Thomas Goldmann
· 15.03.2024
* Jasper Philipsen, Olav Kooij, Michael Matthews, Alexander Kristoff, Maxim van Gils
** Biniam Girmay, Christophe Laporte, Jonathan Milan
*** Matej Mohoric, Filippo Ganna, Thomas Pidcock
**** Mads Pedersen, Alberto Bettiol
***** Mathieu van der Poel, Tadej Pogacar
* Je mehr Sterne ein Fahrer erhält, desto stärker ist er einzuschätzen
Es gab Zeiten, da war Mailand-San Remo mal ein Rennen für die Sprinter - die letzten Jahre sprechen allerdings eine andere Sprache. 2016 gab es zum letzten Mal einen klassischen Sprint am Ende der gut 300 Kilometer langen Fahrt in den Frühling - gewonnen von Arnaud Demare. 2024 dürften die reinen Sprinter schlechte Karten haben.
Schließlich sind die Protagonisten des Vorjahres auch bei der 115. Austragung der “Classicissima” wieder vorne zu erwarten - zwei ganz besonders: Mathieu van der Poel (Alpecin-Deceuninck) und Tadej Pogacar (UAE Team Emirates). Van der Poel war es, der das Rennen 2023 für sich entschied. Dabei parierte der Niederländer zunächst die Attacke von Pogacar am Poggio di San Remo, dem Haupthindernis des Tages, erfolgreich und setzte die Konkurrenz mit einem unwiderstehlichen Antritt in den Wind. Folgt dieses Jahr die Revanche von Pogacar? Das lässt sich schwer sagen. Fest steht, dass der zweimalige Sieger der Tour de France in herausragender Form ist, was er mit seinem Monster-Solo über 80 Kilometer bei Strade Bianche bewiesen hat. In puncto Formstärke kann ihm wohl kaum jemand das Wasser reichen.
Es heißt aber nicht umsonst, dass Mailand-San Remo das einfachste der fünf Radsport-Monumente ist, allerdings auch das, das am schwierigsten zu gewinnen ist. Das hat auch schon Pogacar feststellen müssen. Bereits im Vorjahr war er in bestechender Form - es fehlte aber schlicht und einfach das Terrain, um sich abzusetzen. Der Poggio di San Remo ist nicht anspruchsvoll genug für einen Fahrer wie Pogacar, um eine große Differenz herauszufahren. Es braucht eher einen Puncheur als einen Bergfahrer, um das zu schaffen. Nicht umsonst hat in diesem Jahrtausend mit Vincenzo Nibali nur ein Grand-Tour-Sieger die “Primavera” gewonnen. Der Italiener war nicht der explosivste Fahrer, seine siegreiche Attacke erfolgte eher aus dem Hinterhalt. Das wird für Pogacar am Samstag nur schwer möglich sein, denn alle wissen um seine Stärke.
Etwas anders sieht es bei van der Poel aus. Der amtierende Straßenweltmeister ist explosiver im Antritt als Pogacar, was im Vorjahr den Unterschied machte und hat sich auch noch nicht so exponiert wie sein großer Gegenspieler. Mailand-San Remo ist das erste Straßenrennen, das der Profi von Alpecin-Deceuninck 2024 bestreitet - seine Form ist somit für die Konkurrenz eine Blackbox. Einen ähnlichen Ansatz wählte van der Poel bereits 2022, als er auch ohne vorherigen Renneinsatz in Mailand an den Start ging. Am Ende wurde er Dritter.
Wer kann die beiden Ausnahmekönner gefährden? Einer der Kandidaten dafür ist Mads Pedersen (Lidl-Trek). Der Däne hat bereits sechs Siege in diesem Jahr auf dem Konto, nur sein Landsmann Jonas Vingegaard (7) hat mehr. Pedersen ist in der Form seines Lebens. Beeindruckend war vor allem bei Paris-Nizza zu sehen, wie gut sich der sprintstarke Allrounder in den Anstiegen schlug. Gute Vorzeichen, um am Poggio mit den Besten mitzuhalten - oder zumindest nur mit einem kleinen Rückstand auf die letzten Kilometer zu gehen.
Ähnlich stark wie Pedersen einzuschätzen ist Alberto Bettiol (EF Education EasyPost). Der Italiener hätte vor einer Woche nur maximal einen Stern in unserer Favoritenliste bekommen, sein Auftritt bei Mailand-Turin am Mittwoch katapultierte ihn aber in andere Sphären. 30 Kilometer vor dem Ziel trat der 30-Jährige an und feierte einen Solo-Sieg. Der Sieger der Flandern-Rundfahrt 2019 ist sehr explosiv im Antritt und nach seinem Husarenritt unter der Woche auch einer der Top-Favoriten am Samstag.
Einen Stern weniger erhält Matej Mohoric (Bahrain-Victorious). Der Slowene ging 2022 in die Geschichtsbücher des Radsports ein, als er in der Abfahrt vom Poggio mit einer absenkbaren Sattelstütze die Konkurrenz abhängte. Der 29-Jährige ist gut in Form (5. bei Strade Bianche). Um in San Remo zu gewinnen, wird er sich aber wohl eine ähnlich verwegene Taktik wie vor zwei Jahren zurechtlegen müssen.
