Jens Klötzer
· 18.10.2024
Die Schublade hat einen zwiespältigen Ruf. Einerseits steht sie für Ordnung und Klarheit vom Apothekerschrank bis zum Schraubenregal. Andererseits ist das Denken in Schubladen eher verpönt, denn es schränkt bekanntlich die Weltsicht ein und versperrt zudem die Chance auf die Eröffnung neuer Schubladen. Kategorien sind auch in der Fahrradwelt ein Dauerthema. Das Streben nach Übersichtlichkeit und Ordnung für Verbraucher trifft hier auf die Out-of-the-Box-Mentalität leidenschaftlicher Entwickler. Die Branche schafft es mitunter, ihre Schrankfächer so fein zu unterteilen, dass manchmal nur ein Fahrrad darin liegt.
Besonders deutlich wird das neben dem Mountainbike an der Schnittstelle zwischen Straßen- und Gelände-Rennrad. Gleich drei Begriffe wabern um diesen Spagat zwischen Asphalt und Schlammpfütze. Sie eint der Anspruch, die Agilität eines Straßenrenners und eine gewisse Tauglichkeit für holperige und unbefestigte Untergründe zusammenzubringen, weil sie wie ein Rennrad aussehen, aber auf breiteren und teilweise auch profilierten Reifen rollen.
Unsere Testfahrten mit den drei Rennern fördern Erstaunliches zutage. Das Cyclocross-Rennrad, einst das ultimative Allzweckvehikel mit Rennlenker, hat mit dem Aufkommen neuer Kategorien viel an Alltagstauglichkeit eingebüßt. Es wirkt, streng auf den Wettkampf abgestimmt, heute eher eingeschränkt. Zwischen Allroad- und Gravelbike sind die Unterschiede überraschend gering, zumindest in unserem Set-up. Bei der Kaufentscheidung kommt es darauf an, welcher Untergrund überwiegt und ob in Richtung Straße oder Gelände noch Änderungspotenzial bleiben soll.
Wenn man nicht spezifisch Rennen fährt, gibt es keinen Grund mehr für einen Crosser. Allroad und Gravel bedeuten einen deutlich breiteren Einsatzbereich. - Adrian Kaether, BIKE-Redakteur.
Das klassische Cyclocross-Rennrad, das omnipräsente Gravelbike und das sogenannte Allroadbike buhlen um Interessenten, die auf verschiedenen Untergründen sportlich unterwegs sein möchten. Grenzen sich diese Begriffe kategorisch ab, und wenn ja, wie? Das sollen drei aktuelle Beispielräder zeigen, mit denen wir die Probe aufs Exempel machen und von der glatten Rennpiste bis zum Wurzelteppich alles unter die Räder nehmen. Die Erfahrung zeigt: Beim schwer vereinbaren Spagat zwischen Asphalt und Schotter kommt es für den idealen Untersatz sehr darauf an, welcher Untergrund in welchen Anteilen vorliegt, wie oft und wie steil es rauf und runter geht und ob eher ein wendiges, spielerisches Handling oder guter Geradeauslauf gefragt sind.
Das Geläuf ist vor allem ein Thema für die Reifen, die sich relativ leicht anpassen lassen, sofern der Rahmen genügend Platz lässt: Je breiter der Pneu, desto ruppiger darf das Terrain sein. Aber auch die Übersetzung, die Geometrie und die Sitzposition sind Stellschrauben, die das Fahrverhalten beeinflussen und mehr oder weniger gut aufeinander abgestimmt sein können. Die Tester sind sich darin einig, dass die Hersteller für den jeweiligen Einsatzzweck gut durchdachte Modelle auf die Räder gestellt haben – und doch unterscheiden sich die Charaktere des Canyon-Crossers, des Gravelbikes von Giant und des Allroadbikes von Parlee relativ deutlich, wie sich auf den identischen Testrunden mit allen drei Rädern erfahren lässt.
Als “ein sehr spitzes Rad”, empfindet BIKE-Redakteur und -Tester Adrian Kaether beispielsweise das Inflite von Canyon und meint damit, dass man sich vom sehr ähnlichen Aussehen der drei Räder nicht täuschen lassen sollte. Das Inflite ist für Cyclocross-Rennen konzipiert, bei denen es auf sehr spezielle Eigenschaften ankommt, die im Alltag ohne Stoppuhr nicht unbedingt wünschenswert sind. Das Inflite lenkt sich sehr wendig, was es bei hohem Tempo unangenehm nervös macht, speziell wenn’s auch noch ordentlich holpert. Auch der hohe Schwerpunkt durch das höhergesetzte Tretlager spürte Adrian im Gelände, das Rad liegt “nicht so satt” auf der Piste wie die beiden anderen Kandidaten.
Hinzu kommen reglementbedingt vergleichsweise schmale Stollenreifen und ein schmales Übersetzungsband, dem leichte Berg- und schnelle Straßengänge fehlen. “Auf langen Strecken macht das Canyon keinen Spaß”, findet auch Testlabor-Mitarbeiter Matthias Fischer. “In engen Kurven und bei wiederholten Geschwindigkeitswechseln fährt es sich sehr kurzweilig”, sagt er. Dann würde gerade die notwendige Fahrtechnik im schwierigen Gelände zur Herausforderung und das den Fahrspaß ausmachen. Doch auf Dauer kippt der Fahrspaß in Anstrengung, weshalb alle Tester für längere Touren andere Räder empfehlen würden.
Man hat ganz vergessen, wie nahe das Crossrad am Rennrad ist – auf kurzen Fahrten eine richtige Spaßmaschine. Für längere Touren eignen sich die anderen Gattungen besser, je nach Geländeanteil. - Matthias Fischer, Testlabor-Mitarbeiter
Das Gravelbike von Giant und das Allroadbike von Parlee hingegen sind wie gemacht für lange Ausfahrten, auf denen irgendwann auch mal die Konzentration nachlässt. “Das Revolt verzeiht sehr viel und bügelt fast stoisch durchs Gelände”, findet Tester Matthias. Im Vergleich zum Canyon fährt es sich fast langweilig, doch Fahrspaß entsteht auch hier, nämlich durch überragenden Komfort auf langen Touren. Einen sehr ähnlichen Eindruck vermittelt das Parlee, was insofern erstaunlich ist, als die beiden Räder ganz gegensätzliche Wurzeln haben.
Dass sich Allroadbikes auf der Straße und Gravelbikes im Gelände wohler fühlen, würden alle unterschreiben, doch die Unterschiede sind weniger prägend als erwartet. Das kann sich allerdings schnell ändern, wenn andere Reifen aufgezogen werden. Gelände-Renner ist also nicht gleich Gelände-Renner. Was ähnlich aussieht, kann sich sehr unterschiedlich anfühlen. Es sollte daher gut überlegt sein, welche Strecken gefahren werden und welche Anpassungen noch möglich sein sollen. Dann geht der erste Griff auch gleich in die richtige Schublade.