Julian Schultz
, Stefan Loibl
· 31.05.2022
Wie gut ist die Mittelklasse bei Gravelbikes? An den Carbonrahmen in der Preisklasse zwischen 3099 und 3599 Euro kann man eine Top-Verarbeitung erwarten – und bekommt sie auch. Trotzdem unterscheiden sich die vier Gravel-Räder von 8bar, Bombtrack, Scott und Stevens im Test deutlich.
Die Erfolgsgeschichte des Gravelbikes ist unbestritten. Aus dem Trend ist längst ein Massenphänomen geworden. Mancher Hersteller verkauft bereits mehr Gravelbikes als Rennräder. In Städten, auf Schotterwegen oder sogar auf Trails: An jeder Ecke sind sie zu sehen. Wie die Ameisen. Doch warum eigentlich? Wie hat es das Gravelbike geschafft, den Ruf des Nischenprodukts abzulegen? Zwölf aktuelle 2022er-Modelle aus drei Preisklassen geben im TOUR-Test eine Antwort darauf und zeigen exemplarisch die Diversifizierung im Gravel-Segment.
Die einfache Rechnung, dass sich ein Gravelbike vorwiegend durch breite Reifen und einen Rennlenker definiert, geht nicht mehr auf. Dafür bieten die Hersteller zu unterschiedliche Konzepte. Grundsätzlich lassen sich drei Strömungen ausmachen. Ausgehend vom vielseitigen Allrounder – sozusagen das Schweizer Taschenmesser unter den Gravelbikes –, tummeln sich an den Rändern die Spezialisten. Für mehrtägige Outdoor-Abenteuer stehen die Bikepacking-Räder, für schnelle Offroad-Tempojagden die Race-Gravelbikes. Und die Übergänge sind fließend.
Eng mit der Kategorie ist die Reifenwahl verbunden. Keine andere Komponente beeinflusst im Gelände das Fahrverhalten und den Komfort mehr als die Reifenbreite – sie sollte auch eines der wichtigsten Kaufkriterien sein. Verbreitetes Mittelmaß sind 40 Millimeter, aber der Spielraum reicht von straßennahen 32- bis zu monströsen 58-Millimeter-Reifen.Die Entwicklung geht zu immer breiteren und geländetauglicheren Konzepten, Rahmen und Gabel lassen bei nahezu allen Herstellern noch dickere Schlappen als in der Serienausstattung zu. Bombtrack beispielsweise bedient sich zudem eines Kniffs und gibt sein Modell für kleinere 650B-Laufräder frei, wie sie vom Mountainbike bekannt sind. Die maximale Reifenfreiheit erreicht damit extreme 58 Millimeter – ein Set-up, das nur für Spezialisten infrage kommt, die wirklich grobes Geläuf unter die Stollen nehmen wollen.
Für das Gros der Gravelbiker sind Reifenbreiten zwischen 40 und 45 Millimetern empfehlenswert, die Feinabstimmung erledigt das Profil. Die meisten Pneus suchen den besten Kompromiss zwischen Leichtlauf und Traktion und fühlen sich auf Asphalt ebenso wie im leichten Gelände wohl. Ab der Mittelklasse sind Tubeless-Reifen ohne Schlauch verbreitet, die auf unbefestigtem Untergrund zwei große Vorteile bieten: Sie können mit weniger Druck gefahren werden, ohne dass das Pannenrisiko steigt, und sind dennoch schnell. Außerdem kann die Dichtmilch kleinere Einstiche in wenigen Reifenumdrehungen verschließen. Viele Modelle lassen mit Tubeless-Ready-Reifen die Option für einen Systemwechsel zu.
Neben der Reifenbreite ist der Radstand ein entscheidender Faktor für das Fahrverhalten und prägt den Charakter eines Gravelbikes. In Relation zu Straßenrennrädern ist der Radstand von Gravelbikes etwas größer, bei Rahmengröße 56 fast immer mehr als 1.000 Millimeter, wodurch sich ein besserer Geradeauslauf ergibt.
Bei Schaltung und Bremsen greifen alle Hersteller auf spezielle Gravelbike-Antriebe zurück. Anders als in unserem Gravel-Spezial 2021 gibt nicht mehr Shimano, sondern SRAM den Ton an. Zwei Drittel aller Räder sind mit der Technik der US-Amerikaner ausgestattet, wobei die Rival-Gruppe dominiert. Scott spendiert seinem Addict Gravel für 3299 Euro die moderne eTap-Funkschaltung. Vor allem beim Canyon-Grail-Gravelbike mit Alu-Rahmen ist das bemerkenswert, da es zum Preis von 2199 Euro zum günstigeren Segment zählt und sich auf diese Weise von der teils deutlich teureren Konkurrenz abhebt. Stevens stattet sein Rad mit der GRX-Gruppe des japanischen Konkurrenten Shimano aus und nutzt die Kombinationsvielfalt der Komponenten.