Ebenfalls drei Sterne geben wir dem Ineos-Grenadiers-Duo Filippo Ganna und Thomas Pidcock. Ganna überraschte im Vorjahr mit einem bärenstarken Auftritt in San Remo, als er Pogacar am Poggio am Hinterrad klebte und den Slowenen und Wout van Aert wenig später im Sprint um Platz zwei schlug. Der Stundenweltrekordhalter kommt mit Platz zwei im Auftaktzeitfahren von Tirreno-Adriatico als Formnachweis an die ligurische Küste und sollte bei einem Sprint einer kleineren Gruppe zu beachten sein.
Das gilt auch für Thomas Pidcock. Der britische Alleskönner macht im bisherigen Saisonverlauf den Eindruck, als würden ihm noch ein paar Prozente zur Top-Form fehlen. Wenn er die am Samstag hat, sollte er am Poggio dranbleiben können oder gar selbst in die Offensive gehen können.
2022 schaffte Biniam Girmay mit dem Sieg bei Gent-Wevelgem und einem Tageserfolg beim Giro d’Italia - nach dem er sich einen Prosecco-Korken ins Auge schoss - seinen großen Durchbruch. Nach einer durchwachsenen Saison 2023 ist der Mann aus Eritrea in diesem Frühjahr wieder voll da. Das zeigte er zuletzt mit seinen starken Auftritten bei Tirreno-Adriatico. Obgleich er dort in den Sprints teilweise über die Stränge schlug und auf der zweiten Etappe dafür bestraft wurde. Bei einem Sprint einer kleinen Gruppe am Samstag sollte mit dem Teamkollegen des deutschen Georg Zimmermann zu rechnen sein.
Eine der großen Fragen bei Mailand-San Remo 2024 lautet: Wie ersetzt Visma | Lease a Bike Wout van Aert? Der belgische Superstar gewann die “Classicissima” 2020, lässt sie aber dieses Jahr aus, um sich voll auf die Kopfsteinpflasterrennen in Belgien und Frankreich zu fokussieren. Die niederländische Mannschaft hat zwei gute Optionen: Christophe Laporte für den Sprint einer kleinen Gruppe oder eine Attacke am Poggio und Olav Kooij für den klassischen Sprint einer großen Gruppe, was aber ein unwahrscheinliches Szenario ist.
Apropos Sprinter: Da ist vor allem noch Jonathan Milan (Lidl-Trek) zu nennen, der in beeindruckender Manier zwei Etappen bei Tirreno-Adriatico gewann. Mit seinen 84 Kilo dürfte er es aber schwer haben, den Attacken am Poggio zu folgen. Auch Jasper Philipsen (Alpecin-Deceuninck) ist einer dieser endschnellen Männer, dürfte aber in seinem Team nur Plan B sein, sollte van der Poel ein Problem haben. Ähnliche Rollen dürfte UAE Team Emirates für Marc Hirschi, Tim Wellens oder Isaac del Toro vorgesehen haben, falls es mit Pogacar nicht klappt.
Mit Alexander Kristoff (Uno-X Mobility) haben wir noch einen ehemaligen Sieger des Rennens in unsere Liste aufgenommen. Vor zehn Jahren siegte der mittlerweile 36-Jährige in San Remo. Mit Platz zwei auf der Schlussetappe von Tirreno-Adriatico ließ der Routinier aufhorchen. Der zähe Norweger ist ein Kandidat, den es bei einem Sprint einer größeren Gruppe zu beachten gilt. Genau wie Michael Matthews (Team Jayco-AlUla). Der Australier war 2015 und 2020 Dritter bei Mailand-San Remo. Und 2024? Nunja, Matthews ist mit 33 auch schon etwas in die Jahre gekommen. Nach dem Ausfall von Caleb Ewan aber zumindest uneingeschränkter Kapitän seines Teams.
Zu guter Letzt noch ein Außenseitertipp: Maxim van Gils (Lotto-Dstny). Der 24-jährige Belgier ist eine der Entdeckungen der Saison. Mit dem Sieg beim Einzelzeitfahren der auf einen Tag eingedampften Ruta del Sol und vor allem Platz drei bei Strade Bianche, als er erst in der Schlussrampe in Siena Toms Skujins (Lidl-Trek) ziehen lassen musste.
Mit Nico Denz (Bora-Hansgrohe), Simon Geschke (Cofidis), Jonas Rutsch (EF Education EasyPost), Georg Zimmermann (Intermarche-Wanty), Nikias Arndt (Bahrain-Victorious), Alexander Krieger und Marius Mayrhofer (beide Tudor Pro Cycling Team) stehen lediglich sieben deutsche Fahrer in der Startliste.
Um den Sieg kämpfen dürfte keiner von ihnen. Chancen auf ein gutes Ergebnis sollte am ehesten Mayrhofer haben. Der 23-Jährige ist gut in Form, allerdings dürfte ein Platz unter den besten 15 schon das höchste der Gefühle sein.