Stefan Loibl
· 07.12.2022
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Frostige Stunden im Sattel statt Glühwein und Glotze. Die Festive-500-Challenge hat sich in zwölf Jahren zur beliebtesten winterlichen Herausforderung für Radsportler gemausert. Doch worin liegt der Reiz, zwischen Heiligabend und Neujahr 500 Kilometer abzuspulen? Wir haben’s ausprobiert.
Am 29. Dezember ist es endlich soweit. Endlich mal wieder ein Tag ganz für mich. Ohne Familienfeier, weihnachtliche Verpflichtungen oder Plätzchenorgien bei Verwandten. Ein kalter, trockener Wintertag, um meine Kilometerbilanz aufzubessern. Als meine Frau morgens unsere Kinder ins Auto packt und zu Verwandten aufbricht, blinzelt die Sonne trügerisch über die frostig-weißen Wiesen. Minus zwei Grad zeigt die Wetter-App am Handy. Wenig später rolle ich mit halb vermummtem Gesicht und Thermo-Überschuhen über den Winterschuhen aus unserer Siedlung.
Doch als ich das erste Mal am Schalthebel drücke, passiert nichts. Noch mal drücken – wieder nichts. Die Elektroschaltung macht keine Anstalten, die Kette über die Ritzel zu dirigieren. Mist. Dann war es dem Di2-Akku in der Garage heute Nacht wohl doch zu kalt. Aber jetzt umdrehen, um zwei Stunden den Akku zu laden? Nein. Lieber kurble ich mit der aufgelegten 52/17er-Übersetzung weiter auf meiner geplanten Route von Pfaffenhofen Richtung Süden. Der Plan: Nach einem Kaffeestopp in München soll die große Schleife entlang der Isar nach Freising und Moosburg führen, ehe es übers Ampertal nach Hause geht. Mit einem Funken Hoffnung im Hinterkopf, dass sich die Batterie vielleicht doch nicht komplett entladen hat und im Laufe des Tages zum Leben erwacht.
Doch warum zum Jahresendspurt Kilometer sammeln statt Glühwein schlürfen? Weil ein radsportverrückter Brite im Winter 2009 auf die Idee kam, zwischen Heiligabend und Silvester das Trainingspensum eines Profi-Rennfahrers abzuspulen. Graeme Raeburn, damals Chefdesigner beim Bekleidungshersteller Rapha, steckte sich das ambitionierte Ziel, in acht Tagen 1000 Kilometer in seiner Heimat südöstlich von London zu fahren. An den kürzesten Tagen des Jahres, bei Schneematsch auf den Straßen und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Das schaffte er auch und musste im Nachhinein feststellen, dass selbst gestandene Profis in der stillen Zeit deutlich weniger Kilometer sammeln und seine 1000er-Marke etwas sinnlos war.
Ein Jahr später rief sein Arbeitgeber erstmals zur Festive-500-Challenge auf. Was mit weniger als 100 Teilnehmern im Jahr 2010 begann, hat sich bis heute zu einem weltweiten Kampf gegen die Weihnachtslethargie gemausert. Alleine über die Trainingsplattform Strava registrierten sich im Jahr 2019 insgesamt 119.000 Radsportler fürs winterliche Kilometersammeln zwischen Heiligabend und Silvester. 2021 nahmen sogar 239.000 Teilnehmer bei der Rapha #Festive500 auf Strava teil - ein neuer Rekord. Von Südafrika bis Schweden, vom Profi-Biker Karl Platt bis zur Brevet-Spezialistin Fiona Kolbinger.
Ob man dabei täglich für eine 60-Kilometer-Einheit aufs Rad steigt, zusammen mit den Kumpels ein Weihnachts-Trainingslager daraus macht oder die Distanz in einem Rutsch abreitet, ist egal. Wer’s schafft, bekam einen Aufnäher fürs Trikot, 2020 allerdings zum letzten Mal. Zusätzlich legt Rapha* eine spezielle Klamotten-Kollektion auf und verlost eine Handvoll Preise. Etwa für das spektakulärste Scheitern oder für denjenigen, der das mieseste Wetter hatte.