Auffällig: Nur zwei von zwölf Gravelbikes in unserem Test verfügen über eine Zweifach-Kurbel, die Wachablösung durch Antriebe mit nur einem Kettenblatt an Gravelbikes schreitet also weiter voran. Die Vorteile – einfach zu bedienen, wenig fehleranfällig und wartungsarm – scheinen beim Publikum gut anzukommen. Das Gangspektrum kann aber ebenso für weniger trainierte wie für fitte Sportler etwas zu knapp bemessen sein, bzw. muss an den eigenen Fahrstil angepasst werden. Erst die Getriebe mit 12 oder gar 13 Ritzeln kann man uneingeschränkt empfehlen, weil Spektrum und Sprünge zwischen den Gängen akzeptabel sind.
Ein Gravelbike des Jahres 2022 ist erst komplett, wenn es neben den vom Rennrad bekannten Gewindeösen für Trinkflaschen-Halter an Unter- und Sitzrohr noch weitere Montagepunkte für Taschen, Werkzeugbox oder Schutzbleche bietet. Insbesondere Bikepacking-Räder definieren sich über vielfältige Montageoptionen für Gepäcksysteme. An manchen Modellen etwa findet sich kaum ein Rahmenteil ohne eine Befestigungsöse – was vermutlich nur die wenigsten Gravelbiker nutzen werden. Zum Standard zählt inzwischen eine Aufnahme am Oberrohr, an der sich eine kleine Tasche anbringen lässt.
Seit einiger Zeit versehen die Hersteller ihre Geländeräder mit speziellen Gravellenkern, deren Enden nach außen gestellt sind; diese Griffposition soll die Kontrolle über das Rad in schwierigem Gelände verbessern und die Unterarme entlasten. Unsere Testräder zeigen sich bei diesem Feature vergleichsweise zurückhaltend, Winkel um 15 Grad sind ein Durchschnittswert.
An den Carbonrahmen in der Preisklasse zwischen 3099 und 3599 Euro kann man eine Top-Verarbeitung erwarten – und bekommt sie auch. Rahmengewichte um 1200 Gramm sind üblich, damit sind Kompletträder um neun Kilo drin. Das meiste lässt sich noch mit Laufrädern und Reifen rausholen, wie das 8,7 Kilo leichte Stevens Camino Pro zeigt. Das Hamburger Allround-Modell holt den Gewichtsvorteil vor allem durch den leichten Alu-Laufradsatz von DT Swiss heraus. Die recht schweren Syncros-Laufräder verhindern ein besseres Gesamtergebnis des Scott Addict Gravel, obwohl es über den leichteren Rahmen verfügt. Geschaltet und gebremst wird in der Klasse überwiegend mit Antrieben mit einem Kettenblatt von SRAM und Shimano, auch Elektroschaltungen sind zum Teil an Bord. Insgesamt ermöglichen alle vier Modelle jede Menge Fahrspaß und spielen je nach Terrain und Einsatzzweck ihre Stärken aus.
Das 8bar Mitte v3 will zwei Räder in einem sein. Mit speziellen Ausfallenden an Alu-Hinterbau und Carbongabel lässt sich die Geometrie verändern, zudem kann man zwischen 650B- und 700C-Laufrädern mit bis zu 45 Millimeter breiten Reifen wählen. Im Vergleich zu Gravel-Spezialisten fällt der Radstand kurz und die Sitzposition sehr aufrecht und kompakt aus. Der schwere Rahmen und Spezial-Komponenten wie das Exzenter-Tretlager treiben das Gesamtgewicht in die Höhe. Trotzdem pflügt das 8bar im Gravel-Aufbau auf 40-mm-Reifen souverän durchs Gelände. In steilen Rampen fordert die begrenzte Übersetzung des 1x11-Antriebs vollen Einsatz. Trotz Alu-Rahmen fährt sich das 8bar erstaunlich komfortabel. Das liegt am langstreckenerprobten Sattel von Brooks, dessen Satteldecke viel flext. Will man das Mitte v3 als Abenteuer-Rad nutzen, sollte man im Konfigurator zur Bikepacking-Gabel greifen. So kann man zu den drei Flaschenhaltern am Rahmen auch noch Fronttaschen, Schutzbleche und eine Lampe montieren.
