Wiebe Tolsma sieht anders aus als die anderen. Der Mann trägt einen Frack, sein Haupt ziert ein veritabler Zylinder, den er zum Start irgendwie über seinen Helm gestülpt hat. Tolsma ist 82 Jahre alt und hat an diesem Pfingstmontag nichts weiter vor, als 235 Kilometer Rad zu fahren. Neben ihm in der ersten Startreihe der Fietselfstedentocht stehen Menschen, die so aussehen wie Menschen eben aussehen, wenn sie einen Radmarathon bewältigen wollen. Helm auf dem Kopf, buntes Radtrikot, kurze Radhosen, die Trikottaschen am Rücken vollgestopft mit Riegeln und Gels. Manche sind halb so alt wie Tolsma, manche könnten seine Urenkel sein. Wiebe Tolsma sitzt auf einem Hollandrad, ein Bastkörbchen auf dem Gepäckträger, das mit einem rot-weißen Tuch ausstaffiert ist, für Butterbrote, etwas zu trinken und um unterwegs den Helm zu deponieren – er ist der Einzige, dem man erlaubt, mit Zylinder zu fahren. Und das mit den 235 Kilometern durch die elf „Steden“, die elf historischen Städte in Friesland, das wird Wiebe Tolsma schon hinbekommen. Schließlich hat er das schon 64-mal gemacht. Bei der 87. Auflage der Fietselfstedentocht in diesem Jahr will er die 65 vollmachen; die Organisatoren mussten extra für ihn einen neuen Pokal entwerfen und anfertigen. 65-mal die Elfstädte-Tour in Friesland zu finishen, das hat noch niemand geschafft.
„Wiebe ist unser Held, auch wenn er inzwischen ganz schön lange braucht, um im Ziel anzukommen“, sagt Stephan Rekkers, Vorsitzender der Stichting de Friese Elfsteden Rijwieltocht. Denn, das stellt Rekkers unmissverständlich klar, die Elfstedentocht sei eben kein Rennen: „Es ist eine Tour, an der jeder teilnehmen kann. Das war sie schon immer, und das soll sie auch bleiben.“ Die Fietselfstedentocht ist eine Institution in Friesland, der nördlichsten Provinz der Niederlande, ein Feiertag – in seiner Bedeutung anzusiedeln irgendwo zwischen Ostern und Weihnachten.
1912 radelten erstmals ein paar verrückte Friesen die 235 Kilometer lange Strecke durch ihre Heimat, inspiriert von den Schlittschuhläufern, die schon zwei Jahre zuvor im Winter 1910 über die zugefrorenen Kanäle, Flüsse und Grachten der Region rauschten. Die „Schaatsers“, also die Schlittschuhläufer, schauen inzwischen mit Wehmut auf die „Fietser“. Die Wasserläufe in Friesland wollen seit 1997 einfach nicht mehr anständig zufrieren. Zwölf Zentimeter dick müsste das Eis mindestens sein. 2012 war es ganz knapp, aber gereicht hat es dann doch nicht. Viele Eisschnellläufer haben inzwischen im Wortsinn umgesattelt und fahren mit dem „Fiets“ die Elfstedentocht von Bolsward über Harlingen und Franeker hinauf nach Holwerd an der „Waddenzee“. Von Dokkum aus wieder in Richtung Süden via Leeuwarden nach Bolsward. Vom Start- und Zielort führt die Südschleife dann weiter über Sneek, IJlst und Sloten ans IJsselmeer nach Stavoren und von dort aus über Hindeloopen und Workum wieder zurück in die altehrwürdige Hansestadt Bolsward – eben durch die historischen elf Steden. Eine hübscher als die andere mit ihren jahrhundertealten Backsteinbauten, den Grachten und den mächtigen Kirchen, die aus der platten Landschaft in den weiten Himmel ragen.
