Julian Schultz
· 25.02.2023
Stoll hat sich mit erstklassigen Mountainbikes einen Namen gemacht. Nun wagt sich der Schweizer Hersteller auf die Straße: Das Stoll S1 Race ist ein Leichtbau-Renner, dessen Rahmen-Set in Deutschland produziert wird.
Born on trails: Der Slogan lässt die Wurzeln des Schweizer Fahrradmarke Stoll als Hersteller von Mountainbikes erkennen. Das überrascht nicht, schließlich zeichnet Thomas Stoll als ehemaliger MTB-Profi für die Marke mitverantwortlich. Als der VizeEuropameister vor sieben Jahren in einer Doppelgarage die ersten Bikes aufbaute, deutete folglich nichts auf ein Straßenrad hin. Doch nicht nur die Garage ist inzwischen einem modernen Holzbau als Firmensitz gewichen, auch im Portfolio der Eidgenossen hat sich etwas getan. Seit 2021 bietet Stoll das Rennrad S1 an.
Entscheidenden Anteil daran hat ein weiterer Ex-Profi – dieses Mal aber einer von der Straße. Lukas Spengler, Gewinner des U23-Rennens Paris-Roubaix, habe “das Know-how eingebracht, um das Projekt anzugehen”, so Stoll über seinen Landsmann. Der war nach frühem Karriereende als Mechaniker bei Stoll Bikes eingestiegen.
Die Besonderheit des S1: Jeder Renner wird individuell angefertigt, das Testrad für TOUR ist ein Beispiel dafür, was Stoll auf die Räder stellen kann. Augenfällig und passend zum technischen Look des kantigen Rahmens, dessen Linien bisweilen an italienische Supersportwagen erinnern, ist die raue Carbonoptik, die von den wenigen farbigen Akzenten kaum kaschiert wird. Umso bemerkenswerter, dass am Rahmen-Set das Qualitätssiegel “Made in Germany” prangt.
Rahmen und Gabel kommen nicht aus Fernost, sondern werden von den Carbon-Spezialisten bei Bike Ahead vor den Toren Würzburgs gefertigt. Der Rahmen wird in Handarbeit in einer Negativform laminiert und gebacken. Über zwei unterschiedliche Carbon-Belegungspläne lassen sich Gewicht und Rahmensteifigkeit an die Wünsche des künftigen Piloten anpassen. Variationen der Rahmengeometrie sind indes nicht möglich, auch kann man nur aus drei Rahmengrößen wählen.
Man darf die Einzel- also nicht mit Maßanfertigung verwechseln. Wahlweise lässt sich noch ein kleines Staufach ins Unterrohr des Rahmens integrieren. “So werden normalerweise Prototypen produziert”, erklärt Stoll. Bis zu zwei Wochen kann es dauern, bis ein Rahmen-Set fertig ist. Inklusive Endmontage in der Schweiz ist ein S1 innerhalb von vier Wochen fahrbereit.
Ähnlich dem Trail-Mountainbike T1, das unser Schwestermagazin BIKE mit Lob überschüttete, definiert sich auch das S1 Race durch sein geringes Gewicht. Exakt 6,6 Kilo bringt es auf die Waage. Im TOUR-Test waren bislang nur drei Modelle mit Scheibenbremsen leichter, wobei das S-Works Aethos (6,2 Kilo) das Ranking anführt. Das niedrige Gewicht des Stoll ergibt sich zum einen durch das Rahmen-Set (1380 Gramm), zum anderen durch die hochwertige Ausstattung; speziell die Laufräder (2444 Gramm) mit Duke-Felgen und Carbon-Ti-Naben sind rekordverdächtig leicht.
Auf der Straße meistert das S1 Race alle Anforderungen wie Anstiege, Abfahrten und Sprints tadellos – und fühlt sich dabei relativ schnell an. Zwar sind 222 Watt Tretleistung, die notwendig sind, um mit dem Rad 45 km/h zu fahren, kein Ausweis hervorragender Aerodynamik; im Vergleich zu anderen sehr leichten Rädern wie dem Cervélo R5 oder dem Wilier Zero SLR ist es jedoch eine ganze Klasse aerodynamischer. Die Sitzposition ist rennmäßig, der Federkomfort mit 28 Millimeter breiten Reifen ordentlich. Maximal passen 32-Millimeter-Pneus durch Rahmen und Gabel.
Stoll räumt seinen Kunden üppige Möglichkeiten zur Individualisierung ein. Schaltgruppe, Laufräder, Cockpit: Fast jede Komponente lässt sich aus einem großen Katalog auswählen, am Firmensitz bei Schaffhausen ist ein kostenloses Bikefitting möglich. Neben dem sportlichen Race bietet Stoll den S1-Rahmen als “Gran Turismo” mit aufrechterer Sitzposition und “Strade Bianche” mit größerer Reifenfreiheit an.
Die Exklusivität hat ihren Preis. 12.800 Euro kostet das Testrad mit teuren High-End-Komponenten. Ein einfacher ausgestattetes Modell mit Shimanos Ultegra Di2 ist für rund 9650 Euro eingepreist (S1 Silver), das Rahmen-Set mit knapp 5800 Euro. Stoll ist sich dessen bewusst, dass seine Räder das exklusive Vergnügen einer relativ kleinen Klientel bleiben werden.
Seit Beginn hat er rund 120 Räder verkauft, der Großteil davon rollt über Schweizer Straßen. Die Top-Modelle namhafter Hersteller kosten ähnlich viel, lassen sich aber kaum so individuell an die Wünsche der Käufer anpassen wie die Rennräder aus schweizerischer Einzelanfertigung.
Für das Stoll S1 Race ergibt sich eine TOUR-Gesamtnote von 1,7
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr;
STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersichtlichkeit geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.
******Aerodynamik theoretisch benötigte Tretleistung, um den Luftwiderstand bei 45 km/h zu überwinden, gemessen im Windkanal mit einem tretenden Beindummy.