Positiv: komfortabler Sattel, Umbau zum Straßenrad/Singlespeed möglich
Negativ: schwerer Rahmen, begrenztes Gangspektrum
In der Gravel- und Commuting-Szene hat sich der Kölner Bike-Hersteller Bombtrack vor allem mit funktionalen Stahlrädern einen Namen gemacht. Das Hook EXT C tanzt deshalb gewissermaßen aus der Reihe, schließlich ist es das einzige Carbon-Gravelbike im Portfolio der Kölner. Das Top-Modell der Hook-Serie rollt ab Werk auf kleinen 650B-Laufrädern mit bis zu 52 Millimeter breiten Reifen. Wir waren auf 47-Millimeter-Pneus unterwegs, die auf matschigem Untergrund zwar eine gute Traktion bieten, das Fahrverhalten aber träge machen. Rahmen und Gabel bieten auch Platz für 700C-Laufräder mit etwas schmaleren Pneus – für Schotterautobahnen die bessere Alternative. Beim Komfort liegt das Bombtrack trotz der voluminösen Reifen und des Carbon-Chassis nur auf durchschnittlichem Niveau. Gewöhnungsbedürftig ist die Abstufung des 1x11-Getriebes von SRAM. Durch das kleine Kettenblatt und die Kassette mit 10/42-Abstufung gibt es ausreichend kleine Übersetzungen, allerdings fallen die Sprünge zwischen den Gängen groß aus.
Positiv: hochwertig verarbeitet, Option für 700C-Laufräder
Negativ: relativ wenig Komfort, träges Lenkverhalten
Mit dem Modellwechsel im vergangenen Jahr verpasste Scott seinem Addict Gravel eine eigenständige Geometrie, nachdem es jahrelang auf der Plattform des Cyclocross-Rads Addict CX basierte. Das Addict Gravel 20 sortiert sich als Mittelklasse-Modell in die Produktfamilie ein, das Top-Modell Scott Addict Gravel Tuned testeten wir in TOUR 9/2021. Mit dem vergleichsweise langen Vorbau sitzt man auch auf der Variante mit elektrischer SRAM-Rival-Schaltung gestreckt; die sportliche Position, ein relativ kurzer Radstand und das geringe Gewicht laden regelrecht zum Ballern ein. Der sehr fahrstabile Rahmen und griffige Schwalbe-Reifen halten das Rad auch auf losem Untergrund gut in der Spur. Wird das Gelände jedoch ruppiger, fehlt es dem Addict etwas an Federkomfort. Die 45-Millimeter-Reifen können das auch mit geringem Luftdruck nur bedingt kompensieren. Ober- und Unterrohr bieten vier Befestigungsoptionen für Flaschen und Zubehör, elegant gelöst sind die „versteckten“ Aufnahmepunkte für Schutzbleche.
Positiv: relativ geringes Gesamtgewicht, hochwertig verarbeitet
Negativ: relativ wenig Federkomfort
Wo geht’s hier zur Schotterautobahn?, ruft einem das Stevens Camino Pro förmlich zu. Denn darauf fühlt sich das Gravelbike der Hamburger am wohlsten. Der leichte Laufradsatz drückt das Gewicht auf unter neun Kilogramm – entsprechend flott lässt sich das Stevens auch beschleunigen. Mit den 40-Millimeter-Reifen rollt das Camino Pro auch auf Asphalt ausgesprochen zügig. Weil zudem die Sitzposition wegen des langen Oberrohrs und Vorbaus relativ gestreckt ausfällt, hebt das Stevens die Grenzen zum geländetauglichen Allroad-Bike auf. Viel Federkomfort sollte man vom Camino Pro allerdings nicht erwarten. Schon kleinere Schlaglöcher gibt das Gravelbike ziemlich ungefiltert weiter. Etwas Besserung dürften breitere Reifen bieten, Rahmen und Gabel mit zahlreichen Befestigungsösen lassen Platz für 45-Millimeter-Pneus. Der GRX-Antrieb mit Easton-Kurbel und Kettenabfallschutz bietet nur ein begrenztes Gangspektrum. Neben der Pro-Version ist auch ein 500 Euro günstigeres Basismodell - das Camino mit 2x11 Shimano GRX-Schaltung - erhältlich.
Positiv: geringes Gesamtgewicht, leichter Laufradsatz
Negativ: wenig Federkomfort, viele Befestigungsoptionen