Bei der Fietselfstedentocht sitzen inzwischen gut 90 Prozent der Teilnehmer auf Rennrädern. „Das ist ein bisschen schade“, findet Stephan Rekkers, „früher hattest du mehr so komische Vögel auf den abenteuerlichsten Rädern. Die haben sich verkleidet, die sahen richtig schön bekloppt aus.“ Er zuckt mit den Achseln. Er hat nichts, aber auch rein gar nichts gegen die Rennradfahrer, er war selber einer. Mit 14 hat Rekkers das erste Mal teilgenommen, heimlich, denn eigentlich darf man erst mit 16 mitfahren. Auch Wiebe Tolsma hat übrigens bei seiner ersten Teilnahme 1957 geschummelt, er war erst 15. Sein Vater hatte es ihm sogar erlaubt mitzufahren, aber er hat seinem Sohn auch mit auf den Weg gegeben: „Junge, zieh dich ordentlich an, du kommst auf der Tour durch ganz Friesland.“ Und seitdem startet Tolsma eben im feinen Zwirn.
Früher gab es bei der Elfstedentocht mal ein Tempolimit von 25 km/h. Aber daran hat sich sowieso keiner von denen gehalten, die Lust darauf hatten, richtig schnell Rad zu fahren. Also haben die Organisatoren das aus dem Regelwerk gestrichen. „Es gibt schon so einige“, erzählt Rekkers, „die rasen wie die Idioten.“ So wie er das sagt und dabei grinst, hat man sofort den Verdacht, er war auch mal einer dieser „Idioten“. Das Schöne am Elfstedentocht aber ist, dass sich die „Wielrenner“, also die Rennfahrer, mit den eher entspannt dahinrollenden Teilnehmern so gut vertragen. Weder auf der Strecke noch in den Städten, wo man sich den Stempel abholt, wird gedrängelt. „Das ist schon cool“, sagt Bernd Schmidt aus Bremen, „die Schnellen nehmen Rücksicht auf die Langsamen und umgekehrt. Und unterwegs findest du immer eine Gruppe, deren Tempo für dich passt.“
Etwas mehr als tausend der insgesamt 15.000 Teilnehmer kommen aus dem Ausland, die meisten von ihnen aus Belgien und Deutschland. Stewart Lloyd ist extra aus London angereist. Noch einer von diesen „Idioten“. Die Länge der Strecke schreckt ihn schon mal gar nicht, er war bereits häufig bei den Chase the Sun-Touren in seiner Heimat dabei, die zum Teil über 300 Kilometer führen. „So was Entspanntes wie hier habe ich noch nie erlebt. Und ich finde es gerade gut, dass an dem Event nicht nur Rennradfahrer teilnehmen“, sagt Stewart, während er mit rund 35 km/h gegen den unvermeidlichen Wind anstampft.
Die niederländische Provinz Fryslân liegt zu Teilen unter dem Meeresspiegel. Eine Landschaft, platt wie ein Pfannkuchen. Die höchsten natürlichen Erhebungen sind die Maulwurfshügel auf den sattgrünen Weiden. Friesland ist geprägt von Wasser wie kaum eine andere Gegend in Europa. Auf der Seeseite der Deiche plätschern die Wellen der Nordsee an die Küste, das Binnenland ist durchzogen von unzähligen Grachten und Kanälen, der südliche Teil rund um Sneek ist geprägt von einer imposanten Seenplatte. Steigungen, die natürlichen Feinde des Radfahrers, sind definitiv nicht zu erwarten bei der Fietselfstedentocht. Dafür lauert hinter jedem Misthaufen ein anderer Feind: der Wind. Verlässlich bläst er aus Nordwest, und das gerne mal mit Windstärke 3 bis 5. Aber bei 14.999 Mitradlern findet man immer Windschatten, in dem man sich etwas erholen kann. Ab Dokkum, nach rund 100 Kilometern, hat man den Wind meist von „achtern“; dann rasen die „Idioten“ mit 40 km/h und mehr in Richtung Süden.
Anmeldung vom 1. bis 19. Dezember des Vorjahres über die Homepage https://www.fietselfstedentocht.frl/de, Startgeld 28 €. Gestartet wird zwischen 5 und 8.30 Uhr in Blöcken mit jeweils 650 Teilnehmern; die Startzeit wird ausgelost, kann aber auf Antrag noch getauscht werden, sodass man gemeinsam mit Freunden in einer Gruppe fahren kann. Erlaubt sind alle Arten von Rädern, außer E-Bikes. Es besteht Helmpflicht. Hotels sollte man früh buchen, auf den extra eingerichteten Campingplätzen findet man immer noch ein Plätzchen.
