Giro d’Italia 2023Ausdauerprüfung für Körper und Kopf

Andreas Kublik

 · 05.05.2023

Jai Hindley am Fedaia-Pass auf dem Weg zu seinem Sieg beim Giro d´Italia 2022
Foto: Getty Velo

Die großen Landesrundfahrten wie Giro d’Italia und Tour de France gelten als Königsdisziplin des Radsports. Es sind besondere Ausdauerprüfungen nicht nur für den Körper, sondern auch für den Kopf.

Giro d’Italia - Aufgabe für Körper und Kopf

Die Herausforderungen sind oft übergroß – oder sie sollen wenigstens so erscheinen. “Marmolada” nennen die Ita­liener einen der mythischen Pässe, die regelmäßig im Höhenprofil des Giro d’Italia auftauchen. Die Marmolada – Marmolata auf Deutsch –, mit 3343 Metern der höchste Gipfel in den Dolomiten, kann man mit dem Rennrad nicht befahren. Aber dank des gewaltigen Namens wird ­aus ­einem Alpenpass eine Mammutaufgabe – eine noch gewaltigere Kletterpartie, als es der Scheitelpunkt des ­Fedaia-Passes ohnehin ist, wie der Übergang auf Landkarten richtig heißt.

2052 Meter hoch ist er und – von der Ostseite befahren – eine der Höchstschwierigkeiten der Dolomiten. Die letzten knapp sechs Kilometer geht es mit durchschnittlich mehr als zehn Prozent bergauf – bei einem Spitzenwert von 16 Prozent. Die Streckenplaner vom Giro d’Italia-Veranstalter RCS hatten sich genau diesen Pass als Schauplatz des finalen Showdowns bei der 2022er-Auflage des Rennens ausgedacht – als Abschluss eines 168-Kilometer-Ritts durch die Dolomiten, mit insgesamt 4700 Höhenmetern. Am Ende von drei Wochen Auf und Ab. Wenn Körper und Geist längst müde sind. Eine letzte Härteprüfung – Härte zeigen gegen sich selbst und gegen die anderen.

Hier kam es zum entscheidenden Duell: Drei Kilometer vor dem Ziel trat Olympiasieger Richard Carapaz an, Jai Hindley stürmte sofort vorbei und wenige Augenblicke später davon. Oben jubelte der Australier kurz, ehe er völlig erschöpft in die Arme seines Teamarztes fiel. “Es war superhart, wahrscheinlich die größte Leistung, die ich je gebracht habe. Ich bin niemals vorher auf dem Rad so tief gegangen”, erinnert er sich Wochen später im Interview mit TOUR.

Wer wie Richard Carapaz beim Giro d’Italia Rosa trägt, ist der Gejagte und muss sich dem Druck stellenFoto: Getty Velo
Wer wie Richard Carapaz beim Giro d’Italia Rosa trägt, ist der Gejagte und muss sich dem Druck stellen

Fast eineinhalb Minuten hatte er auf wenigen Kilometern zwischen sich und den Giro-Sieger von 2019 gebracht und damit den Grundstein zum Gesamtsieg gelegt. Gegen einen Gegner, der ihm zuvor drei Wochen lang mindestens ebenbürtig schien und von dem ihn nach 19 Etappen ganze drei Sekunden getrennt hatten. Am Fuße der Marmolata gipfelte der Kampf darin, wer der Härteste ist, wer die größten Widerstandskräfte hat. “Da hat sich keiner mehr super gefühlt – es wird dann Kopf­sache. Als Carapaz angriff, wusste ich, ich musste drübergehen. Wenn man angreift und ein anderer fährt noch vorbei – ist das psychologisch superhart”, beschreibt Hindley den entscheidenden Moment. Hindley fuhr vorbei, Carapaz wurden die Beine bleischwer.

Giro d’Italia - Drei Wochen, unzählige Widerstände

Der Fedaia-Pass war der letzte hohe Berg, der letzte Wider­stand, den die Giro-Aspiranten überwinden mussten. Aber eben nur das letzte sichtbare Hindernis – insgesamt ist eine Grand Tour wie Tour de France oder Giro d’Italia so etwas wie die Königsdisziplin der Leidens- und Widerstandsfähigkeit – körperlich wie mental. “Diese Rennen sind definitiv einer der größten Resilienztests im Sport: Man muss hohe Leistung und große Leidensfähigkeit über einen langen Zeitraum erbringen”, betont der sportpsychologische Experte Dr. Christian Zepp.

