Mailand-San Remo ist mit 294 Kilometern 2023 das längste Eintagesrennen bei den Profis. Es gibt Menschen, die behaupten, es sei der fairste unter den Radsport-Klassikern. Jeder könne hier gewinnen. Da ist etwas dran, wie der Blick in die Liste der Sieger zeigt: Sprinter wie Mario Cipollini, Erik Zabel oder Arnaud Demare haben hier schon triumphiert, Klassiker-Spezialisten wie Fabian Cancellara, Super-Allrounder wie Wout van Aert und Julian Alaphilippe, Rundfahrtspezialisten wie Vincenzo Nibali und verwegene Downhiller wie Matej Mohoric, der sich mit einer versenkbaren Sattelstütze vom Poggio Richtung Ziel stürzte.
Die Telefonzelle an der Stelle, in der es in Poggio di San Remo bergab Richtung Ziel geht, ist meist der Rennabschnitt, an der das Klassiker-Radrennen entschieden wird: Haben sich Angreifer weit genug vom Rest des Feldes abgesetzt? Denn das ist die Gretchenfrage bei Mailand-San Remo: Ausreißer oder Sprinter? Die Entscheidung verdichtet sich meist auf die letzten Kilometer von der Einfahrt in die Cipressa bis zum Finale auf der Via Roma.
Die Anstiege Cipressa (5,6 Kilometer mit durchschnittlich 4,1 Prozent Steigung) und Poggio (3,7 Kilometer/3,7 Prozent). Wird an der Cipressa extrem schnell gefahren, sind die Sprinter meist erledigt und fallen zurück. Die entscheidenden Attacken fanden meist rund um die mit acht Prozent Steigung steilste Stelle des Poggio statt - rund 6,5 Kilometer vor dem Ziel. Rund 20 Sekunden Vorsprung gelten als erfolgversprechend, bevor es in die Abfahrt und am Meer noch rund zwei Kilometer flach ins Ziel geht.
Gestartet wird Mailand-San Remo nicht mehr am Castello Sforzesco im Zentrum von Mailand - sondern weit außerhalb im Südwesten der lombardischen Metropole, in Abbiategrasso. Die ersten 30 Kilometer sind neu - danach mündet die Strecke bei Pavia auf die Route ein, die meist in den vergangenen Jahren gefahren wurde: Erst flach durch die Po-Ebene, dann über den Passo del Turchino ans Mittelmeer und dort westwärts über die Capi und die beiden entscheidenden Anstiege nach San Remo. Die Gesamtstrecke verlängert sich von 293 Kilometern im Jahr 2022 auf 294 Kilometer.
Benötigt werden Schnellkraft, um den Antritten am Poggio zu folgen oder sich selbst von der Konkurrenz abzusetzen und eine gewisse Endschnelligkeit, falls es zu einem Sprint einer kleinen Gruppe kommt. Zwei Kandidaten, die diese Attribute auf sich vereinen, sind Wout van Aert (Jumbo-Visma) und Mathieu van der Poel (Alpecin-Deceuninck). Allerdings sind beide nicht in der Überform, wie es in manch anderem Jahr bei Mailand-San Remo schon der Fall war. Deshalb dürften bei der Classicissima 2023 noch andere Fahrer ein Wörtchen im Kampf um den Sieg mitreden. An erster Stelle ist da Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) zu nennen. Der Slowene ist in herausragender Verfassung, was er zuletzt bei Paris-Nizza erst wieder bewiesen hat.
Seinen Landsmann Matej Mohoric sollte man nach dessen Vorjahressieg auch nicht unterschätzen. Es gibt wohl keinen Fahrer im Peloton, der die Abfahrt vom Poggio so schnell runterbrettern kann wie der Bahrain-Victorious-Profi. Ein kleines Fragezeichen steht hinter Julian Alaphilippe (Soudal - Quick Step). Der Sieger von 2019 präsentierte sich bei Tirreno-Adriatico in aufsteigender Form, ist aber nach seinen Verletzungen aus der letzten Saison noch nicht ganz wieder der Alte. Nicht mit dabei ist Thomas Pidcock (Ineos Grenadiers), der das Schotterrennen Strade Bianche für sich entschied. Der Brite hat sich bei einem Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen. Dafür dürfte Ineos auf Stundenweltrekordler Filippo Ganna setzen.
Sollte es zu einem Sprint einer großen Gruppe auf der Via Roma bei Mailand-San Remo 2023 kommen, sind Mads Pedersen (Trek-Segafredo), Jasper Philipsen (Alpecin-Deceuninck), Biniam Girmay (Intermarche-Circus-Wanty) und Caleb Ewan (Lotto-Dstny), genau wie sein Teamkollege Arnaud De Lie heiße Kandidaten auf den Sieg. Wobei bei De Lie die große Frage ist, wie kommt er mit seinen 21 Jahren mit einem Rennen klar, das fast 300 Kilometer lang ist?
Weitere Kandidaten mit Außenseiterchancen sind Sam Bennett (Bora-Hansgrohe), Arnaud Demare (Groupama-FDJ), Sören Kragh Andersen (Alpecin-Deceuninck), Magnus Cort Nielsen, Alberto Bettiol (beide EF Education EasyPost), Davide Ballerini (Soudal - Quick Step) und Fernando Gaviria (Movistar).
Alle Radsportfans, die Mailand-San Remo 2023 im TV verfolgen wollen, sind bei Eurosport 2 richtig. Dort beginnt die Fernseh-Übertragung der Classicissima um 9:45 Uhr. Wer das Rennen im Live-Stream verfolgen will, findet bei Discovery+ und GCN+ (beides über Bezahl-Abo) ein passendes Angebot.
Termin: Samstag, 18. März 2023
Distanz: 294 Kilometer
Start: Abbiategrasso; Ziel: San Remo, Via Roma
Auflage: 114.
Premiere: 1907
Spitznamen: La Primavera (Fahrt in den Frühling), La Classicissima (der Super-Klassiker)
Rekordsieger: Eddy Merckx (Belgien, sieben Siege)
Deutsche Sieger: Rudi Altig (1968), Erik Zabel (1997, 1998, 2000, 2001), Gerald Ciolek (2013), John Degenkolb (2015)
Bei Mailand-San Remo gibt es kein Rennen für Frauen.
Ein offizielles Jedermann-Rennen gibt es nicht. Am 4. Juni 2023 findet die RTF Mailand-San Remo statt - über rund 300 Kilometer und auf Teilen der Profistrecke.