Sebastian Lindner
· 19.11.2023
Als Annemiek van Vleuten damit beginnt, Erfolge im Radsport zu feiern, da interessiert sich kaum jemand dafür. Es gibt ihn zwar, den vermeintlich professionellen Frauenradsport, aber Notiz nehmen davon nur die wenigsten. TV-Übertragungen, vielleicht sogar live? Haben allenfalls die Hardcore-Nationen wie die Niederlande in ganz besonderen Ausnahmefällen zu bieten.
Mittlerweile hat sich die Situation komplett verändert. Dass auch Annemiek van Vleuten daran einen großen Anteil hat, ist ihr zwar bewusst, doch öffentlich behaupten würde sie das in dieser Form nie. Sie sei nur ein kleiner Teil dieser erfolgreichen Entwicklung, den der gesamte Frauenradsport in den letzten Jahren durchgemacht hat und es weiter tut.
104 Siege als Profi feiert van Vleuten in ihrer Karriere. Dabei kann sie getrost als Spätstarterin, vielleicht sogar Quereinsteigerin tituliert werden, doch das ist zu dieser Zeit, Ender der 00er Jahre, keine Seltenheit im Frauen-Peloton. In den 13 Jahren, in denen sie sich hauptberuflich dem Radsport widmet, gewinnt sie alles, was es zu gewinnen gibt. Tour de France, Giro, Vuelta, Klassiker, Weltmeister-Titel im Straßenrennen und im Zeitfahren. Nur Olympia-Gold im Straßenrennen bleibt ihr verwehrt - und das mitunter auf tragische Weise.
Bei den Spielen von Rio de Janeiro 2016 liegt van Vleuten 13 Kilometer vor dem Ziel in Führung, nachdem sie sich aus einer vierköpfigen Spitzengruppe abgesetzt hat. Sie ist auf dem Weg zu ihrem größten Erfolg, vor ihr liegt nur noch die Abfahrt. Doch in einer Kurve verbremst sie sich, verliert die Kontrolle über ihr Rad und stürzt kopfüber voll auf eine Straßenbegrenzung. Bewusstlos und mit schwerer Gehirnerschütterung sowie drei gebrochenen Lendenwirbeln kommt sie ins Krankenhaus. Schon zehn Tage später sitzt sie wieder auf dem Rad, einen Monat danach gewinnt sie die Belgien-Rundfahrt.
Fünf Jahre später in Tokio jubelt sie. Doch wie sie erst nach Zieldurchfahrt erfährt, über Silber. Anna Kiesenhofer aus Österreich war bereits deutlich vor ihr über den Strich gefahren. Dafür revanchiert sie van Vleuten drei Tage später mit Gold im Zeitfahren. Dabei ist Revanche nicht das treffende Wort. Sie ziehe ihre Motivation nicht aus Siegen, erklärt sie öfter in Interviews. Ihr gehe es in erster Linie um die Leistung.
Das ist schon zu Beginn ihrer Karriere so. In Vollzeit betreibt van Vleuten den Radsport seit 2010. Da ist sie bereits 27 Jahre alt. Drei Jahre zuvor geht sie erstmals für ein niederländisches Amateur-Team an den Start. Eines ihrer ersten Rennen ist jenes, das heute Simac Ladies Tour heißt. Dort bestreitet sie in diesem Jahr den letzten Wettkampf ihrer Profikarriere. Als sie am Ende der letzten Etappe über den Zielstrich fährt, wird sie in Arnhem von Tausenden Menschen bejubelt.
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16 Jahre zuvor war das anders. Einerseits gibt es kaum Zuschauer, andererseits ist Annemiek van Vleuten eine Amateurin, die in erster Linie einem Bürojob nachgeht, Tierwissenschaften studiert hat und mit einem Master in Epidemiologie abgeschlossen hat. Davor spielt sie Fußball, bis Ärzte ihr nach einer Knieverletzung davon abraten.
