Robert Kühnen
· 06.05.2023
Ein Familienvater, 50 Jahre alt und beruflich stark eingespannt, hat sich zum Ziel gesetzt, erstmals beim Ötztaler Radmarathon zu finishen. TOUR begleitet und betreut Hobbyfahrer Joe Ramming bei seiner Transformation zum Trainingsprofi. Unsere siebenteilige Serie dokumentiert bis Juli alle wichtigen Aspekte der Vorbereitung: vom Bikefitting über Ernährung bis zur Rennplanung.
“Die Gummiriegel bringe ich irgendwann nicht mehr runter, lieber ist mir etwas Herzhaftes”, sagt Joe Ramming, unser Kandidat für den Ötztaler Radmarathon. “Beim Dolomiti gab’s mal Gerstensuppe, das war toll nach dem ganzen Süßkram”, erinnert er sich. “Gefühlt ging die direkt in die Beine!”
Aber ohne Süßkram geht es nicht, so viel ist schon mal klar. Der Ötztaler erfordert rund 6500 Kilokalorien Energieumsatz, und zwar in leicht verdaulicher Form, nicht als Schweinshaxe. Dazu gibt es fünf Verpflegungsstellen auf der Strecke, die erste bereits nach 49 Kilometern auf dem Kühtai, die letzte bei Kilometer 196.
Und natürlich gibt’s die Trikottaschen und die Flaschen am Rad. Richtig schnelle Fahrer halten gar nicht an, sondern lassen sich von ihren persönlichen Betreuern die Verpflegung reichen, gerne in flüssiger Form.
So weit wird Joe nicht gehen, denn er fährt nicht um die vorderen Plätze, sondern zum Spaß und um anzukommen. Die richtige Energiezufuhr ist trotzdem auch für ihn ein großes Thema, wie für alle, die einen Marathon solchen Formats meistern wollen. Denn die Beine brauchen Sprit – ist der Tank leer, ist das Rennen zu Ende. Wer beim Ötzi am Timmelsjoch, dem fiesen Schlussanstieg, in eine Energiekrise gerät, hat schlechte Karten, das Ziel mit dem Rad zu erreichen. “Hungerast” nennen Radsportler den Zustand der Energiekrise, wenn der Zuckerspiegel im Körper gefährlich sinkt. Das kann im Extremfall sogar lebensbedrohlich werden, weil das Gehirn nicht mehr richtig versorgt wird.
Um solche Krisen zu vermeiden, muss man üben, auf dem Rad zu essen – gleichmäßig, vom Start weg und eine ganze Menge. Viel mehr, als die meisten ahnen. Denn die zugeführte Nahrung macht den Löwenanteil der Versorgung beim Marathon aus. Hinzu kommen der Fettstoffwechsel, der ein gutes Grundrauschen liefert, sowie die körpereigenen Zuckerspeicher in Muskulatur und Leber, unser Supersprit für Tempoverschärfungen.
Während des Rennens herrscht stets eine Mischverbrennung aus diesen drei Quellen. Trainingszustand, Tempo und die zugeführte Nahrung entscheiden über den jeweiligen prozentualen Anteil der Energiequellen. Die gute Nachricht: Ein mittleres Tempo ist mit der richtigen Strategie auch über extreme Strecken wie die des Ötzi gut machbar.
Das richtige Essen für den Wettkampf aber beginnt schon Tage vorher. Es geht darum, dem Körper ein Überangebot an Kohlenhydraten zu liefern, um die Speicher so voll wie möglich zu laden (Carbo-Loading). Auf diese Weise lässt sich deutlich mehr Energie im Körper speichern. Experten provozieren das Überfüllen der Körperspeicher, indem sie diese vorher gezielt leeren mit einer kohlenhydratarmen Diät (Saltin-Diät). Für Joe reicht es, kohlenhydratreich zu essen.
>> Wichtig: Die Pasta-Party am Abend vor dem Rennen ist definitiv zu spät, um sich auf die Langstrecke vorzubereiten. Wer sich dagegen tagelang gut ernährt hat, kann am Abend vor dem Rennen ganz normal essen und ist bestens präpariert, ohne sein Verdauungssystem in der ohnehin meist kurzen Nacht vor dem Start durch Völlerei zu überfordern.