Auch virtuelle Rollenkilometer im wohltemperierten Keller zählten bis 2020 nicht. Seit Corona ist das anders. Auch 2022 zählen Indoor-Kilometer auf Zwift & Co. fürs Festive 500-Kilometerkonto. Aber das kommt für mich nicht in Frage, denn Radsport findet bei mir das ganze Jahr über draußen statt – auch im Winter. Wie hart 65 Kilometer in den letzten Tagen des Jahres sein können, musste ich gleich zu Beginn meines festlichen Fünfhunderters feststellen. An Heiligabend schwang ich mich zwischen Christbaum-Aufstellen und Bescherung für eine Zwei-Stunden-Runde in den Sattel. Bei fünf Grad und Nieselregen. Danach war ich froh, dass nach der heißen Dusche ein Gänsebraten auf mich wartete. Tags darauf nutzte ich die Anreise zum traditionellen Familienessen, um mein Kilometerkonto zu füllen. Ab der Hälfte hatte ich nass-klamme Finger und taube Zehen. Doch zumindest konnte ich am Nachmittag beherzt in Omas Plätzchenbox greifen.
Bei mir gehört die Weihnachtswoche zum Kalorienhöhepunkt des Jahres. Wer in diesen Tagen mehr Zeit im Sattel verbringt, hat weniger Zeit zum Essen.
Denn wie für viele gehört auch bei mir die Weihnachtswoche zum Kalorienhöhepunkt des Jahres. Familienessen hier, Kaffeekränzchen dort, und überall steht eine Schale Plätzchen am Tisch. Doch wer in diesen Tagen mehr Zeit im Sattel verbringt, hat weniger Zeit zum Essen – so mein Gedanke. Auch die Jahre zuvor hatte ich schon von der Festive 500 gehört, doch angemeldet hatte ich mich nie. Zu ambitioniert schien mir der Plan, in der von Familientreffen gespickten Weihnachtswoche 500 Rennrad-Kilometer zu sammeln. Und das bei vielleicht ekligem Wetter zu Hause und womöglich besten Skitouren-Bedingungen in den Bergen. Doch dieses Jahr gab es keine Ausreden mehr. Zwei Klicks in der Strava-App Anfang Dezember hatten mein Vorhaben besiegelt.
Das hatte mein Freund Andreas natürlich mitbekommen. Doch anstatt selbst mitzumachen, um gemeinsam über die gesalzenen Straßen der Hallertau zu rollen, kam am 25. Dezember nur eine knappe Nachricht. „Kann morgen um 8 Uhr starten. Maximal zwei Stunden.“ Okay, besser als alleine fahren, dachte ich. Und so drehten wir frühmorgens bei Nebel und null Grad eine Runde und planten zukünftige Skitouren-Projekte.
Auch das macht die Festive 500 aus: Gemeinsam mit anderen zu fahren oder Freunde zu besuchen. So hatte es auch Erfinder Graeme bei seiner Premiere gehandhabt und später in einem Interview gesagt: „Ich habe es mir immer auf der geselligen Ebene gewünscht. Du musst keine 500 Kilometer fahren. Klar, die 500 sind ein tolles Ziel, aber du kannst dir auch ein persönliches Ziel setzen.“
So hatte ich es in den vergangenen Jahren gemacht, doch diesmal war mein sportlicher Ehrgeiz geweckt. Deshalb hängte ich an die Runde mit Andreas noch eine kurze Extraschicht dran, um in meinem täglichen 60-Kilometer-Plan zu bleiben. Doch wieder musste ich feststellen: Geschenkt bekommt man die Kilometer zu dieser Jahreszeit nicht. Trotz Thermo-Überschuhen und isolierten Winterschuhen fühlten sich meine Füße am Ende an wie zwei Eisklumpen.
Zurück im Singlespeed-Modus vor den Toren Münchens. Der Garmin zeigt mittlerweile 70 Kilometer, und die Temperaturanzeige ist auf null Grad geklettert. Alle paar Kilometer drücke ich intuitiv am rechten Schalthebel. Doch das Schaltwerk verharrt weiter in Schockstarre. Zum Glück verläuft meine Route weitestgehend flach. Ich folge der Isar gen Norden und komme überraschend gut voran. Am Flughafen vorbei geht’s nach Freising und weiter Richtung Moosburg. Bis mich das GPS-Gerät nach 100 Kilometern von der Hauptstraße weglotst und in stetem Auf und Ab über Nebenstraßen schickt.
