Jens Klötzer
· 29.09.2022
Am Rennrad etabliert sich ein neues, üppiges Reifenmaß: 32 Millimeter sind an manchen Endurance-Modellen schon Standard, selbst Radprofis montieren die breiten Rennradreifen immer öfter. Unser aufwendiger Vergleichstest zeigt, warum 32 das neue 28 ist und welches Modell die Nase vorne hat. Den ganzen Test gibt´s unten zum Download für 2,99 Euro.
Die Reifen von Rennrädern gehen immer mehr in die Breite. Waren im Rennsport vor zehn Jahren noch 23 Millimeter normal, sind heute 25 oder 26 Millimeter breite Pneus üblich, bei manchen Profis selbst auf guten Straßen sogar 28 Millimeter. Für Rennen auf schlechtem Untergrund - mit dem Rumpel-Klassiker Paris-Roubaix als höchster Anforderung - ziehen die Fahrer inzwischen bis zu 32 Millimeter breite Gummis auf ihre Aero-Felgen.
Langjährigen Rennradlern mag das absurd vorkommen, haben viele doch Zeiten erlebt, in denen Rennradreifen gar nicht schmal genug sein konnten - bis zu 19 Millimeter dünn. Doch heute weiß man’s schlicht besser, weil man Unterschiede präzise messen kann.
Der bessere Komfort dürfte - von wirklich ruppigen Pflasterpassagen abgesehen - heutigen Radprofis noch weitgehend egal sein. Eine größere Rolle spielt, dass breitere Reifen insbesondere auf unebenen Strecken - aber nicht nur da - schneller rollen als hart aufgepumpte, schmale Rennradreifen.
Auch in Sachen Pannenschutz bieten die dicken Dinger Vorteile: Mehr Volumen bedeutet eine höhere Sicherheit gegen Durchschläge und damit ein geringeres Risiko liegenzubleiben. Mit dem richtigen Luftdruck - deutlich niedriger als bei schmaleren Rennradreifen - verleiht ein breiterer Reifen dem eigentlich eher harten Rennrad zudem ein recht passables Fahrwerk. Auf holperiger Straße springt der Renner weniger und ist besser zu kontrollieren; dazu kommt ein besserer Halt in Kurven, besonders auf nasser Strecke.
Genügend Gründe also auch für Hobbysportler, breitere Pneus zu fahren. Für sie dürfte das Komfortempfinden den größten Aha-Effekt erzeugen. Im Vergleich zu 28-Millimeter-Reifen gibt es immerhin bis zu vier Millimeter mehr Federweg - auf dem Rennrad sind das Welten. Auch Abstecher auf Feld- und Waldwege sind damit kein Problem mehr, Touren- und Reiseradler profitieren vom erweiterten Aktionsradius ihres Renners und sind dennoch zügig unterwegs. Dem entgegen stehen das minimal höhere Gewicht und ein (geringer) aerodynamischer Nachteil aufgrund der größeren Frontfläche: Der beträgt gerade mal ein Watt bei 45 km/h Renngeschwindigkeit - von TOUR im Windkanal gemessen. Handicaps, die angesichts des Nutzens marginal erscheinen.
Unser aufwendiger TOUR-Vergleichstest zeigt, wie sich die Unterschiede zu schmaleren Rennradreifen auswirken und welche Modelle empfehlenswert sind. Das Testfeld versammelt einen bunten Querschnitt des aktuellen Marktes: Acht Clincher- und sieben Tubeless-Reifen treten gegeneinander an - dabei sind sowohl Top-Modelle als auch günstige Reifen, Marktführer und auch Eigenmarken großer Radhersteller (Cadex von Giant und Bontrager von Trek), dazu interessante Außenseiter (René Herse). Das Testfeld ist so bunt, weil (noch) nicht jeder Hersteller so breite Rennreifen im Programm hat; auch kämpfen viele nach wie vor mit Lieferschwierigkeiten, sodass wir nicht alle Modelle testen konnten, die es theoretisch gibt.
Unser Testparcours schleust alle Kandidaten zunächst über die Waage. Dabei ist klar: Ein breiterer Reifen erfordert mehr Gummi, und das bedeutet mehr Gewicht. Im Vergleich zu einem 28-Millimeter-Reifen, dem bisherigen Standard an Marathonrädern, ist der Unterschied überschaubar. Im Schnitt liegt er bei etwa 50 Gramm pro Reifen, bei den Tubeless-Modellen etwas weniger. Der leichteste Rennradreifen im Test von René Herse, der Marke des US-Amerikaners Jan Heine, bringt gerade mal 246 Gramm auf die Waage und ist damit kaum schwerer als viele Rennreifen der 25-Millimeter-Klasse. Auch die Top-Modelle von Continental und Vittoria sind recht leicht. Schlusslichter in dieser Disziplin sind - wenig verwunderlich - die preiswerten Drahtreifen von Continental und Vittoria mit mehr als 400 Gramm pro Stück. Den leichtesten Tubeless-Reifen liefert Conti, die Unterschiede sind bei den teuren Reifen aber nicht so groß.
