in seinem Studio in Bensheim Profis wie Hobbyfahrer millimetergenau aufs Rad. Mit den neuen Rennrädern sieht er seinen Spielraum eingeschränkt: “Man verliert einen sehr großen Teil potenzieller Positionierungen. Die Flexibilität des bisherigen Systems ist nützlich, weil der Lenker die Position des gesamten Oberkörpers vorgibt. Nun sind wir unnötig limitiert”, bemängelt er.
Wie er die Probleme der Systemintegration löst, kommt auf den Einzelfall an. Grundsätzlich ist er versucht, seinen Job vor den Kauf des Rades zu verlagern. Sein Fitbike - ein Gestell, an dem alle Kontaktpunkte frei einstellbar sind - gewinnt wieder an Bedeutung. Kommt ein Kunde schon mit Rad zu ihm, wird es komplizierter. Dann ist Thomas froh, wenn er wenigstens einen runden Gabelschaft vorfindet, auf den er Standardkomponenten stecken kann - so kann er zumindest am teilzerlegten Rad dem Kunden ein Gefühl für eine geänderte Position geben. “Schwierig wird es, wenn der Kunde nicht selbst spüren kann, wie sich eine veränderte Position anfühlen wird. In manchen Fällen bleibt mir nichts anderes übrig, als die Auswirkungen zu beschreiben, bevor wir einen neuen Lenker kaufen. Dann muss mir der Kunde schon sehr vertrauen”, berichtet er.
Um die Situation zu verbessern, sehen Lloyd wie Lindemaier vor allem die Hersteller in der Pflicht. “Das ganze System wirkt nicht zu Ende gedacht. Es gibt ja Lösungen, ich denke an einfach höhenverstellbare Systeme oder den Hover Bar von Specialized, ein gekröpfter Lenker mit höherem Stack. Solche Sachen müssen sich durchsetzen”, findet Thomas. Auch Händler Lindemaier bestätigt, dass es praktische Ansätze gibt: “Wenn der Lenker angeschraubt ist und die Kabel außen an Lenker und Vorbau unter Abdeckungen verlaufen, sieht das genauso gut aus, es vereinfacht aber den Mechanikern die Arbeit”, sagt er.
Bei Logistik, Kommunikation und den Komponenten gebe es aber viel Verbesserungspotenzial. “Es ist absurd, dass ich mir die teuren Lenker in verschiedenen Abmessungen auf Lager lege”, sagt Lindemaier. Nur eine seiner Radmarken tausche derzeit kostenlos ungebrauchte Lenker in andere Abmessungen um, das sei ein guter Service, aber leider die Ausnahme. “Die Hersteller sollten ein simples, kostenfreies System zum Umtausch der Komponenten etablieren und die Lagerhaltung dafür selbst organisieren”, fordert auch Lloyd Thomas. Neue, vor allem standardisierte Maßangaben wären sinnvoll, denn die Werte des Rahmens nützen nicht viel, wenn die Maße des Lenkers nicht bekannt sind. “Es sind nur kleine Dinge, die aber viel bewirken. Das würde auch die Akzeptanz für die Innovationen verbessern”, glaubt er.
Von heute auf morgen wird das allerdings nicht gehen, folgt man der Argumentation von Canyon-Produktmanager Daniel Heyder: “Ein Lenkertausch beim Kauf passt derzeit nicht in unsere Prozesskette. Wir sind wie die meisten größeren Hersteller in einer Just-in-time-Produktion organisiert, da führen Änderungen und eine große Lagerlogistik zu hohen Reibungsverlusten. Wir wollen in erster Linie Räder bauen, die für die allermeisten Kunden gut passen und bieten lieber eine bis zwei Größen mehr an”, sagt er. Aber auch für Sonderwünsche arbeite man an Lösungen: “Auf längere Sicht streben wir zumindest für die Premium-Produkte eine Konfigurationsmöglichkeit an, das Rad wird dann erst mit dem bestellten Lenker montiert”, so Heyder. Dafür müsse man aber längere Lieferzeiten in Kauf nehmen und vorher genau wissen, wie man auf dem Rad sitzen will.
Als Hersteller, dessen Räder ausschließlich online vertrieben werden, beschäftigen die Canyon-Ingenieure noch weitere Aspekte. Die Räder müssen in einen schmalen Karton passen und von einem Laien ohne Spezialwerkzeug fahrbereit gemacht werden können. Der Lenker der neusten Aeroad- und Ultimate-Modelle lässt sich deshalb zerlegen und, in Grenzen, in Breite wie Höhe verstellen, ohne ein Kabel anzufassen.
