Monatelang hat man hart trainiert, die Form ist da, das Wetter passt, mit einem kaum überschaubaren Heer Gleichgesinnter steht man am Start – da ist es nicht verwunderlich, wenn die Begeisterung mit einem durchgeht. “In der Vergangenheit habe ich mich schon mal anstecken lassen und bin in zu schnellen Gruppen mitgefahren”, räumt Joe Ramming ein, unser Kandidat für den Ötztaler Radmarathon.
“Das musste ich dann später büßen, was aber bei einem Event von vier oder fünf Stunden kein großes Problem war”, erinnert sich Joe. Vor dem legendären Kletter-Epos über Kühtai und Co. aber hat er mehr Respekt, und das zu Recht. Denn wo andere Marathons zu Ende sind, bäumt sich beim Ötztaler als Verbindung von Italien nach Österreich das Timmelsjoch auf mit 1.800 Höhenmetern. Dies verzeiht keine groben Fehler.
Deshalb soll Joe das Tempo von Anfang an dosieren, was dank Powermeter am Rad, der seine aktuelle Leistung in Watt anzeigt, gut machbar ist. “Mit konkreten Zahlen als Vorgabe habe ich kein Problem, mich auch in einem Wettkampf daran zu orientieren”, gibt Joe sich optimistisch, sich nicht zu sehr vom Rausch des Rennens nach dem Start beflügeln zu lassen.
In einem Bergcamp am Gardasee hatte er seine Grenzen ausgelotet und erkundet, wie es sich anfühlt, nach fünfeinhalb Stunden Bergfahrt für eine Stunde noch mal richtig aufzudrehen und “Schwelle” zu fahren, also das schnellste Tempo, das dann noch möglich ist. Nebenbei entstand so die Einheit “Monte Velo”, benannt nach dem gleichnamigen Anstieg bei Arco – 900 Höhenmeter am Stück, die Joe im Training dreimal bezwang (der Anstieg war auch Teil des Giro d’Italia in diesem Jahr).
Für Joe schrumpft das Timmelsjoch daraufhin gedanklich zu zwei Monte Velos: 225 Watt konnte er nach ausgiebiger Vorbelastung im Training noch am Monte Velo treten; am Timmelsjoch planen wir mit 170 bis 180 Watt.
Doch auch wenn Joe sich seine Kräfte gut einteilt: Insgesamt muss der 50-Jährige mit schwindender Leistung über die Dauer des Marathons hinweg rechnen, der Ermüdung über diese lange Zeit kann sich niemand entziehen. Aber wir wollen erreichen, dass seine Leistungskurve so flach wie möglich abfällt, damit er bis zum Schluss Kraft verspürt und den kurzen, fiesen Gegenanstieg zur Mautstation in der Abfahrt nach Sölden noch mit Anstand und Spaß bewältigen kann.
Wettkampfluft wird Joe zuvor noch beim Granfondo Stelvio Santini und beim Rosenheimer Radmarathon schnuppern; bei beiden Events will er Krafteinteilung und Tempoplanung (Pacing) üben sowie die Ernährung im Wettkampf erproben und seine Fahrtechnik im alpinen Gelände auch bergab verfeinern; die ursprünglich geplante Teilnahme am Radmarathon Nove Colli musste ausfallen, das Event wurde wegen schlechten Wetters verschoben. Joes aktuellen Leistungsstand konnten wir mit einer INSCYD-Diagnostik (eine softwarebasierte Auswertung anhand von Powermeter-Daten) checken.
Den Test, bestehend aus vier kurzen Zeitfahr-Einheiten, fuhr unser Ötztaler-Aspirant auf den Straßen seines Heimreviers. Die Diagnose zeigt, dass er sich in allen Bereichen deutlich verbessern konnte. Bis zum Wettkampf sind es noch knapp zwei Monate, eine gewisse Weiterentwicklung der Form ist durch das abschließende Training noch zu erwarten. Unsere Tipps zu Pacing und der konkreten Wettkampfzuspitzung (Tapering) stehen kompakt auf den folgenden Seiten.
Rad, Rennkleidung, Verpflegung, Startunterlagen, Standpumpe, Ersatzreifen, Schmierstoff für Kette und Hose
kurze Hose, Trikot, Unterhemd, Handschuhe, Weste, Helm, Brille, Rennschuhe
Im Rucksack oder verteilt am Rad/in Trikottaschen: Regenjacke, Buff/Helmmütze, kurze Regenhose, Überschuhe, Knielinge, zusätzliche Isolationsschicht für den Oberkörper, lange Handschuhe, Handy/Geld. Falls ein Betreuer verfügbar ist: leichte, wärmende Jacke fürs Warten im Startblock, die man kurz vor dem Start abgeben kann.
Ersatzschlauch, Flickzeug, Pumpe oder zwei CO2-Kartuschen, zwei Reifenheber, Kettenschloss, Minitool, Bordcomputer, zwei Trinkflaschen à 0,75 Liter, Streckenplan auf Vorbau
Die planmäßige Zuspitzung der Form für einen Wettkampf ist das sogenannte Tapering. Die Strategie besteht darin, das Training kurz vor dem Rennen so zu reduzieren, dass der Sportler/die Sportlerin frisch zum Wettkampf kommt. “Form” ist die Kombination von viel angehäufter Trainingslast, gepaart mit etwas Erholung vor dem Rennen. Doch wie viel Erholung ist richtig? Gängig ist eine Reduktion des Umfangs um rund 50 Prozent gegenüber umfangreichen Wochen.