Fahreindruck: Sanftes, beherrschbares Kippeln bei maximaler Schräglage, bis dahin sehr stabil und vertrauenerweckend
Fazit: Top-Werte in allen Disziplinen. Seitenwand könnte stabiler sein
Fahreindruck: Etwas härter und nervöser als die Top-Version, aber noch gut berechenbar
Fazit: Sehr schwerer, aber technisch guter Reifen mit Schwächen beim Pannenschutz. Preis-Leistung top
Fahreindruck: Guter Komforteindruck, etwas nervöses Einlenkverhalten. In Kurvenlage stabil und sehr berechenbar
Fazit: Günstiger Trainingsreifen mit gutem Haftvermögen bei Nässe, nicht zu schwer, aber nicht schnell
Fahreindruck: Wenig Grip, Haftgrenze kündigt sich aber frühzeitig an. In Schräglage sind größere Korrekturen nötig
Fazit: Sehr leicht und schnell. Wenig Pannenschutz, vor allem an der Seitenwand. Teuerster Reifen im Test
Fahreindruck: Lenkt weich ein, gutmütig und stabil in Schräglage. Stempelt leicht an der Haftgrenze, gut beherrschbar
Fazit: Top bei Nasshaftung, sonst solide Performance ohne Schwächen. Fällt breit und flach aus
Fahreindruck: In großer Schräglage minimal kippeliger als der Pro One, zählt dennoch zu den griffigsten und besten
Fazit: Kaum Unterschiede zum Top-Modell, auch beim Preis. Lediglich im Pannenschutz etwas schwächer
Fahreindruck: Braucht Kraft beim Einlenken, fährt dann aber wie auf Schienen. Weicher Übergang zur Haftgrenze
Fazit: Leichter und schneller Reifen mit Schwächen beim Pannenschutz. Baut relativ schmal und hoch.
Fahreindruck: Unaufgeregt, neutrales Einlenkverhalten und kippelt kaum. Rutscht allerdings recht unvermittelt weg
Fazit: Der günstigste Reifen im Test rollt und haftet gut, bietet aber kaum Pannenschutz. Sehr schwer.
Fahreindruck: Nervös beim Einlenken, kippelig in Schräglage, schmiert aber gut kontrollierbar über beide Räder
Fazit: Relativ leicht, aber Schwächen im Pannenschutz und beim Rollwiderstand
Fahreindruck: Viel Komfort, träge beim Einlenken. Rutscht schnell und fühlt sich glatt an. In Schräglage sehr nervös
Fazit: Gutes Federvermögen und vergleichsweise leicht, aber mit Schwächen bei Nässe. Baut sehr breit
Fahreindruck: Spezielles, sehr geschmeidiges Fahrgefühl, sehr komfortabel. Niedriges Haftlimit, aber berechenbar
Fazit: Konstruktion mit aufgeklebter Lauffläche, fährt sich wie ein Schlauchreifen. Schwer zu montieren
Fahreindruck: Ruhige Kurvenlage, leichtes, kontrollierbares Kippeln. Kommt spät an die Haftgrenze, rutscht dann nur schwer.
Fazit: Mit Abstand der schnellste Reifen und auch in den anderen Disziplinen top.
Fahreindruck: Etwas träge beim Einlenken. Viel Grip, schaukelt leicht in Schräglage, wirkt aber nicht nervös
Fazit: Top bei der Nasshaftung, guter Pannenschutz, aber nur mittelmäßig schnell
Fahreindruck: Gibt viel Vertrauen, sanft beim Einlenken. In Schräglage minimal kippeliger als die Clincher-Version
Fazit: Gutmütiges Fahrverhalten und beste Haftung. Schwer zu montieren, aber oft beim ersten Versuch dicht
Fahreindruck: Etwas weicheres Einlenken da minimal breiter, ansonsten vom teureren Pendant kaum zu unterscheiden
Fazit: Etwas schwerer und minimal langsamer als der Pro One TLE, dafür deutlich besserer Pannenschutz
Mit den Testverfahren für Rennradreifen setzt TOUR seit vielen Jahren Maßstäbe. Die Testaufbauten werden laufend verbessert, neu für diese Ausgabe ist der eigene Nasshaftungstest auf einer bewässerten Kreisbahn. Ein Überblick über die Verfahren und Bewertungskriterien.
Noch vor den Prüfstandstests fahren wir alle Rennradreifen im direkten Vergleich auf einer standardisierten Teststrecke, mit schlecht asphaltierten Teilstücken, Kopfsteinpflaster und geschotterten Passagen sowie schnellen, kurvenreichen Abfahrten. Dabei dokumentieren wir unsere subjektiven Eindrücke zum Komfort, Geradeauslauf und Lenkverhalten in Kurven.