Wie ein Bahnsprinter beim Anfahren muss ich die Kurbeln im Wiegetritt herumwürgen, um in den Anstiegen vom Fleck zu kommen. Die Schaltversuche habe ich mittlerweile aufgegeben und mich mit der Singlespeed-Übersetzung abgefunden. So konzentriere ich mich auf dem hügeligen Heimweg aufs Drücken, Ziehen und Atmen. Eine Stunde später ist es geschafft und ich checke erschöpft, aber zufrieden in der dampfenden Badewanne daheim mein digitales Festive-500-Konto. Mit den 136 Solo-Kilometern des Tages klettert mein Guthaben jetzt auf 457 Kilometer. Bei zwei verbleibenden Tagen.
Nur einer sticht beim Scrollen durch die App aus meinem Freundeskreis heraus und hat die Challenge bereits geschafft: Profi-Biker Karl Platt ist tags zuvor bei ähnlichen Bibber-Temperaturen satte 357 Kilometer am Stück gefahren. Gemeinsam mit fünf Freunden war das Marathon-Ass von Worms ins französische Straßburg und zurück gekurbelt. Fast zwölf Stunden im Sattel bei einer Durchschnittstemperatur von null Grad. Aus meiner Sicht eine Wahnsinnsleistung und doch nur eine von vielen spektakulären Fahrten in der Festive-500-Rangliste, die Fahrer anführen, die in acht Tagen das Vierfache der Zieldistanz herunterreißen.
Als am nächsten Tag unsere Kinder ihren Mittagsschlaf antreten, will ich es zu Ende bringen. Mein Rad durfte im Keller übernachten, in Reichweite zur Steckdose. Und so fliege ich gefühlt über meine Hausrunde. Mit dem Gelände angepasster Übersetzung und gewohnt hoher Trittfrequenz. Im ständigen Auf und Nieder geht’s knackige eineinhalb Stunden durch die kahlen Hopfenfelder der Hallertau, bis die Kilometeranzeige schließlich die 50er-Marke überspringt. Pünktlich zu Kaffee und Kuchen bin ich wieder zu Hause und bekomme sofort die Quittung für meine Mühen seit Heiligabend: „Herzlichen Glückwunsch, du hast die Herausforderung Rapha Festive 500 beendet!“
Als Erinnerung schmückt ein digitales Abzeichen mein Strava-Profil. Doch was wirklich zählt, sind die Stunden im Sattel und der Ausgleich zur hitzigen Weihnachtszeit.
Genau genommen waren es 512 Kilometer, verteilt auf sieben Fahrten, mit denen ich im Gesamtranking auf einem Platz jenseits der 16.000 lande. Als Erinnerung schmückt zusätzlich ein digitales Abzeichen mein Strava-Profil. Alles Schall und Rauch. Denn was wirklich zählt, sind die Stunden im Sattel und der Ausgleich zur hitzigen Weihnachtszeit, wozu ich mich ohne die Rapha Festive-500-Challenge wohl nur sporadisch aufgerafft hätte.
Zur ersten Rapha Festive 500-Challenge meldeten sich im Jahr 2010 weniger als 100 Teilnehmer. Seit 2011 findet das festliche Kilometersammeln auf der Trainingsplattform Strava statt und wurde immer populärer: von anfangs nur wenigen Tausend Startern bis zur 2022er-Edition mit mehr als 238.000 Radfahrern. Über die Jahre kamen dabei über 130 Millionen Kilometer zusammen und mehr als 700.000 Leute haben weltweit teilgenommen. Gewonnen hat im Vorjahr übrigens ein Brasilianer mit imposanten 2872 Kilometern, die er allerdings bei sommerlichen Temperaturen im Norden Sao Paulos sammelte. Weitere Infos und Inspiration zur #Festive500 gibt’s hier*.
Zur Festive 500-Herausforderung 2022 kann man sich bei Strava direkt hier anmelden. Als Belohnung gibt’s auch dieses Jahr ein digitales Abzeichen. Zudem haben alle Teilnehmer, die die 500 Kilometer schaffen, die Chance, mit dem Open Cycle U.P. ein neues Rad mit Campagnolo Ekar-Gruppe zu gewinnen.