Sebastian Lindner
· 22.07.2023
Katarzyna Niewiadoma sitzt entspannt auf ihrem Sofa im Novotel in Clermont-Ferrand, als sie sich die Zeit nimmt, mit TOUR zu sprechen. Sie wirkt relaxt - dabei ist der Grand Depart der Tour de France Femmes, des Rennens, bei dem sie unbedingt glänzen will, keine zwei Tage mehr entfernt.
Die 28-Jährige Polin fuhr bei der Premiere der Frankreich-Rundfahrt der Frauen im letzten Jahr hinter Annemiek van Vleuten (Movistar) und Demi Vollering (SD Worx) aufs Podium. Die beiden Niederländerinnen sind auch in diesem Jahr ihre größten Konkurrentinnen, haben in der Saison jeweils schon reichlich Siege eingefahren - van Vleuten bei den Rundfahrten, Vollering bei den Klassikern.
Niewiadoma musste sich jedes Mal hinten anstellen, ist seit mittlerweile mehr als vier Jahren ohne Sieg. Top-10-Resultate und Podiumsplätze stehen hingegen konstant in ihren Ergebnislisten. Zuletzt zeigte die Formkurve weiter nach oben. Im Mai beendete sie die Baskenland-Rundfahrt als Dritte, einen Monat später die Tour de Suisse als Vierte. Seit Mitte Juni fuhr sie zugunsten eines langen Trainingsblocks keine Rennen mehr.
TOUR: Eigentlich waren sie über die Saison immer vorne mit dabei. Die absoluten Spitzenresultate blieben aber aus. Was fehlt Ihnen momentan für ganz vorne?
Katarzyna Niewiadoma: Wenn du im Frühling in der Klassikersaison etwas Besonderes erreichen willst, musst du früh in der Saison in die Berge, um zu trainieren. Das gibt dir die Extra-Prozente, die du brauchst. Ich musste feststellen, dass man ohne Höhentrainingslager nur gut genug ist, um Platz vier oder fünf zu fahren. Die Unterschiede sind riesig, das haben wir vor allem bei den Girls von SD Worx gesehen. Die waren zweimal im Höhentraining, während ich zu diesem Zeitpunkt der Saison gar nicht war. Und so muss ich mich dann hinten anstellen.
TOUR: Welche Schlussfolgerungen haben Sie daraus gezogen?
Katarzyna Niewiadoma: Dass der Frauen-Radsport sehr professionell geworden ist, du musst an jedes Detail denken. Gerade die jungen Fahrerinnen, die ihre Reise durch den Radsport erst beginnen, sind so voller Energie und trainieren jeden Tag draußen, weit von ihrer Heimat entfernt. Ich habe gelernt, dass ich mein Wintersprogramm umstellen muss. Das, was ich ich im Winter gemacht habe, reicht einfach nicht. Ich war nicht gut genug vorbereitet für den Kampf mit SD Worx.
TOUR: Was bedeutet das für Ihre Ambitionen bei der Tour de France?
Katarzyna Niewiadoma: Nichts weiter, denke ich. Mit fortschreitender Saison wurde es bei mir besser, wie die Ergebnise im Baskenland und bei der Tour de Suisse gezeigt haben. Danach war ich mit meinem Trainer Nate Wilson dann auch im Höhentrainingslager. Ich bin froh, dass ich genug Zeit hatte, mich richtig gut auf die Tour vorzubereiten. Ich konnte mich auf bestimmte Trainingseffekte konzentrieren, zum Beispiel Intervalle fahren, die besonders am Tourmalet wichtig sein werden. Das hat mein Selbstvertrauen nochmal ein bisschen gesteigert.
TOUR: Sie waren bei der Premiere der Tour de France Dritte. Ist das auch ein realistisches Ergebnis für dieses Jahr?
Katarzyna Niewiadoma: Alles ist möglich. Ich bin physisch bereit, gut auf die Berge vorbereitet. Hoffentlic bin ich auch mental stark genug, um nicht den Glauben zu verlieren. Wir haben ein gutes Team am Start. Wir sind nicht gekommen, um zuzuschauen, wir sind hier, um zu kämpfen, offensiv zu fahren. Wir wollen keine Angst haben, anzugreifen oder etwas mehr zu arbeiten, weil der Tag danach vielleicht hart werden könnte.
TOUR: Was wird Ihrer Meinung nach die Schlüssel-Etappe: Die hinauf zum Tourmalet oder das abschließende Zeitfahren?
