Unbekannt
· 22.09.2021
Stahl, noch vor 30 Jahren der alternativlose Rahmenwerkstoff, ist beim Rennrad fast abgemeldet: zu schwer und „irgendwie retro“. Doch kleinen Firmen bietet das bewährte Material die Möglichkeit, individuelle Wege zu gehen. Im Test: vier moderne Stahlkonzepte aus Deutschland, vom Straßenrenner bis zum Gravelbike.
Max von Senger und Etterlin ist Designer, kein Techniker. Er ist der Gründer der Radmarke Standert, zu Hause in Berlin-Mitte – und heute auch im Sport überzeugter Stahlrahmenfahrer. „Anfangs war es eher so ein ästhetisches Ding“, sagt er, „wir haben mit Singlespeeds angefangen, die sich im Design an japanischen Keirin-Rädern orientiert haben. Erst in der weiteren Entwicklung habe ich dann auch die Performance schätzen gelernt: Stahlräder haben einfach ein sattes und lebendiges Gefühl auf der Straße. Und wenn du sie pflegst, hast du sie lange!“
In seiner kleinen Marktnische ist Stahl nicht kaputt zu kriegen – im Gegenteil: Immer neue Firmen und Designs greifen auf den Traditionswerkstoff zurück. Was Standert und den anderen Stahl-Marken dabei hilft, ihre Leidenschaft in Rahmen umzusetzen, ist der Werkstoff selbst. Auch Kleinstbetriebe bis hinunter zur One-Man-Show können individuelle Stahlrahmen herstellen. Rohrsätze diverser Hersteller wie Tange, Dedacciai, Columbus oder Reynolds, kombiniert mit einer Vielzahl weiterer Rahmenteile, führen – schick lackiert – zu eigenständigen Ergebnissen. Bei ausreichender Stückzahl sind auch eigens angefertigte Ausfallenden, Rohrformen oder Tretlagergehäuse eine Option, denn Stahl lässt sich relativ einfach bearbeiten.
Bei Carbonrahmen lägen die Einstiegshürden für ein individuelles Produkt deutlich höher. Hier bleibt kleinen Marken nur die individuelle Lackierung eines zugekauften Rahmens, den andere Hersteller auch beziehen können. Gleichzeitig klinken sich die Stahl-Individualisten aus einem Rennen aus, das sie schon am Start verloren haben: Beim Optimieren von Gewicht oder Aerodynamik haben sie gegen die vielköpfigen Entwicklungs teams der Carbon-Top-Marken keine Chance. Mit dem Werkstoff Stahl starten sie nicht in einer niedrigeren Liga, sondern in einer anderen Disziplin. Ein Rennrad mit Stahlrahmen wird bei guter Steifigkeit immer etwa ein Kilo schwerer sein als eines mit Carbongestell. Wer ständig auf Höchstleistung aus ist, kauft fast automatisch den Faserflitzer. Selbst wenn die Bedeutung des Rahmengewichts traditionell überbewertet wird: hochheben kann jeder, und auch im Wiegetritt fühlt sich ein Stahlrahmen schwerfälliger an als ein Carbon-Leichtgewicht.
Für Stahlrahmen sprechen dennoch einige Ansichten, Fakten – und Vorurteile. Um mit diesen anzufangen: Dass Stahlrahmen per se komfortabel seien, ist Unsinn. Richtig konstruiertes Carbon kann das besser. Schon die sinnvolle Kombination aus Carbonsattelstütze und Sattel bewirkt viel, wie in diesem Testfeld der Vergleich zwischen dem hoppelig-harten 8bar und den deutlich komfortableren Standert oder Rennstahl zeigt. Zudem sind die schmalsten Reifen im Test 28 Millimeter breit. Mikro-Rütteleien saugen sie so gut auf, dass das Rahmenmaterial höchstens unterstützend wirkt. Wenn, dann zählt die Konstruktion, das Rahmendesign.
Was definitiv für Stahl spricht, ist dessen dem Carbon weit überlegene Energie- und Ökobilanz. Recycelter Stahl (und das ist weltweit ein großer Teil des Materials) braucht in der Herstellung nur wenige Prozente der Energie von Carbonlaminat und lässt sich – ganz anders als die Fasern – praktisch endlos recyceln. Angesichts der im Test weit verbreiteten Gabeln, Laufräder und Anbauteile aus Carbon werden zwei Kilo Stahl anstelle eines Kilos Carbon die Welt zwar kaum verbessern. Doch auch Reparierbarkeit, Robustheit und zeitlosere Optik können für das Metall sprechen.
In der Klimabilanz des Transportwegs nähmen sich beide Materialien in diesem Testfeld indes wenig: Alle Marken lassen ihre Stahlrahmen in Taiwan schweißen. Andreas Kirschner, Chef von Rennstahl und der Titan-Marke Falkenjagd, hängt das Umweltthema dennoch hoch: „Die Ökobilanz unserer Fahrräder haben wir während der gesamten Wertschöpfungskette im Auge, von der energieeffizienten Gewinnung der notwendigen Rohstoffe und der extrem langen Haltbarkeit des Endproduktes, bis hin zur Wiederverwertbarkeit“, verkündet seine Webseite.