Der Erfolg ist in den ersten Jahren mäßig, bis sich van Vleuten dazu entscheidet, ganz auf den Radsport zu setzen. Im Team Nederland bloeit, aus dem sich später das Profiteam Rabobank entwickelt, fährt sie an der Seite von Marianne Vos, die zwar mehr als vier Jahre jünger ist, zu diesem Zeitpunkt aber bereits mehr als 70 Siege auf dem Konto hat. Im April 2010 gelingt ihr der erste Sieg. Die Ronde van Drenthe gewinnt sie als Solistin vor Ina-Yoko Teutenberg. Vier weitere kommen in diesem Jahr noch dazu, unter anderem mit La Route de France ihre erste Rundfahrt. Sie verweist Judith Arndt auf den zweiten Platz.
2011 ist das erste Jahr, in dem van Vleuten ihr Potenzial zeigt. Ihr Fokus liegt auf den Eintagesrennen. Drei Weltcup-Rennen gewinnt sie in diesem Jahr: Zunächst mit der Flandern-Rundfahrt das bedeutendste, dazu noch den GP de Plouay sowie die Open du Suede Vargada in Schweden. Ein Jahr später feiert sie acht Siege, doch auf internationaler Ebene sind es keine wichtigen Rennen, die sie für sich entscheiden kann. Allerdings wird sie erstmals Niederländische Meisterin und schlägt dabei Teamkollegin Vos, die in jenem Jahr nahezu unbesiegbar ist und mehr als jeden dritten ihrer 43 Renntage als Siegerin beendet.
Auch 2013 läuft nicht optimal. Van Vleuten gewinnt lediglich drei Etappen, unter anderem eine bei der Thüringen-Rundfahrt. Dazu kommen einige Top-10-Resultate, aber nichts, was daraufhin deuten könnte, dass die mittlerweile 30-Jährige im vermeintlichen Spätsommer ihrer Karriere noch für Furore sorgen würde.
Doch in Wirklichkeit ist es erst lauer Frühling, wie Annemiek van Vleuten 2014 beweist. Nach dem nationalen Meistertitel im Zeitfahren gewinnt sie in der zweiten Saisonhälfte zwei Etappen bei Giro und wird Gesamtachte. Zwei Etappensiege gibt es für sie auch bei der Belgien-Rundfahrt, dazu den Gesamtsieg. Aber auch das ist noch nicht die absolute Initialzündung zu einer der größten Karrieren im Frauenradsport. Denn 2015 scheint sich van Vleuten zur Prologspezialistin zu mausern - ihre drei Siege in der Saison stammen jeweils aus den Auftaktzeitfahren dreier Rundfahrten, unter anderem wieder des Giro. Vielleicht liegt ihr aber auch das neue Team nicht, doch Bigla bleibt nach dem Verlassen von Rabobank-Liv ein einjähriges Abenteuer.
Dann kommt das Jahr von Rio, in dem van Vleuten kurz vor ihrem ersten ganz großen Triumph seit der Flandern-Rundfahrt fünf Jahre zuvor auf die dramatischste Art und Weise ausgebremst wird. Doch das scheint ein Schlüsselmoment zu sein. Denn im Jahr darauf wird van Vleuten bei Orica bzw. Mitchelton-Scott zu der Siegfahrerin, die sie bis zum Ende ihrer Karriere ist.
2017 gewinnt die Niederländerin, mittlerweile 34 Jahre alt, ihren ersten Weltmeistertitel im Einzelzeitfahren. Früher im Jahr gewinnt sie erneut zwei Etappen beim Giro und landet als Dritte erstmals auf dem Podium einer der ganz großen Rundfahrten. Bei nahezu allen wichtigen Klassikern fährt sie in die Top 6, beim erstmals für Frauen veranstalteten Amstel Gold Race wird sie Dritte.
Der Bann ist gebrochen. Drei Etappesiege beim Giro reichen 2018 erstmals für den Gesamtsieg - drei weitere sollen folgen. Zum zweiten Mal in Serie gewinnt sie die Simac Ladies Tour, zudem verteidigt sie Zeitfahr-Gold bei der WM. Zu Beginn der Saison macht sie bei der Heim-WM in Apeldoorn einen Abstecher auf die Bahn und holt dort Silber in der Einerverfolgung. Ab jetzt wird jedes Jahr besser.