Gutes Essen spielt aber nicht nur in der Rennwoche, sondern auch schon Monate vorher eine wichtige, oft auch unterschätzte Rolle im Training. Nur mit Wasser in der Flasche zu trainieren, um gleichzeitig stärker zu werden und schnell noch etwas abzunehmen, wie es früher empfohlen wurde? Nicht im modernen Radsport! Auch Profis ziehen nicht mehr nüchtern los, sondern passgenau mit der Energie, die das jeweilige Training erfordert.
Essen liefert Energie für den Sport, aber nicht nur das. Mit dem Essen nehmen wir auch sämtliche Bau- und Nährstoffe auf, die der Körper benötigt, um sich zu erholen, zu erneuern und an Stärke zu gewinnen. Nicht nur die Menge, auch die Qualität der Nahrung hat Einfluss auf unseren Trainings- und Wettkampferfolg. Manche Stoffe sind sogar essenziell, weil sie der Körper nicht herstellen kann, aber dennoch benötigt. Dazu gehören zum Beispiel die essenziellen Fettsäuren – die nicht in Pommes stecken, sondern in Seefisch, Algenöl oder Walnüssen.
Das beste Angebot an Nährstoffen bietet frische, natürliche Nahrung. Obst, Gemüse, Fisch, mageres Fleisch, Nüsse und gute Fette sollten auf den Tisch, dazu vor allem rund um den Sport Kohlenhydrate wie Pasta, Kartoffeln und vollwertiger Reis. Um Industrieprodukte sollte man einen Bogen machen.
Auch Joe kennt diese Grundregeln. Das Problem besteht darin, sie im Alltag einzuhalten. Denn vorgefertigtes Essen macht nun mal weniger Mühe. Weshalb Joe in seiner Dienstwohnung, in der er drei Tage pro Woche verbringt, noch nie den Herd benutzt hat. “Ich habe nicht mal einen Topf dort”, gibt er zu. Joe trainiert morgens nüchtern auf der Rolle, bearbeitet nebenher schon E-Mails, greift sich dann auf dem Weg zur Arbeit ein Croissant beim Bäcker und isst mittags in der Kantine.
Diese Routine hat ihm zwar geholfen, sein Gewicht zu senken, das Ende Februar mit 74 Kilo niedriger liegt als sonst um diese Zeit. “Wenn ich nüchtern in den Tag starte, komme ich mit insgesamt weniger Essen aus”, schildert Joe seine Beobachtung. Aber ist das auch die richtige Strategie, um besser zu werden? Wir haben den Ernährungsexperten Robert Gorgos hinzugezogen, der auch Profiteams berät, um Joes Essverhalten zu analysieren. Joe hat dazu mehrere Tage Protokoll geführt (siehe ein Beispieltag im Bild).
Gorgos sieht Joes Tagesbeginn mit Nüchterntraining kritisch und rät, damit sehr dosiert umzugehen. Der Experte sagt: “Ich empfehle eine konsequente Versorgung bei allen Trainings. Ziel sind 30 bis 90 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde, je nach Trainingsumfang und Intensität.” Die Vorteile liegen für ihn auf der Hand: “Geringere Ausschüttung von Stresshormonen, weniger Proteinkatabolismus, bessere Trainingsleistung, bessere Erholung, geringere Chance, dass sich der Muskelglykogenspeicher komplett entleert, und weniger Heißhunger nach dem Training.”
Hobbysportler müssen lernen, im Training sehr viel mehr zu essen, das ist ein Schlüssel für bessere Wettkampfleistungen.
Gorgos rät, die Qualität der Speisen rund ums Training zu verbessern und sich an die Kohlenhydrataufnahme während der Belastung zu gewöhnen, um die optimale Versorgung im Wettkampf überhaupt zu ermöglichen. Insgesamt sei Joes dokumentierte Ernährung zu einseitig und zu fleischlastig. “Wurst hat auf dem Speiseplan eines Sportlers nichts zu suchen”, so sein trockener Kommentar.
Mit dem Input von Robert Gorgos im Ohr ist Joe, der als Lieblingsessen Wurstgulasch angibt, motiviert, sein Essverhalten zu ändern, zumindest ein bisschen: “Ich werde einen Topf in meine Dienstwohnung mitnehmen und mein Nüchterntraining reduzieren”, sagt er. Er möchte sein Essverhalten aber nicht komplett umwerfen: “Ich glaube, dass die Summe vieler kleiner Maßnahmen bereits deutlich Wirkung zeigen wird. Schließlich verbessere ich mich gleichzeitig auf vielen Feldern”, sagt Joe.
