Andreas Kublik
· 23.12.2022
Mathieu van der Poel, Wout van Aert und Tom Pidcock: Der Profiradsport gebiert zunehmend Alleskönner, die auf der Straße wie im Gelände erfolgreich sind. Aber woher kommt diese Entwicklung und wohin kann sie führen?
Menschen fliegen. Auf Fahrrädern. Und das fast lautlos. Szenen vom Neujahrstag 2020, vom Cyclocrossrennen GP Sven Nys in Belgien. Die weltbesten Spezialisten im Querfeldein kämpfen um den Sieg. Aber es geht auch um die Show. Bei den inoffiziellen Haltungsnoten für die Tailwhips, die Sprünge mit quergestelltem Rad, lag der Newcomer Tom Pidcock schon vor dem ausgewiesenen Flugshowexperten und mehrmaligen Cyclocross-Weltmeister Mathieu van der Poel. In der Ergebnisliste wird der Status quo nochmals manifestiert: Der Niederländer van der Poel gewinnt das prestigereiche Querfeldeinrennen, der viereinhalb Jahre jüngere Pidcock wird Dritter.
Aber mit seinem Auftritt hatte der junge Brite das Cross-Establishment sichtbar herausgefordert. Ein Jahr später, auf tiefem Geläuf, das keine Flugeinlagen erlaubte, lautete das Ergebnis: van der Poel vor Wout van Aert und Pidcock. „Wir pushen uns gegenseitig auf ein höheres Level“, sagte van Aert im TOUR-Interview im Spätsommer 2018 über seine vielen Zweikämpfe mit van der Poel. Nun haben sie mit ihren Duellen auch Pidcock angespornt. War der Jungprofi im Trikot der Ineos Grenadiers Anfang 2021 noch so etwas wie der Junior-Partner im Triumvirat der Alleskönner, hat er mittlerweile gleichgezogen: Es folgten 2021 Olympiasieg auf dem Mountainbike, 2022 im Februar Weltmeistertitel im Cyclocross und im Sommer der mitreißende Etappensieg in Alpe d’Huez bei der Tour de France. Pidcock zählt nun zu den drei Athleten, die den Radsport auf ein neues Level gehoben haben – zumindest in Sachen Vielseitigkeit, kombiniert mit Unterhaltungswert.
Mittlerweile ist der Profi-Radsport zu einer echten Mehrkampf-Disziplin geworden: Das Trio streitet sich in Schlammschlachten um den Ruf des weltbesten Cross-Spezialisten, Pidcock und van der Poel machen Serienweltmeister Nino Schurter im Kampf um die Titel auf dem Mountainbike Beine, van der Poel und van Aert zählen mittlerweile in jedem Frühjahr zu den ersten Anwärtern auf Siege bei Paris-Roubaix oder Flandern-Rundfahrt – allen dreien traut man zu, irgendwann das Regenbogentrikot des Straßenweltmeisters zu erobern. Bei van Aert und Pidcock wurde schon die Frage gestellt, ob sie eines Tages die Tour de France gewinnen können.
Derartig erfolgreiche Vielseitigkeit galt im modernen Radsport lange als undenkbar. Bis die Vorreiter der neuen Generation alle bisherigen Denkverbote ablehnten. „Das sind Ausnahmetalente – die haben alle einen großen Motor“, sagt Dan Lorang. Der Cheftrainer des Team Bora-Hansgrohe schätzt alle drei auf eine maximale Sauerstoffaufnahme von 82 bis 86 ml/kg/min. Zum Vergleich: Chris Froome wies beim Tour-Sieg 2015 einen Wert von 84 auf. Aber die drei Radsport-Wunderkinder bringen nicht nur ausdauernd viel Kraft aufs Pedal – viel mehr als fast alle Berufskollegen. Die große körperliche Veranlagung ist der eine Grund für die neue Entwicklung. Der größte Unterschied aber ist: Sie können noch mehr. Und das Trio will und darf seine Vielseitigkeit auch regelmäßig zeigen.