Angegeben sind die von uns ermittelten Gewichte. Je vier Exemplare eines Reifenmodells werden gewogen, der Mittelwert wird benotet. Tubeless-Reifen bekommen bei der Bewertung einen kleinen Vorteil von 70 Gramm, der den Unterschied im Systemgewicht beider Konstruktionen (ohne 120 Gramm Schlauch, mit 70 Millilitern Dichtmilch) ausgleicht. Die 1,0 eines Clinchers mit Schlauch entspricht also der 1,0 eines Tubeless-Reifens mit Dichtmilch. Die Gewichtsnote geht mit 10 Prozent in die Gesamtnote ein.
Der Rollwiderstandstest ist eine Eigenentwicklung von TOUR. Dabei wird ein Oszillator (ein schwingungsfähiges mechanisches System) mit zwei Laufrädern und den bereits eingefahrenen Testreifen bestückt und mit Gewichten belastet. Ein Teil des Gewichts ist exzentrisch zur Achse montiert und lässt den Apparat nach einer Auslenkung wie ein Pendel vor- und zurückrollen. Je geringer der Rollwiderstand der Rennradreifen, desto länger pendelt die Maschine. Wir messen den Ausrollweg bis zum Stillstand und bestimmen daraus den Rollwiderstand in Watt, umgerechnet für 85 Kilogramm Systemgewicht und 35 km/h. Die Messung ist - bis auf die Tatsache, dass das System sehr viel langsamer rollt als ein Rennrad während der Fahrt - sehr dicht an der Realität. Widerstandsmessungen auf der Rolle bilden in der Regel zu hohe Werte ab, weil sich der Reifen zu stark verformt. Größter Vorteil des TOUR-Verfahrens: Wir können auf ebener Fläche und auf unterschiedlichen, realistischen Untergründen messen - in diesem Test messen wir auf glattem Beton und rauem Belag, der grobem Asphalt nachempfunden ist. Beide Werte werden gleich gewichtet und gehen mit jeweils 15 Prozent in die Gesamtnote ein.
Diese Wertung setzt sich aus drei Laborversuchen zusammen: Im sogenannten Sticheltest wird der aufgepumpte Reifen mit einer schwingend belasteten Klinge traktiert, die sich in die Lauffläche arbeitet - analog zu Steinen oder Scherben, die vom Rennradreifen aufgesammelt werden. Gemessen wird die Zeit, die die Klinge braucht, den Reifen zu durchdringen. Den Versuch brechen wir nach 180 Sekunden als “bestanden” ab, kürzere Zeiten führen zur Abwertung. Der zweite Versuch bestimmt die Durchstichkraft, die nötig ist, um die Lauffläche samt Pannenschutzlage zu durchdringen. Der fest aufgespannte, nicht aufgepumpte Mantel wird dafür mit einer angeschliffenen Schraubendreherklinge durchbohrt. Ein dritter Test prüft auf vergleichbare Weise die Schnittfestigkeit der Seitenwand. Dieser Pannenfall ging in früheren Reifentests nicht in die Note ein. Doch da breitere Reifen auch auf rauerem Untergrund eingesetzt werden, wo diese Pannen häufiger vorkommen, haben wir das Kriterium erstmals mitbewertet. Alle drei Tests gehen zu gleichen Teilen in die Note ein, die 30 Prozent der Gesamtnote ausmacht.
Für den Nasshaftungstest im diesjährigen Reifenvergleich haben wir unseren ursprünglichen Test weiterentwickelt. Das Vorbild für den Versuchsaufbau lieferte Reifenhersteller Pirelli, wo wir die Methode 2019 erstmals für einen Rennradreifentest ausprobieren konnten. Die Kurvenhaftung der Reifen haben wir auf einer bewässerten Betonkreisbahn verglichen; sie befindet sich am Flugplatz in Jesenwang bei München und ist Teil des Versuchsgeländes des früheren Reifenherstellers Metzeler. Der TOUR-Testfahrer beschleunigt dabei auf dem von einem Elektromotor angetriebenen Fahrrad die Kreisfahrt so lange, bis die Haftungsgrenze der Reifen erreicht ist. Während der Fahrt wird die Geschwindigkeit erfasst und aufgezeichnet.
Vorteil der Methode ist, dass sich der Fahrer behutsam an den Grenzbereich herantasten und die Rennradreifen über längere Zeit an der Haftgrenze bewegen kann. Die Differenzierung ist noch genauer als bei unserem bisherigen Testaufbau, außerdem werden exaktere Aussagen zum Verhalten im Grenzbereich möglich. Nicht zuletzt ist die Verletzungsgefahr für den Testfahrer geringer. Die maximal erreichbare Kurvengeschwindigkeit ist unser Maß für die Nasshaftung; die Handling-Note drückt aus, ob sich ein Reifen im Grenzbereich berechenbar und sicher fährt, oder ob er in Schräglage viele Korrekturen benötigt. Beide Bewertungen gehen zu gleichen Teilen in die Nasshaftung ein, die 30 Prozent der Gesamtnote ausmacht.
In einigen unserer Auftritte verwenden wir sogenannte Affiliate Links. Diese sind mit Sternchen gekennzeichnet. Wenn Sie auf so einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, erhalten wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter (wie z.B. Rose oder Amazon) eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis dadurch nicht.