“Wichtig für mich ist, dass das mit wenig Mehraufwand zu leisten sein muss – ich bin ja kein Profisportler.” Joe will aber nicht nur in den Alltag Verbesserungen einfließen lassen, vor allem will er seine Trainingsversorgung verbessern. Er wird damit experimentieren, auf dem Rad deutlich mehr zu essen und nach dem Training mit dem richtigen Essen besser und schneller zu regenerieren. Auf dem Rad sollen Drinks mit angepasster Kohlenhydrat-Dosierung den nötigen Schub erzeugen.
Zur Trainings-Nachbereitung, insbesondere intensiver Einheiten, wird Joe daher Recovery-Shakes zu sich nehmen, einen Mix aus Proteinen und Kohlenhydraten. Es gibt dazu fertige Produkte, im Prinzip leistet ein normaler Milchshake aber Ähnliches. Robert Gorgos empfiehlt 50 Prozent Kohlenhydratanteil im Recovery-Drink, weil der Körper direkt nach der Belastung dafür besonders empfänglich ist. Nach umfangreichen Trainingseinheiten gibt es danach eine kohlenhydratreiche Mahlzeit.
Die Wettkampfnahrung wird Joe auf langen Bergfahrten in den kommenden Wochen erproben. Sein momentaner Favorit sind Gummibären mit Gel-Füllung. Ob die dann in der notwendigen Menge immer noch schmecken, gilt es vorab zu testen. Von herzhaften Snacks während des Rennens jedenfalls rät Ernährungsexperte Robert Gorgos ab: “Besser Joe spart sich das für das Ziel auf!”
Der Energiebedarf beim Ötztaler ist enorm. Er hängt vor allem vom Gewicht des Sportlers oder der Sportlerin ab, weniger vom Tempo. Wir rechnen für unseren Kandidaten Joe mit 6500 Kilokalorien – vergleichbar mit dem Verbrauch bei einer Tour-de-France-Bergetappe. Joe wird rund 11 Stunden Fahrzeit bei 140 Watt Durchschnittsleistung benötigen.
Das gibt ihm Zeit, relativ viel Energie während des Rennens aufzunehmen. Es gibt im Wesentlichen drei Energiequellen, aus denen der Körper schöpfen kann: die im Körper gespeicherten Kohlenhydrate (KH) (schätzungsweise 450 Gramm), die durch Essen zugeführte Energie (rund 60 Gramm KH pro Stunde) sowie die Fettverbrennung.
Die körpereigenen KH-Speicher sind der Supersprit, mit dem Joe möglichst sparsam umgehen muss. Denn diese Quelle ist am stärksten limitiert und wird bei jeder Tempoverschärfung verstärkt angezapft. Anteil am Gesamtumsatz: 21 % (bei 70 % Ausschöpfung der Speicher).
Der größte Teil der Energie stammt aus der unterwegs zugeführten Nahrung. Bei 60 Gramm KH pro Stunde sind das für Joe rund 44 %. Hier kann er noch am meisten verbessern, denn auch 90 Gramm KH pro Stunde wären für ihn machbar, wenn er sich im Training daran gewöhnt hat.
Joe wird seinen Energiebedarf beim Ötztaler voraussichtlich hauptsächlich mit Gels stillen, die er regelmäßig alle 20 Minuten zu sich nimmt. An den Verpflegungsstellen wird er in erster Linie Wasser nachtanken und zur Erfrischung kleine Stücke Obst.
35 % der Energie kommen aus dem Fettstoffwechsel – was bedingt, dass Joe diesen vorher trainiert hat und sein Tempo so wählt, dass der Fettstoffwechsel auch wirklich funktioniert (nicht zu schnell fahren!). Laut Diagnostik hatte Joe schon zu Beginn des Trainings eine Fettverbrennungsrate von 281 kcal/h bei 137 Watt. Das würde locker reichen. Bei höherem Tempo lässt seine Fettverbrennung allerdings nach.
Bei 180 Watt lieferte sie im Test nur noch 200 kcal/h, was dem rechnerischen Bedarf entspräche, bei 210 Watt fällt sie auf null. Würde die Fettverbrennung durch zu schnelles Fahren abgewürgt, würde die Energie zum Ende des Rennens knapp werden! Besonders harte äußere Bedingungen – Kälte oder Hitze – erhöhen den Energiebedarf weiter.