Julian Schultz
· 24.01.2023
Das Specialized Diverge STR Expert rollt als erstes vollgefedertes Gravelbike von Specialized heran. Ist das Verrat an der Idee des robusten und simplen Allrounders fürs Grobe? Oder eine neue Dimension des Gravelbikens?
Bescheidenheit ist nicht gerade die Zier des Diverge STR. Im Gegenteil. Das Specialized zieht die Blicke auf sich, genauer gesagt der Rahmen - denn wo bei einem Diamantrahmen üblicherweise Ober- und Sitzrohr fest miteinander verbunden sind, spreizt sich ein Konstrukt aus Carbon und Metall in die Lücke: ein hydraulischer Dämpfer. In Kombination mit dem Federelement am Lenker ist das Diverge STR damit das erste vollgefederte Rennrad der US-Amerikaner.
Puristen, die das Gravelbike als robusten und unkomplizierten Begleiter auf Schotterpisten und Straßen schätzen, werden an dieser Stelle vermutlich nach dem Sinn eines Gravel-Fullys fragen. Komplizierte Technik macht Schotterrenner auf jeden Fall schwerer, in der Regel wartungsintensiver und unter Umständen auch anfälliger für Defekte. Doch gilt das auch für das für 2023 neu vorgestellte Diverge STR Expert?
Gravelbikes mit Vollfederung, die fast ans Mountainbike anschließen, sind im immer bunter werdenden Gravel-Segment nicht neu, zu den prominenten Beispielen zählen das BMC Urs LT mit Federgabel und Elastomer-Puffer am Hinterbau (TOUR 5/2022) oder Cannondales Topstone Carbon Lefty (TOUR 10/2020). Specialized ergänzt am Diverge STR nun die bekannte Future-Shock-Federung am Lenker um einen neuen technischen Ansatz - nämlich ein aktives hydraulisches Dämpferelement am Hinterbau, das die federnde Sattelstütze im Zaum hält.
Dafür betrieb die Entwicklungsabteilung in Morgan Hill enormen Aufwand, rund fünf Jahre tüftelten die US-Amerikaner an dem Rahmen. “Es waren wortwörtlich Blut, Schweiß, Tränen und Überstunden - gespickt mit nagendem Zweifel, ob es die Technologie jemals über die Ziellinie schafft”, wird Chefentwickler Luc Callahan auf der Specialized-Website zitiert. So entstand nach etlichen Prototypen ein Rahmen mit Heckfederung, deren Kernstück der hydraulische Dämpfer am Oberrohr ist. Die Sattelstütze selbst steckt in einem zweiten Carbonrohr, dessen Ende tief unten im Sitzrohr geklemmt wird, etwa auf Höhe des Flaschenhalters.
Über die gesamte Länge federt die Stütze nach hinten/unten, was am Sattel bis zu 30 Millimeter Federweg ergibt; diesen Federweg zähmt der Dämpfer, damit die Stütze beim Pedalieren nicht störend wippt. Der Härtegrad des Systems lässt sich anpassen: Am Dämpfer auch während der Fahrt in drei Stufen oder in der Werkstatt durch Drehen des Carboneinsatzes. Der weist je nach Montagestellung zwei unterschiedliche Härtegrade auf und zählt in zwei Versionen zum Lieferumfang.
Das klingt nicht nur in der Theorie kompliziert, auch in der Praxis dauert es etwas, bis man alle Einstellmöglichkeiten erfasst und angepasst hat. Selbst Specialized weist darauf hin, dass das System aufgrund seiner Komplexität “nur von einem professionellen Mechaniker” montiert werden sollte. Während der Fahrt überzeugt das Gravelbike aus Morgan Hill aber vollauf und bügelt wirklich eindrucksvoll und Kräfte schonend über Unebenheiten hinweg.
Speziell grobe Schläge schluckt das Diverge STR mit der Federung an Front und Heck, wobei das Future-Shock-System konstruktionsbedingt den Lenker relativ hoch und den Fahrer in eine betont aufrechte Sitzposition bringt. Muss man auf einem ungefederten Gravelbike bei Schlaglöchern oder Wurzeln vom Gas gehen, damit es einem den Lenker nicht aus der Hand schlägt, brettert das Diverge in der weichsten Einstellung des Dämpfers einfach darüber hinweg. Kein Wippen, kein Knarzen.
Das System funktioniert einfach. Trotz des hohen Radgewichts von 9,7 Kilogramm ist man erstaunlich flott unterwegs, auch auf Asphalt rollt das Diverge STR mit blockiertem Federsystem vergleichsweise zügig; die 42 Millimeter breiten Reifen, die an unserem Testrad ohne Schlauch montiert waren, dämpfen mehr als ausreichend. Welche Zielgruppe sich von dem Rad und seiner aufwendigen Technik angesprochen fühlt, wird sich weisen - sie dürfte aber vergleichsweise klein bleiben: Die US-Amerikaner hängen dem Diverge STR ein Preisschild um, das viele Interessenten von vorneherein ausschließt.
Das von uns getestete günstigste Modell mit kombiniertem Einfach-Antrieb von SRAM Rival und GX Eagle kostet bereits 7500 Euro, für die S-Works-Version ruft Specialized sogar 15000 Euro auf - also nochmals etwas mehr als für eines der besten Straßenräder, das S-Works Tarmac SL 7. Ob man so ein edles Stück Technik tatsächlich regelmäßig Matsch und Dreck und dem Beschuss durch aufwirbelnden Schotter aussetzen möchte?
Gesamtnote Specialized Diverge STR Expert - 1,8
*Gewogene Gewichte
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inkl. Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersicht geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.
1Die Seitensteifigkeit der Gabel kann konstruktionsbedingt mit dem TOUR-Prüfstand nicht ermittelt werden. Zudem liefert der Komfortmesswert der Gabel konstruktionsbedingt keinen Hinweis auf den tatsächlichen Federweg am Lenker. Die Bewertung berücksichtigt sowohl die Konstruktion als auch den Messwert am Lenker.