Das Zauberwort in der Sportpsychologie: Resilienz

Ein Modewort, das in der Wissenschaft beileibe nicht neu ist, aber mit zunehmender Professionalisierung auch den Rad­sport erreicht hat. “Ich spreche statt von Resilienz auch von Widerstandsfähigkeit. Es geht darum, wie man mit Widerständen umgehen kann”, erläutert Zepp. Bei einem dreiwöchigen Etappenrennen können die Widerstände zahllos sein: 21 Renntage, mehr als 3000 Kilo­meter Strecke, mehr als 80 Stunden im harten Sattel mit so vielen Möglichkeiten für Rückschläge, für psychische Tiefpunkte: Stürze, Sitzprobleme, Erkältungen, Erschöpfung, starke oder unfaire Gegner, hohe Berge, gefährliche Abfahrten, Hitze, Kälte und Regen, Defekte und Materialprobleme, wenig kooperative Teamkollegen. Unzählige Gelegenheiten, sich resilient zu zeigen.

Jai Hindley am Fedaia-Pass auf dem Weg zu seinem Sieg beim Giro d´Italia 2022Foto: Getty Velo
Jai Hindley am Fedaia-Pass auf dem Weg zu seinem Sieg beim Giro d´Italia 2022

Resilienz kann man lernen

“Es geht darum: Obwohl es mir schlecht geht, es trotzdem zu machen. Das Trotzdem ist wichtig”, betont Zepp. Salopp gesagt: Als Sieger bei den schwersten Etappenrennen haben echte Trotzköpfe die Nase vorn. Diese Trotzköpfe, die nicht nur schnell fahren, wenn das Wetter schön ist und die Form top, muss man im Talente-Pool erkennen. Oder wie es Christian Pömer, Sportlicher Leiter bei Bora-Hansgrohe, beschreibt: “Es geht darum, die Watt pro Kilogramm auch zu bringen, wenn man sieben Defekte hatte und einen gerade die Freundin verlassen hat.”



Pömers Rennstall hatte sich zur Saison 2022 auf dem Transfermarkt Hindley und den Russen Aleksandr Vlasov geschnappt, die nach dem Abschied von Peter Sagan eine neue Qualität ins Team brachten – als potenzielle Sieger großer Landesrundfahrten, als begabte Widerstandskämpfer. “Es war ein Aha-Erlebnis, als die beiden ins Team kamen”, sagt Pömer, seit mehr als einem Jahrzehnt einer der Sportlichen Leiter des Rennstalls. Er meint die Art und Weise, wie Hindley an das Projekt Giro-­Gesamtsieg trotz einiger Probleme heranging – oder wie Vlasov trotz vieler Rückschläge und Störfaktoren Platz fünf bei der Tour de France verteidigte.

Regen kann man nicht abdrehen

Pömer ist es wichtig, die psychologischen Faktoren im Profiradsport stärker zu betonen, die Sportler auch darin regelrecht zu trainieren. Pömer, selbst einst als Radsportler Halb-Profi, hat einen Master-Abschluss in Mentalcoaching an der Universität Salzburg. Er kennt die Theorie, kann detailliert über Resilienz referieren. Die beiden neu verpflichteten Team-Anführer Hindley und Vlasov zeigten ihm, was sehr gute von den allerbesten Radprofis unterscheidet – vor allem im Umgang mit Problemen und Rückschlägen bei dreiwöchigen Etappenrennen.

Aleksandr Vlasov (im Vordergrund) kämpft sich trotz Stürzen bei der Tour de France 2022 auf Gesamtrang fünf – auch um die Arbeit der Kollegen zu honorierenFoto: Getty Velo
Aleksandr Vlasov (im Vordergrund) kämpft sich trotz Stürzen bei der Tour de France 2022 auf Gesamtrang fünf – auch um die Arbeit der Kollegen zu honorieren

Resilienz ist nicht angeboren, sondern erlernbar. Eigene Erfahrung, Selbstcoaching oder psychologische Betreuung von außen – die nötigen Strategien kann man auf ganz unterschiedliche Art erwerben. So unterschiedlich, wie es die resilienten Rundfahrer-Typen sind. “Einen coolen, lockeren Typ”, nennt Pömer den Giro-Sieger Hindley, “introvertiert und stoisch” sei der Rundfahrtspezialist Vlasov. Der Russe überzeugte in seinem Team mit großer Härte gegen sich selbst, kämpfte bei der vergangenen Tour de France drei Wochen an seinem persönlichen Limit. “Er war weit weg von seinen Bestwerten. Aber er hat heraus­ragende Resilienz gezeigt”, lobt Pömer.

Wie sich Vlasov derart erfolgreich durchkämpfen konnte? “Ich habe solche Strategien einfach über die Jahre als Profi entwickelt”, sagt der Radprofi selbst, ein Autodidakt in Sachen Mentalcoaching. Seine Strategie: “Man darf einen Rückschlag nicht zu persönlich nehmen. Das kann jedem in jedem Moment passieren. Man fokussiert sich dann einfach auf sich, was möglich ist. Das ist man sich selbst und dem Team schuldig. Es bringt auch nichts, sich mit Dingen zu beschäftigen, die man selbst nicht in der Hand hat”, sagt der Russe. Regen beispielsweise kann man nicht einfach abdrehen.