„Die Rennfahrer der aktuellen Generation kommen eher mit Wünschen und Forderungen. Früher hat man sich als Junger hinten angestellt“, betont Lorang und ergänzt, derartige Rennprogramme wie die des Trios seien einst „keine Option“ gewesen. Nun haben die vielseitigen Top-Stars binnen kürzester Zeit ein Umdenken bewirkt.
Begonnen hat es wohl mit einem fast symbiotischen Erfolgspaar: Christoph Roodhooft, der mit seinem Bruder Philip Chef des neuen World-Tour-Rennstalls Alpecin-Deceuninck ist, arbeitete früh mit van der Poel zusammen. Dessen herausragendes Allround-Talent war für alle sichtbar – dank der Weltmeister-Titel bei den Junioren im Querfeldein und auf der Straße. „Das gab es immer schon“, urteilt Roodhooft und verweist auf Eddy Merckx, Roger De Vlaeminck oder Adrie van der Poel, Mathieus Vater. Alle waren auf der Straße und im Gelände erfolgreich. „Aber man muss ein top Cyclocross-Rennfahrer sein, wenn man auf die Straße wechseln will. Umgekehrt geht das nicht“, betont der Teamchef, der jahrelang einen der starken belgischen Cross-Rennställe betrieb.
Doch in allen Disziplinen ist die Leistungsdichte seit den Zeiten von De Vlaeminck und van der Poel senior gestiegen – die vielseitigen Leistungen heute sind viel höher zu bewerten. „Vor 10, 15 Jahren haben die Straßenteams über Cyclocross gelacht und wollten keine Crossfahrer haben“, erinnert sich der belgische Teamchef, „das waren Straßenteams der alten Schule, wo man glaubte, dass Straßenrennen das Einzige sind, was im Radsport zählt. Wir haben immer daran geglaubt, dass man Disziplinen kombinieren kann, weil wir den Radsport im Gelände mögen. Jetzt sehen viele Radmarken auch den Vorteil.“ Team Roodhooft-van der Poel wurde so zur Avantgarde – gefolgt von van Aert, der nach Jahren als Cross-Spezialist schnell den Durchbruch als Klassikerspezialist im Straßenradsport schaffte.
„Das Potenzial wurde erst durch den Erfolg der beiden erkannt“, sagt Rolf Aldag als Sportchef beim deutschen Team Bora-Hansgrohe. Potenzial bedeutet auch: Das Ganze fällt auf finanziell fruchtbaren Boden. Zwischen 1,5 und 5 Millionen Euro müssen die Firmen in die Hand nehmen, die ein Top-Profiteam mit Fahrrädern ausstatten wollen – zusätzlich zum Materialwert für die bis zu 200 Straßen- und Zeitfahrräder. Wenn ein Athlet wie van der Poel mit unterschiedlichen Radgattungen Weltmeisterschaften auf Straße, im Cross, im Mountainbiking und neuerdings in der Disziplin Gravel bestreitet, ist das seinem Ausrüster Canyon mehr als recht – zumal der Trend weitere Türen öffnet: „Auch die Teams, die konservativer sind, überlegen jetzt, mehr zu machen, um die Sponsoren zu bedienen“, beobachtet Andreas Walzer, beim Radhersteller Canyon verantwortlich für die Zusammenarbeit mit den zahlreichen Profiteams und Profis.
Das große Problem: die Atemlosigkeit beim ständigen Wechsel der Disziplinen im Jahresverlauf. Die Cross-Saison läuft, während Straßenradprofis gemeinhin Urlaub machen oder an den Grundlagen arbeiten. Die Mountainbikerennen lassen sich nur in enge Lücken im dicht gefüllten Straßenkalender während des Sommers stopfen. Regelmäßige Starts sind für Ranglistenpunkte nötig. „Ein Körper freut sich bedingt darüber. Das geht nicht immer alles“, warnt Aldag vor der Rastlosigkeit, die als Damoklesschwert über dem Alleskönnertum schwebt. Angesichts der gestiegenen Leistungsdichte in allen Disziplinen brauchen die Super-Allroundtalente ein bisschen Anlauf, bevor sie die Spezialisten in Grund und Boden fahren können.