Die Trainingsintensität wird aber nur etwas vermindert. Es stehen also weiter Intervalle auf dem Plan, um die Beine in Schwung zu halten. Ein Fehler wäre es, in der Woche vor dem Wettkampf noch irgendwelche Gewaltaktionen zu unternehmen. Für hartes Training ist es so kurz vor dem Wettkampf zu spät. Unsere Tapering-Strategie für Joe beginnt zehn Tage vor dem Event und ist typisch für große Marathons. Am Wochenende vor dem Wettkampf trainiert er noch mal zwei und drei Stunden, mit Kletterintervallen bis in den Entwicklungsbereich.
Auch am Mittwoch vor dem Wettkampf steht noch ein kurzes Intervalltraining an, das die Beine in Schwung hält, energetisch aber nicht groß belastend wirkt. Auf diese Weise hält Joe die Körperspannung, und trotzdem wird die Trainings-Stress-Balance positiv. Kohlenhydratreiche Ernährung füllt die Energiespeicher randvoll. So wird Joe auf den Punkt bereit sein für den großen Tag. Mit einigen Zehntausend Höhenmetern in den Beinen hat er die Gewissheit, die Berge beim Ötztaler bewältigen zu können.
Pacing ist die Kunst, das Tempo (eigentlich die Tretleistung) so an Strecke und Form anzupassen, dass man genau hinter dem Zielstrich platt ist und im Idealfall eine optimale Zeit erzielt. Je länger die Strecke, desto wichtiger wird dabei das Energiemanagement. Die körpereigenen Kohlenhydratspeicher sind limitiert, ebenso die unterwegs zuführbare Menge an Energie. Quasi unbegrenzt stehen nur die körpereigenen Fettreserven zur Verfügung, die wiederum aber nur einen Teil der insgesamt nötigen Energie liefern können.
Von der gewählten Tretleistung hängt ab, wie sich die Energiebilanz entwickelt. An der Schwelle, also im Bereich der höchstmöglichen “Dauerleistung” (über eine bis eineinhalb Stunden), fällt die Fettverbrennung auf null, und die Kohlenhydratspeicher leeren sich schnell – das Tempo ist für einen langen Marathon daher zu hoch. Wer rein nach Gefühl fährt, läuft Gefahr, sich von der allgemeinen Euphorie im Wettkampf anstecken zu lassen und viel zu schnell in den ersten Anstieg zu fahren, weil das Anstrengungsgefühl erst mit deutlicher Verspätung signalisiert: langsamer!
Dann ist aber bereits wertvolle Energie unwiderruflich verschleudert. Auch giftige Tempospitzen (Vollgas über wenige Minuten) sind teuflisch: Sie leeren die Energiespeicher noch viel rasanter als das Fahren an der Schwelle.
Wie findet man das richtige Pacing? Aus Erfahrung mit langen Trainingsfahrten, harten Intervallen nach Vorbelastung und durch den Abgleich der Fahrdaten mit einer Leistungsdiagnostik und Hochrechnung der Strecke. Einfache und eher konservative Strategie: Die Tretleistung auf 80 Prozent der Schwellenleistung begrenzen. Damit ist das Langstrecken-Ziel sicher erreichbar. Je nach Trainingszustand, Ambitionen und Streckenlänge geht auch mehr. Wenn nach zwei Dritteln der Distanz noch überreichlich Kräfte vorhanden sind, kann man ja weiter aufdrehen. Normal aber ist, dass die Leistung mit der Zeit nachlässt.
Der extrem anspruchsvolle Bergmarathon gliedert sich in vier Anstiege. Den Anfang macht das Kühtai, dann folgen der flachere Brenner, der Jaufenpass und schließlich das gewaltige Timmelsjoch.
Unsere Pacing-Strategie für Joe beruht auf der INSCYD-Leistungsdiagnostik, die uns verrät, bei welchem Tempo Joe seine Kohlenhydratreserven schonen kann. Bei 186 Watt kann er durch Zufuhr von 90 Gramm Kohlenhydraten pro Stunde den Kohlenhydrat-Umsatz gerade noch kompensieren, muss also nicht seine Reserven angreifen.
Start Windschatten bergab, aber ohne sich zu verausgaben
Kühtai 190 Watt (1:40 Std.), was sich zunächst relativ leicht anfühlen wird, angesichts der aktuellen Schwelle von 242 Watt.
Brenner 160–170 Watt im Schnitt (1:49 Std.), Windschatten fahren, wenn sich eine passende Gruppe findet. Ziel: die 50 Kilometer zur Passhöhe möglichst energiesparend zu bewältigen
Jaufenpass 180 Watt (1:35 Std.), konservatives Tempo; Ziel ist es, möglichst frisch ins Timmelsjoch zu starten
Timmelsjoch 180 Watt im ersten Abschnitt, 170 Watt im zweiten (2:31 Std.)
Kalkulierte Fahrzeit ohne Pausen 10:25 Std., durchschnittliche Leistung: 155 Watt