Julian Schultz
· 30.12.2022
In der Finanzkrise 2008 stand der GST-Windkanal von Ernst Pfeiffer kurz vor der Schließung. Inzwischen kann sich der Diplom-Ingenieur kaum noch vor Aufträgen aus der Fahrradbranche retten. Was TOUR damit zu tun hat und wie Pfeiffer die Aero-Optimierung von Rennrädern einschätzt, darüber sprachen wir mit “Mister Windkanal”.
Ernst Pfeiffer ist ein alter Hase, wenn es um Windkanal-Messungen geht. Nachdem der 60-jährige Diplom-Ingenieur jahrelang für Flugzeughersteller Dornier in Immenstaad am Bodensee tätig war, gründete er 1994 mit zwei Mitstreitern die Gesellschaft für Strömungsmesstechnik (GST). Seit knapp 13 Jahren betreibt er den Windkanal in Eigenregie und führt neben Messungen für die Luft- und Raumfahrtindustrie auch Aerodynamik-Tests für die Fahrradbranche aus. In Kooperation mit TOUR entwickelte Pfeiffer ein Messverfahren, das bis heute den weltweiten Maßstab setzt.
Das Interview führte Julian Schultz
TOUR: Herr Pfeiffer, welches Rennrad fahren Sie eigentlich?
Ernst Pfeiffer: (lacht) Ich habe mit dem Rennrad, ehrlich gesagt, gar nichts am Hut.
TOUR: Wir dachten, dass Sie dank Ihrer Expertise in Sachen Aerodynamik eines der schnellsten Rennräder fahren …
Pfeiffer: Nein. Ich bin noch nie sportlich Rad gefahren. Mit dem Radsport kam ich als Fernsehzuschauer zu den Hochzeiten des Team Telekom in Berührung. Ich wusste damals schon, dass auch Radfahrer in den Windkanal gehen, als wir den Prüfstand gebaut haben. Dass es aber so ein Hype wird, damit habe ich nicht gerechnet.
TOUR: Seit nunmehr zehn Jahren führen Sie gemeinsam mit TOUR Aerodynamik-Messungen von Rennrädern in Ihrem Windkanal in Immenstaad durch. Wie kam es dazu?
Pfeiffer: Während der Wirtschaftskrise 2008 war die GST (Gesellschaft für Strömungsmesstechnik, Anm. d. Red.) nicht ausgelastet und ich habe mir ein neues Geschäftsfeld überlegt. In meinem Kopf waren damals nicht einzelne Rennräder, sondern die Fahrer in Kombination mit dem Rennrad. Ich habe dann einen Fahrradprüfstand gebaut und eine Annonce unter der Überschrift “Fahrrad im Windkanal” geschaltet. Da haben sich ein paar gemeldet - unter anderem Robert Kühnen (TOUR-Testingenieur, Anm. d. Red.). Kurz nach der Eurobike in Friedrichshafen haben wir dann gemeinsam die erste Messung gemacht - und sind ins Fachsimpeln gekommen. Als Robert dann wieder ging, meinte er: “Jetzt hab ich gesehen, wie man es gut machen kann.”
TOUR: Nicht nur TOUR erkannte die Vorzüge Ihrer Anlage. Längst testen auch zahlreiche Hersteller wie Canyon oder Giant bei Ihnen, zudem waren schon namhafte Triathleten wie der mehrmalige Ironman-Champion Jan Frodeno zu Gast.
Pfeiffer: Das macht mich schon ein bisschen stolz. Meine Kunden schätzen, dass der GST-Windkanal in Europa die Maßstäbe setzt. Sie bekommen hier sehr genaue und reproduzierbare Ergebnisse. Dass der Windkanal so bekannt wurde, habe ich TOUR zu verdanken.
TOUR: Inzwischen kommt kaum ein neues Wettkampfrad auf den Markt, das nicht vorher im Windkanal aerodynamisch optimiert wurde. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Pfeiffer: Die Aerodynamik ist ein Riesen-Hype. Die Fahrräder sind bereits extrem hoch entwickelt. Die letzten Watt, die man herauskitzeln will, werden unheimlich teuer. Irgendwann wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die ein, zwei Watt nicht mehr entscheidend sind. Klar ist es für die Hersteller wichtig, wenn sie im TOUR-Test das schnellste Rad haben. Neben den Rädern sehe ich aber noch mehr Potenzial bei Helmen und Trikots.
TOUR: Hand aufs Herz: Gibt es Rennrad-Hersteller, die bei den Messungen tricksen wollten, um ein besseres Ergebnis zu erzielen? Die Aerodynamik ist schließlich ein starkes Verkaufsargument.