2019 wiederholt van Vleuten den Gesamtsieg beim Giro, gewinnt Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Strade Bianche. Dazu kann sie ihren ersten Sieg bei der WM im Straßenrennen feiern. Im schwer zu wertenden Corona-Jahr 2020 wiederholt sie den Sieg bei Strade Bianche und gewinnt erstmals den Omloop Het Nieuwsblad. Zudem wird sie Europameisterin auf der Straße. Im Jahr darauf folgt der erste Triumph bei der Vuelta, der erste Sieg bei der Clasica San Sebastian und ihr zweiter bei der Flandern-Rundfahrt. Obendrein Olympia-Gold im Zeitfahren.
Und dann ist es 2022. Obwohl die Konkurrenz immer stärker wird, ist van Vleuten, die im Jahr davor zum Team Movistar gewechselt ist, nicht zu bremsen - und das mit 39 Jahren. Im Februar gewinnt sie die Volta Comunitat Valenciana und den Omloop. Es folgen Platz 2 im März bei Strade Bianche und im April bei der Ronde, Platz 4 beim Amstel Race und wieder Platz 2 beim Fleche Wallonne. Lüttich-Bastogne-Lüttich gewinnt sie.
Dann wird es Juli. Innerhalb eines Monats stehen der Giro und die erstsmals auszutragenen Tour de France Femmes auf dem Plan. Mit zwei Etappensiegen gewinnt sie ihren dritten Giro und reist nicht nur dadurch als Top-Favoritin nach Paris, wo die Frauen-Tour beginnt, bevor die Männer auf die Champs-Élysées einbiegen. Auf den ersten Teilstücken lässt sie es ruhig angehen, der Konkurrenz den Vortritt. Bis es letztlich entscheidend wird. Auf der vorletzten Etappe nach Le Markstein in den Vogesen setzt van Vleuten zur großen Solofahrt an. Auf ihre ärgste Rivalin Demi Vollering holt sie auf der Etappe dreieinhalb Minuten heraus, der Rest des Feldes bekommt mindestens fünf.
Hinauf zur Super Planche des Belles Filles, wo die Tour endet, ist es enger. Aber nur, weil van Vleuten nicht mehr muss. Trotzdem gewinnt sie erneut mit 30 Sekunden Vorsprung auf Vollering und feiert, wie sie es später sagt, den größten Sieg ihrer Karriere. Doch satt ist sie dennoch nicht. Im selben Jaht gewinnt van Vleuten auch noch die Vuelta und den Weltmeistertitel auf der Straße - letzteren mit gebrochenem Ellbogen.
Nach dem Höhepunkt ihrer Karriere kündigt sie für die Saison darauf deren Ende an. Doch auch mit 40 soll ihr letztes Jahr keine reine Abschiedstour werden - obwohl ihr Vollering immer mehr im Nacken sitzt und nur darauf wartet, die Landsfrau endlich als Platzhirsch abzulösen. Und das gelingt der 13 Jahre jüngeren Vollering auch. Sie gewinnt das Ardennen-Tripple und die Tour. Aber den Vuelta-Sieg kann van Vleuten verteidigen. Neun Sekunden ist sie schneller als ihre Kronprinzessin. Und auch den Giro kann sie erneut und damit ein viertes Mal gewinnen, mit drei Etappensiegen ganz dominant. Allerdings ist ihre große Widersacherin da nicht dabei.
Ob Annemiek van Vleuten selbst noch daran geglaubt hat, der schieren Übermacht von Vollering bei der Tour nochmal etwas entgegensetzen zu können, bleibt ihr Geheimnis. Auf jeden Fall zeigte sie in den Interviews danach keine Anzeichen von Frust, schien mit der Sache im Reinen. Dabei wurde sie nich nur von Vollering geschlagen, sondern auch noch von Lotte Kopecky und Kasia Niewiadoma.
Für die Zukunft, sagte van Vleuten jüngst cyclingnews.com, habe sie noch keine konkreten Pläne, lediglich ein paar Ideen. Der Radsport-Ruhestand mache ihr keine Probleme, nicht dauernd irgendwelchen Zielen hinterherzujagen versetze sie ein wenig zurück in ihre Vergangenheit. Doch auch dank Annemiek van Vleuten und ihrer 104 Siege wird der Frauenradsport nie mehr so sein wie noch vor ein paar Jahren.