Unsere Testräder eint außer dem Werkstoff Stahl auch ihr Grundkonzept: Während Carbonräder immer häufiger in nur einer Variante ohne die Chance individueller Anpassung angeboten werden, lassen sich unsere Stahlsportler sehr weitgehend in Baukastensystemen personalisieren. Die beiden günstigeren Stahlrahmen im Test, die Modelle von Tannenwald und 8bar, leuchten auf Wunsch fast in der gesamten RAL-Farbpalette, und die ohnehin sehr individuell lackierten Räder von Standert und Rennstahl lassen viel Freiheit bei der Ausstattung. Damit besetzen die Stahlräder ihre Marktnische nachdrücklich: Individualität statt Messwert, Gefühl statt Aerodynamik.
Je integrierter und unabänderlicher die High-End-Carbonräder werden, desto klarer tritt auch die Nische der hier getesteten Stahlrenner hervor: Kleine Manufakturen liefern die Individualität, die der Großserie fehlt. Dass die Rahmen werkstoffbedingt mindestens ein Kilo schwerer sind, ist der Preis dafür.
Nachdem die Räder die TOUR-Labortests durchlaufen hatten, addierten sich die entsprechenden Wertungspunkte zu Noten. Sowohl die beiden Rennräder als auch die Gravelbikes können trotz ihrer Luxusausstattungen nicht ganz die Nachteile der vergleichsweise schweren Rahmen kompensieren.
Klassische Rennradfahrer wird am ehesten das elegante, vergleichsweise leichte Standert Triebwerk begeistern. Das 8bar Kronprinz mit seinem nur halb so teuren Rahmen-Set ist sehr steif, minimalistisch und robust. Das Einsteigermodell „Vogelfrei“ von Tannenwald wird von vorneherein eher als sehr individuell konfigurierbares Gebrauchsrad denn als Sportler angeboten; unser Testrad zeigt die Möglichkeiten auf. Rennstahl betritt mit dem laufruhigen, durchdachten 853 Trail Gravel die wachsende Nische der offroad-orientierten Schotter-Räder.
Allen gemein ist eine Erfahrung, die sich erst beim Wechsel zurück auf einen Carbonrenner wirklich erschließt: Sie fahren ruhig. Elegant. Unaufgeregt. Fast lautlos. Das Schnarren des Freilaufs, verstärkt im Resonanzraum eines Carbonrahmens, nervt dagegen plötzlich wie der Sound einer bedrohlich nahen Motorsäge beim Pilzesammeln.
8bar Kronprinz Steel V1
Preis 4.099 Euro, Rahmen-Set 898 Euro
Gewicht: 9,2 Kilo
Info: 8bar-bikes.com
Rahmengrößen: S, M, L
AUSSTATTUNG
Antrieb: SRAM Force AXS eTap
Schaltung: SRAM Force AXS eTap
Bremsen: SRAM Force Disc, 160/160 mm
Laufräder/Reifen: 8bar Road Ultra Disc / Schwalbe One TLE 28-622
Standert Triebwerk Disc
Preis: 5.599 Euro, Rahmen-Set 1.799 Euro
Gewicht: 8,9 Kilo
Info: standert.de
Rahmengrößen: 48, 50, 52, 54, 56, 58, 60
AUSSTATTUNG
Antrieb: SRAM Force AXS eTap 2x11
Schaltung: SRAM Force AXS eTap
Bremsen: SRAM Force Disc, 160/140 mm
Laufräder/Reifen: DT Swiss PRC 1400 Spline / Vittoria Corsa Graphene 28-622
Rennstahl 853 Trail Gravel Hawaii
Preis: 5.600 Euro
Gewicht: 9,7 Kilo
Info: rennstahl-bikes.de
Rahmengrößen: S, M, L, XL, XXL
AUSSTATTUNG
Antrieb: Campagnolo Ekar 1x13, 9-42 Zähne
Schaltung: Campagnolo Ekar
Bremsen: Campagnolo Ekar, 160/140 mm
Laufräder/Reifen: Tune Schwarzbrenner / Schwalbe G-One Bite 50-622
Tannenwald Vogelfrei C.3
Preis: 5.800 Euro
Gewicht: 10,4 Kilo
Info: tannenwald-bikes.de
Rahmengrößen: XS, S, M, L, XL, XXL
AUSSTATTUNG
Antrieb: Shimano GRX 1x12/SRAM XO 10-50 Zähne
Schaltung: SRAM XO eTap AXS
Bremsen: Hope RX4, 160/160 mm
Laufräder/Reifen: SON Dynamo/ Hope RS4/ DT Swiss Carbon/ Schwalbe G-One Speed 38-622
Den vollständigen Test mit detaillierten Noten und Messwerten von Gewicht, Steifigkeit und Ausstattung finden Sie unten zum Download für 1,99 Euro.
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