Es geht darum, die Watt pro Kilogramm auch zu bringen, wenn man sieben Defekte hatte und einen gerade die Freundin verlassen hat! (Christian Pömer, Team Bora-Hansgrohe)

Vlasov ist Resilienz-Arbeiter, die großen Gedanken machen sich andere darüber. “Es geht um Achtsamkeit auf sich selbst bezogen”, betont Experte Zepp. Eine Strategie: “Man führt Selbstgespräche und stellt sich Fragen wie: Wo bin ich? Was ist jetzt wichtig?”, sagt er. “Es geht um die Leistung im Sport, im Hier und Jetzt. Alles andere – auch die Gedanken an einen möglichen Misserfolg – sollte man in diesem Moment ausblenden.”

Hindley will in diesem Jahr die nächstgrößere Resilienzprüfung bestehen – bei der Tour de France, wo der Druck, der Stress, die Aufmerksamkeit noch einmal größer sind als beim Giro d’Italia, dem zweitwichtigsten Etappenrennen des Jahres; wo ein paar Störfaktoren hinzukommen. Im Gegenzug versucht sich in diesem Jahr Vlasov als Anführer des Bora-Teams beim Giro – flankiert von Lennard Kämna, der in Italien seinen ersten dreiwöchigen Resilienztest auf höchstem Niveau absolvieren soll. Die beiden Letztgenannten sind vergleichsweise gute Zeitfahrspezialisten, die in diesem Jahr auf der Giro-Strecke bessere Chancen haben dürften.

Der Weg zu großen Siegen ist selten gerad­linig – man muss Um­wege und Rückschläge 
in Kauf nehmenFoto: Getty Velo
Der Weg zu großen Siegen ist selten gerad­linig – man muss Um­wege und Rückschläge in Kauf nehmen

Hinfallen und wieder aufstehen

Sie treffen in Italien voraussichtlich auf starke Konkurrenten: Als Top-Favorit gilt der Slowene Primoz Roglic, der immer wieder mal krachend scheitert, häufig stürzt, aber wieder aufsteht. “Resilienz bedeutet, dass ich wieder aufs Rad steige und mich zurück ins Peloton kämpfe, obwohl es mir vielleicht schwerfällt”, sagt Zepp. Kaum ein Sport erzählt die Geschichte vom ewigen Hinfallen und Wiederaufstehen besser als der Radsport.

Nicht abschreiben sollte man Geraint Thomas. Der 36-jährige Waliser musste beim Giro in der Vergangenheit Tiefschläge einstecken. Sein Ex-Teamkollege Bradley Wiggins sagte einst über ihn: “Er kann so tief gehen, wie ich das noch nie bei jemandem gesehen habe. Er lässt sich von Stürzen nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ein besserer Wettkämpfer als die anderen.” Anders gesagt: resilienter.

Giro d’Italia - Bester Kopf, beste Beine

Aber der Sieger der Tour de France 2018 hat beim kommenden Giro starke Gegner. Newcomer Remco Evene­poel, der mit den wichtigsten Lehren aus dem Vuelta-Sieg im Vorjahr nach Italien kommt: “Nachdem man gestürzt ist, hat man immer nach ein paar Tagen einen Rückschlag, einen schlechten Tag. Falls das im Giro passiert, was ich nicht hoffe, dann sage ich mir: Bleib ruhig, begrenze den Schaden! Und ich weiß jetzt, dass ich an steilen Anstiegen gut bin, daran habe ich hart gearbeitet!”

Bei der Spanien-Rundfahrt 2022 fällt die Anspannung von Sieger Remco Evenepoel abFoto: Getty Velo
Bei der Spanien-Rundfahrt 2022 fällt die Anspannung von Sieger Remco Evenepoel ab

Zwei Erkenntnisse, die ihn resilienter machen. “Wir haben eine perfekte Balance gefunden zwischen Gewicht, Leistung und Ernährung – das war uns nach der Vuelta klar. Wir können keine Überraschungen mehr erwarten – das macht es sehr entspannt”, betont Evenepoel. Was er beeinflussen kann, hat er optimiert. Der Rest liegt nicht in seiner Hand.

Es klingt fast so, als habe der 23-jährige Evenepoel alltagstauglich aus einem Handbuch für Mentalcoaching zitiert. Sicher ist: Auch der kommende Giro wird wieder eine harte Prüfung für die Widerstandsfähigkeit der Radprofis – körperlich wie mental. Am Ende gewinnt der den Giro, der den besten Kopf und die besten Beine hat. “Psyche und Physis sind eng verzahnt”, weiß Pömer.