Auch Wettbewerber Cervelo entwickelte für den Aero-Renner S3 ein höhenverstellbares System. Doch das löst nur einen Teil der Probleme. Die Verstellmechanismen sind kompliziert und schwer; Sitzlänge und Lenkerbreite bleiben von den verfügbaren Rahmengrößen und dem darauf montierten Standard-Set-up vorgegeben. Bei Canyon sieht man sich, was das Prozedere nach dem Kauf angeht, noch in der Versuchsphase: “Für einen Lager- oder Leitungswechsel beispielsweise müsste ein Rad noch eingeschickt werden. Wir haben deshalb sehr haltbare, gedichtete Edelstahllager eingeführt. Parallel arbeiten wir derzeit an einem Service-Netz, sodass man zukünftig Partner-Werkstätten aufsuchen kann”, sagt Heyder.
Fachhandelsmarken können in solchen Fällen zwar auf ein Händlernetz verweisen, sind aber auch bestrebt, den Aufwand zu reduzieren. Das reicht von Leitungsführungen mit genügend Reserve, um den Vorbau ohne zusätzliche Arbeitsschritte wieder in der Höhe verstellen zu können (z.B. bei Giant), bis zu einlaminierten Kabelkanälen, die das Einfädeln der Leitungen erleichtern (z. B. bei Cube).
Teilintegrierte Lösungen (siehe Bilder weiter oben “Formen der Systemintegration”) halten den Aufwand bei preiswerteren Rädern in Grenzen. Langfristig setzen die Radhersteller wohl darauf, dass elektrische Schaltungen Standard werden: Wie Hydraulikleitungen der Bremsen sind sie kein Verschleißteil mehr und können dauerhaft im Rad bleiben - sofern die Position einmal gefunden ist. Viele neue Modelle sind auf elektrische Schaltungen beschränkt. Für die Bremsleitungen fordert Daniel Heyder von den Komponentenherstellern eine Initiative: “Schnellverschlüsse könnten hier die Lösung sein, das würde bei der Montage viel Zeit sparen”, sagt er.
Lisa Weichert kann über ihre kleine Odyssee heute schmunzeln. Das nächste Mal würde sie aber lieber wieder ein Rad mit sichtbar verlaufenden Kabeln kaufen. “Mir wurde erst später bewusst, dass ich fast nichts mehr an der Position selbst machen kann. Eigentlich hätte ich gerne noch einen schmaleren Lenker, aber ich glaube, ich fasse lieber etwas weiter innen an”, sagt sie scherzhaft. Vielleicht sollte sie sich daran gewöhnen, denn es ist gut möglich, dass es bei ihrem nächsten Kauf keine Räder ohne integrierte Leitungen mehr gibt.
Tipp 1: Klassische Bowdenzüge für Schaltung oder Bremsen sollten nicht vollintegriert sein. Deren Reibung ist für eine einwandfreie Funktion meistens zu hoch.
Tipp 2: Bei renommierten und etablierten Herstellern ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es in einigen Jahren noch Ersatzteile und Support gibt.
Tipp 3: Dokumentieren Sie Ihre genaue Sitzposition, vor allem die Position des Lenkers und der Hände. Ungeübte sollten sich vom Händler oder Bikefitter helfen lassen. Überprüfen Sie vorab, ob Sie Ihre Position auf das Wunschrad übertragen können bzw. welche Änderungen nötig wären.
Tipp 4: Lassen Sie sich das System am Rad erklären und studieren Sie die Anleitungen. Klären Sie, was Sie selbst machen können und wofür Sie die Hilfe des Händlers brauchen; welcher Aufwand und welche Kosten für gängige Arbeiten, z. B. nach einem Sturz, anfallen würden.
Tipp 5: Bewerten Sie die Ersatzteilsituation: Kann der Rahmen mit Komponenten von Drittanbietern (z. B. 3T, Deda Elementi, FSA, Ritchey) bestückt werden, verbessert das die Versorgungslage enorm. Außerdem: Sind die Lenklager standardisiert oder Spezialanfertigungen? Wie stabil sind Spacer und Abdeckungen? Lassen sich Computer oder Licht montieren?
Bei Rädern mit integrierten Lenkern helfen die typischen Rahmenmaße - auch Stack und Reach - kaum weiter, weil sie Lenker und Vorbau nicht einbeziehen, obwohl deren Maße nicht oder nur mit sehr viel Aufwand veränderbar sind. Die Maße Stack plus und Reach plus geben die realen Abmessungen besser wieder, in dem sie den Bezugspunkt von der Oberkante des Steuerrohres (Stack und Reach als vertikaler bzw. horizontaler Abstand vom Tretlager) zum Lenker verlegen. Das Problem: Es gibt keine einheitliche Messmethode. Manche Hersteller beziehen die Maße auf die gedachte Lenkermitte, andere auf das vordere Ende des Lenkerbogens. Wieder andere - vor allem Bikefitter - nehmen die Position der Hände auf den Bremsgriffen. Das ist die wohl sinnvollste, allerdings keine sehr genaue Maßangaben.