Katarzyna Niewiadoma: Ich denke, jeder Tag wird entscheidend. Als ich das erste Mal auf die Profile schaute, dachte ich auch, es ist der Tourmalet oder das Zeitfahren. Aber nachdem wir die Etappen besichtigt haben, ist mir klargeworden, dass es fast immer nur hoch und runter, links und rechts geht. Wenn man da nicht konzentriert ist, kann man überall viel Zeit verlieren. Aber, klar ist auch: Wenn du richtig stark am Tourmalet bist und dort vielleicht fünf Minuten auf deine Konkurrentinnen rausfährst, kann das auch die entscheidende Attacke sein, um die Tour zu gewnnen. Wenn es um die Plätze zwei, drei, vier oder fünf geht, kann aber auch die 2. Etappe eine große Rolle spielen.
TOUR: Etappensieg oder ganz weit vorne in der Gesamtwertung: Was wäre für Sie wichtiger?
Katarzyna Niewiadoma: Das hat für mich eine ähnliche Bedeutung. Einem Etappensieg jage ich jetzt schon so lange hinterher. Aber wenn du erstmal einen Sieg gefeiert hast, spielst du auch eine gute Rolle im Gesamtklassement - und dann wird das auch wichtig. Ich habe mir die 2. Etappe besonders gut angeschaut. Ich hoffe, dass ich da meine Stärke zeigen und um den Sieg fahren kann. Aber ich muss es clever anstellen. Natürlich ist aber auch die Etappe zum Tourmalet interessant. Denn das ist ein Anstieg, der zeigt, wer die Stärkste ist.
TOUR: Sie haben die Dominanz von SD Worx bereits selbst angesprochen. Haben Sie und ihr Team bereits eine Taktik entwickelt, um dem etwas dagegenzustellen?
Katarzyna Niewiadoma: Es ist unser Plan, sie zu isolieren. Ungefähr so, wie wir es auf der letzten Etappe der Tour de Suisse gemacht haben. Ich war in einer Ausreißergruppe und dann mussten sie nachfahren. Wir müssen sie dazu bringen, mehr zu arbeiten. Auf der Etappe ist es nicht ganz aufgegangen, sie haben am Ende doch noch gewonnen (Edelhelferin Niamh Fisher-Black gewann zeitgleich vor Niewiadoma und den anderen beiden SD-Worx-Fahrerinnen Marlen Reusser und Vollering, die beide solo mit deutlichen Rückstanden ins Ziel kamen, d. Red.), weil sie von unserer Arbeit profitiert haben. Aber wir haben bewiesen, dass es möglich ist, sie in schwierige Situationen zu bringen, wenngleich sie superstarke Fahrerinnen haben. Aber es ist schon ein recht langes Rennen. Jede kann mal einen schlechten Tag haben. Unser Ziel wird es sein, ruhig zu bleiben und die anderen dann zu überraschen.
TOUR: Mit Annemiek van Vleuten ist eine der Topfavoritinnen bereits 40 Jahre alt. Es gibt aber auch viele ganz junge Fahrerinnen, die in die Spitze drängen. Gaia Realini, Shirin van Anrooij (beide Lidl-Trek) oder auch Juliette Labous (DSM-firmenich) exemplarisch genannt.
Katarzyna Niewiadoma: Ich konzentriere mich nicht auf das Alter, behandele die Mädels gleich, egal ob sie 19 oder 38 Jahre alt sind. Die Älteren sind erfahrener, haben mehr Rennkilometer in den Beinen, wissen genau, wie man trainieren muss, wie man sich vorbereiten muss, wie man sich richtig erholt, wer dir am besten auf deinem Weg helfen kann. Es ist aber auch schön, die vielen jungen Mädchen zu sehen, die unseren Weg eingeschlagen haben und mit einem Paukenschlag ins Feld drängen. Ich mag das, sie haben viel Energie, mehr Hoffnung, weil sie vielleicht noch nicht so viele Stürze erlaubt haben. Sie sind positiver und haben eine andere Herangehensweise, das ist sehr motivierend. Fakt ist aber: So lange du gut arbeitest, kannst du in jedem Alter gute Ergebnisse erzielen.
TOUR: Sie sind jetzt 28 Jahre alt, aber auch schon zehn Jahre Profi alt. Können Sie sich zehn weitere Jahre vorstellen, um in ähnliche Sphären wie van Vleuten vorzustoßen?
Katarzyna Niewiadoma: Nein, auf keinen Fall. Ich liebe Sport, ich liebe Radfahren, aber es ist nicht alles in meinem Leben. Ich genieße die Zeit jetzt und bin sehr dankbar für die Reise, auf der ich mich befinde. Aber sie muss irgendwann enden. Wenn du wirklich gut sein willst, musst du so viele Opfer bringen. Im Moment mache ich das gerne, aber es wird jedes Jahr mehr. Wenn ich sehe, dass ich irgendwann im Finale keine Rolle mehr spiele, kann es natürlich auch ein schnelles Ende geben. Hoffentlich ist es noch nicht in den nächsten zwei, drei Jahren soweit, aber es wird definitiv auch keine zehn Jahre mehr dauern.