Das Abenteuer mit dem “Graveler” beginnt im Grunde schon vor dem Kauf. Das Rad gibt es nur online zu bestellen, in den Supermärkten steht es nicht. Das heißt: keine Beratung, kein Probesitzen – nur ein verlockend günstiger Preis, von 999 auf 699 Euro reduziert. Baugleich gibt es das von Prophete in Rheda-Wiedenbrück hergestellte Rad auch bei Aldi, dort kostet es momentan nur 649 Euro. Diese Spottpreise schwanken jedoch teils stark.
Außerdem müssen bei solchen Preisen Haken sein – und der erste steht schon in den Spezifikationen auf der Webseite: Es gibt nur eine Einheitsgröße, 55 Zentimeter, ohne weitere Erklärung, zum Beispiel in Form einer Geometrietabelle. Ein Wagnis mit jeder Körpergröße, die nicht exakt in diesen einen Schnitt passt; eher klein oder groß Gewachsene können gleich Abstand nehmen. Wir hoffen, dass wir mit 1,80 Metern Körpergröße halbwegs bequem Platz nehmen können.
Darüber hinaus jedoch besteht Schnäppchenpotenzial: Mit Shimano-Schaltung, Tektro-Bremsen und Continental-Reifen kommen zumindest die wichtigsten Anbauteile von namhaften Herstellern. Als wir das Rad nach der Ankunft aus dem Karton heben, offenbaren sich die nächsten Schwächen. Ein bemerkenswert leichtes Rad haben wir nicht erwartet, aber mit mehr als zwölf Kilogramm haben unsere Werkstatt-Kollegen sonst nur bei Elektrorädern zu kämpfen. Die geschulten Augen suchen Licht und Schatten: Klar, die Rohrverbindungen sind eher grobschlächtig, aber mit verschliffenen Schweißnähten fährt ein Rad nicht schneller. Brems- und Schaltzüge sind im Rahmen verlegt, die Einlässe aber scharfkantig und ein natürlicher Feind für Zughüllen. Die Befestigung von Schutzblechen und Gepäckträger wäre an Gewindeösen möglich, eine Seitenstütze wird mitgeliefert.
Antiquierte Technik könnte zum Problem bei Ersatzteilen werden: Ein Vierkanttretlager könnte sich noch auftreiben lassen, Laufräder mit 135-Millimeter-Schnellspann-Naben dürften schwieriger werden; Gravelbikes fahren seit Jahren mit Steckachsen. Auf der Straße und in moderatem Gelände rollt das Rad überraschend gut, solange das hohe Gewicht keine Rolle spielt. Im Gelände stoßen ungeübte Fahrer schnell an Grenzen, weil das Rad nicht nur schwer ist, sondern auch träge einlenkt. Gabel, Rahmen und Sattelstütze sind unnachgiebig steif, bieten kaum Komfort. Alle Schläge werden also direkt in den Körper übertragen. Das ließe sich mit geringerem Reifendruck abfedern, die schweren Drahtreifen mit dicken Schläuchen bieten hierfür aber wenig Spielraum.
Tubelesstauglich sind weder Felgen noch Reifen. Breitere Pneus gehen kaum: Viel mehr als die montierten 40 Millimeter passen nicht durch. Die Komponenten sind überwiegend sehr günstige Markenware. Schaltung und Bremsen funktionieren während der Testphase brauchbar und zuverlässig. Die mechanischen Tektro-Scheibenbremsen können bei Druckpunkt und Bremsleistung zwar mit hydraulischen Bremsen nicht mithalten, funktionieren aber besser als Felgenbremsen. Auch Shimanos Claris-Schaltung arbeitet tadellos, das Gangspektrum ist allerdings stark eingeschränkt. Das liegt weniger an den nur acht Ritzeln; die 50/34-Kurbel ist eher straßen- als geländetauglich, in Kombination mit der 11-34-Kassette fehlen vor allem kleine Gänge. Ungeübte Gravelbiker dürften damit an Anstiegen Probleme bekommen.
Ein klarer Missgriff ist der Lenker. Seine Form ist eine Katastrophe, eine vernünftige Positionierung der Hebel und sinnvolle Ausrichtung schlicht nicht möglich. Das billige Lenkerband verstärkt das unangenehme Griffgefühl, und der rutschige Sattel tut ein Übriges. Wer ernsthaft fahren möchte, dem würden wir empfehlen, diese Komponenten auszutauschen. Doch der Preisvorteil, bis hierhin Pluspunkt des Rades, ist dann dahin. Als günstiges Einsteigerrad oder Zweitrad, das im Winter die teureren Räder schont, kann es durchaus seinen Zweck erfüllen.
Die Qualität ist für den Preis akzeptabel, aber man muss Abstriche bei Komfort und Ausstattung machen und, gerade im Winter, einkalkulieren, dass das Rad nicht sehr langlebig sein dürfte. Wer ernsthaftes Interesse an Graveltouren hat, sollte lieber die Finger vom Graveler lassen. Im Fachhandel gibt es eine größere Auswahl an Rahmengrößen und bessere Komponenten. Selbst 1000-Euro-Bikes namhafter Hersteller bieten bessere Qualität und lassen sich auch reduziert ergattern – viel mehr Geld muss man also nicht in die Hand nehmen. Auch ein höherwertiges Gebrauchtrad, wenig benutzt, dürfte unterm Strich die bessere Wahl sein.