Obwohl die Profis auf der Straße heute weniger Einsatztage haben als früher, bleibt es ein Balance-Akt zwischen Belastung und Erholung, bei dem man die Hochveranlagten quasi vor ihrem eigenen Talent, respektive Ehrgeiz, schützen muss. Altgedienten Spezialisten bleibt angesichts der ganzjährigen Mehrfachbelastung nur Verwunderung. „Wie die Jungs das machen, weiß auch ich nicht. Ich könnte so ein Programm auf alle Fälle nicht abspulen. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ein van der Poel das Programm, das er aktuell durchzieht, nicht auf ewig aushält“, sagte der mittlerweile zehnmalige MTB-Weltmeister Nino Schurter der Mountainbike-Zeitschrift BIKE über seine Konkurrenten van der Poel und Pidcock.
Kurt Bogaerts, Pidcocks langjähriger Trainer, spricht davon, dass die Leistungssteuerung in drei Disziplinen „ein großes Puzzle“ sei. Und nicht immer fügen sich die Teile perfekt ineinander. In der abgelaufenen Saison hat man auch die Grenzen des ewigen Vielseitigkeitswettbewerbs gesehen. „Wenn der Kopf klar ist, ist das alles kein Problem“, behauptet Roodhooft. Aber wehe, wenn Kopf oder Körper sich gegen den Dauerstress wehren – wie zuletzt bei van der Poel: schwerer Sturz im olympischen Mountainbike-Rennen, Verletzungsprobleme und Abbruch der folgenden Cross-Saison. Siegen bei Flandern-Rundfahrt und auf einer Giro-Etappe folgten Aufgabe bei der Tour und das Desaster zum Abschluss der Straßensaison: Nach einem nächtlichen Handgemenge im Hotel gab van der Poel das WM-Straßenrennen nach wenigen Kilometern entnervt auf. „Es war nicht ganz unerwartet, dass er diesen Ausraster in Australien hatte – er steht schon unter Druck“, meint Aldag.
Die Rennfahrer der aktuellen Generation kommen früh mit Forderungen und Wünschen. Früher hat man sich als Junger hinten angestellt. - Dan Lorang
Auch Pidcock brach die Straßensaison vorzeitig ab. Dennoch: „Der Plan ist es, mit den drei Disziplinen weiterzumachen. Für Tom ist es eine Herausforderung, dadurch langweilt er sich nicht. Im Gelände muss er aus seiner Komfortzone raus – das macht aus ihm einen besseren Athleten“, sagt sein Trainer Bogaerts. Und mittlerweile sieht man, dass die Straßenrennen ähnlich gefahren werden wie Cyclocross oder Mountainbike-Rennen: viel früher offensiv und im Kampf Mann gegen Mann. „Die Klassiker, aber auch die Grand Tours, werden heute sehr aggressiv, sehr intensiv gefahren. Die Offroad-Disziplinen sind kürzer, aber sehr intensiv – das bringt Vorteile für den Stil, wie er auf der Straße gefahren wird“, betont der Pidcock-Coach. Noch ein Argument, beides zu verbinden.
Deutschland hängt bei dieser Entwicklung hinterher. Ein junger Allgäuer könnte das ändern: Emil Herzog gewann in eindrucksvoller Manier die Straßen-WM bei den Junioren – wenige Wochen zuvor hatte er eine Medaille bei der Mountainbike-WM verpasst. „Vielleicht haben wir schon den nächsten Tom Pidcock“, unkt Ralph Denk, der Herzog in seinem Nachwuchsteam Auto Eder förderte und gute Chancen für dessen Zukunft in seinem World-Tour-Rennstall Bora-Hansgrohe sieht. Es scheint, als habe die neue Entwicklung eine längerfristige Zukunft.