Pfeiffer: Nein, das würde ich auch nicht mitmachen. Jeder Hersteller macht sein Rad so schnell, wie er kann. Ich weiß, dass zwischen Herstellern auch schon mal Diskussionen aufkamen, weil es unterschiedliche Ergebnisse waren. Aber das liegt dann meistens an Messungen mit unterschiedlichen Reifenbreiten. Die Sache ist ganz einfach: Ich bekomme vom Hersteller Räder - und die messe ich. Ich bin Messknecht und kein Entwickler. Die Kunden sagen, was ich zu messen habe. Wie die Ergebnisse interpretiert werden, ist jedem selbst überlassen. Es kommt natürlich schon vor, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Zum Beispiel wenn ein Rad mit 25-Millimeter-Reifen mit einem Modell mit breiteren Pneus verglichen wird. Aber das muss dann jeder selbst beurteilen.
TOUR: Welchen Anteil nehmen die Messungen mit Radsportbezug in Ihrem Windkanal ein? Sie haben ja auch noch andere Prüfstände für Rotoren von Windkraftanlagen oder Propeller von Flugzeugen.
Pfeiffer: Insgesamt waren es bislang deutlich mehr als 1000 Räder. In den vergangenen fünf Jahren war der Windkanal zur Hälfte mit Messungen von Rennrädern und Komponenten ausgelastet. Die zweite Basis sind Kleinwindturbinen. In diesem Jahr war es auch sehr viel Luftfahrt, wie beispielsweise Flugtaxis. Ich musste heuer deshalb auch drei Spitzen-Triathleten absagen, die auf Kona (Ironman-WM auf Hawaii, Anm. d. Red.) gestartet sind.
TOUR: Worin liegt die besondere Herausforderung beim Messen von Rennrädern im Windkanal?
Pfeiffer: Zum einen hat der Fahrer, ob es nun ein Dummy wie bei TOUR oder ein echter Fahrer ist, einen großen Einfluss auf den Widerstand. Durch das Pedalieren entstehen Kräfte, die größer als der Luftwiderstand sind. Das muss man bei den Messungen natürlich berücksichtigen und mit einrechnen. Zum anderen beeinflusst die Sitzposition eines Fahrers die Messwerte. Für reproduzierbare Ergebnisse muss er immer exakt gleich auf dem Rad sitzen. Diese Messungen sind die schwierigsten, die ich mache.
TOUR: Sind Messungen von Produkten aus der Luft- und Raumfahrt im Vergleich dazu einfacher?
Pfeiffer: Das kann man so nicht sagen. Das eigentliche Messen ist bei Fahrrädern sicher komplexer, da es hier sogenannte abgelöste Strömungen gibt. Das heißt, es kommt zu Luftverwirbelungen und Druckschwankungen, die den cw-Wert beeinflussen. Bei Flugzeugen dagegen liegt die Strömung am Flügel an. Hier erschweren allerdings die im Vergleich zur Realität zu niedrige Anströmgeschwindigkeit und der notwendige Modellmaßstab das Messverfahren.
TOUR: Sie betreiben den Windkanal seit fast 20 Jahren. Gab’s da auch mal Pannen oder ging etwas zu Bruch?
Pfeiffer: (lacht) Ich kann mich an keine größeren Zwischenfälle erinnern. Bei den Fahrrädern lief es meistens reibungslos. Das liegt vielleicht auch an meinem Naturell. Bei den deutschen Herstellern habe ich den Spitznamen “Bastel-Ernst”. Denn ich würde schon von mir behaupten, dass ich mir zu helfen weiß, wenn mal ein kleineres Problem auftaucht. Selbst meine Familie nennt mich inzwischen so.
TOUR: Blicken wir in die Zukunft: Die UCI änderte im vergangenen Jahr die Regularien und erlaubt seitdem aerodynamischere Rahmenformen. Mit dem Simplon Pride II unterbot bereits ein Rennrad die Marke von 200 Watt. Werden solche Werte künftig zur Regel?
Pfeiffer: Das kann ich mir vorstellen, ja. Wenn in den kommenden Jahren die neuen Räder nach dem neuen Reglement entwickelt wurden, werden diese 200 Watt öfter fallen. Da wird es noch mal einen Sprung geben. Ich rechne damit, dass man bald mal die 195 Watt sehen wird. Noch mal fünf, sieben Watt kann ein ohnehin schon richtig schnelles Rad schneller werden.