Martin Feuler aus Osnabrück ist eher entspannt unterwegs. Auf die Frage, wie er das Event findet, antwortet er erst mal in einem Einwortsatz: „Cool!“ – um gleich noch einen hinterherzuschieben: „Geil!“ Nicht etwa weil er so ein dröger und wortkarger Zeitgenosse ist, sondern weil er zwischendurch den Zuschauern am Straßenrand antwortet, die die „Fietser“ mit einem lauten „Hey“ anfeuern. Gefühlt hört man das während der Elfstedentocht ein paar Tausend Mal. Feuler ist zum vierten Mal dabei und spricht schließlich doch noch in vollständigen Sätzen: „Eine solch großartige Stimmung hast du bei keinem anderen Radsport-Event. Und so lustig und locker geht es auch nirgendwo sonst zu. Okay, so spätestens bei Kilometer 150 fragst du dich dann schon mal, warum tu ich mir das eigentlich an?“ Aber spätestens beim Zielbier ist Feuler und seinen Freunden klar: Nächstes Jahr kommen sie wieder zum „Karneval des Nordens“.
Die Tradition wird bei der Elfstedentocht hochgehalten. An Start und Ziel in Bolsward marschiert der Spielmannszug vor den Radlern her und spielt einen Marsch, die blauweiß gestreifte friesische Flagge mit den herzförmigen Pompeblêden und die gelbe Fahne des Fietselfstedentocht werden stolz bis zur ersten Stempelstelle durch die Marktstraat getragen. Man muss nicht auf Marschmusik und Spielmannszüge stehen, aber hier passt es. Und auch wenn man längst andere Möglichkeiten hätte, halten die Veranstalter an den durch und durch analogen Stempelkarten fest. Dort, wo gestempelt und damit der Nachweis erbracht wird, dass man auch wirklich die komplette Strecke gefahren ist, ist Party angesagt.
Auch in Workum, Dokkum oder Stavoren musizieren Spielmannszüge. Vielfach kommt die Musik auch aus der Konserve; holländische Schlager, bei denen viele selig mitsingen, aber gerne auch mal „Ballermannmusik“ und recht brachialer Technosound. Die „Beachgirls“ aus Blankenberge legen jedenfalls an der Stempelstation in Dokkum spontan einen Formationstanz hin und werden von den anderen Fietsern mit Applaus bedacht.
Applaus und Anfeuerung gibt es während der gesamten Strecke von den Abertausenden von Supportern. Nicht wenige sagen im Ziel, sie hätten es nicht geschafft ohne die Anfeuerung der Zuschauer. 13.288 Finisher haben am Pfingstmontag 2024 das Ziel erreicht. Die ersten waren um 13.50 Uhr im Ziel, der letzte eine halbe Stunde vor Kontrollschluss um 23.30 Uhr. Der „Wielrenner“ Bernd Schmidt war flott unterwegs, mit einem guten 33er-Schnitt auf den 235 Kilometern. „An der letzten Stempelstelle in Workum war ich schon ganz schön platt, und bis ins Ziel kam der Wind voll von vorne“, erzählt er, „aber dann spielt die Blaskapelle für dich, du kriegst ein paar Käsewürfel geschenkt, tankst noch mal Kraft und rauscht mit einem Glücksgefühl ins Ziel.“ Wiebe Tolsma hat es übrigens auch geschafft, zum 65. Mal. Unterwegs hat er Pause bei Kaffee und Kuchen bei der Familie gemacht, sich bei Freunden ein kleines Bierchen gegönnt, um schließlich am frühen Abend in Bolsward anzukommen. Wie schon auf den 235 Kilometern zuvor lüftet er auch auf der Zielgeraden seinen Zylinder und grüßt die johlende Menge. Dass Wiebe Tolsma nächstes Jahr wieder am Start ist – wenn er gesund bleibt – ist sowieso klar. Aber auch Bernd Schmidt ist sich sicher: „Ich komme wieder. Wenn du die 235 Kilometer ambitioniert angehst, ist es schon hartes Brot. Aber dieser einzigartige Mix aus Volksfest und Sport ist einfach nur genial und entschädigt für die Strapazen.“