Das Reacto schickt Merida dezidiert als Aero-Flitzer ins Rennen, der die scharfe Waffe im Kampf gegen den „Feind des Roadbikers“ darstellen soll. Mit der etwas martialischen Wortwahl spielt der deutsch-taiwanische Hersteller darauf an, dass der Luftwiderstand schon bei gemäßigtem Tempo der dominante Fahrwiderstand ist. Der Bolide grenzt sich damit klar vom Scultura ab, das im Sortiment die Rolle des leichten Wettkampf-Allrounders einnimmt. Doch kann das Reacto im fünften Modelljahr – der Vorgänger war sogar sieben Jahre im Programm – noch mit den Schnellsten konkurrieren?
Eines steht schon mal fest: Das Reacto 9000 ist ein Vollblut-Racer, der sich in den Windschatten des Top-Modells klemmt – die Testversion punktet vor allem in aerodynamischer Hinsicht. Nur die Räder von Canyon, Cube und Scott waren bislang messbar schneller. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Gegenwind-Waffe ihre Möglichkeiten weitgehend ausgereizt hat. Mit den imposanten Reynolds-Laufrädern und windschnittiger Lenker-Vorbau-Einheit von Vision benötigt das Reacto 210 Watt, um die 45 km/h zu überwinden – ein Wert, wie ihn inzwischen auch leichtere (Top-)Allrounder erzielen. Die aerodynamisch besten Racer kratzen inzwischen an der 200-Watt-Schwelle. Ein Wechsel auf noch schnellere Laufräder bringt dem Reacto keine nennenswerte Verbesserung, wie unsere Vergleichsmessung im Windkanal zeigte.
Obwohl das Merida im Vergleich zu aktuellen Interpretationen eines Aero-Rennrads auf spektakuläre Formen verzichtet, die für gewöhnlich auf die Waage drücken, kann es in der Gewichtswertung nicht profitieren und landet hierbei im Mittelfeld. Hat man die in fahrfertigem Zustand fast acht Kilogramm in Fahrt gebracht und nimmt man nicht gerade hochprozentige Anstiege unter die Reifen, lässt sich dennoch ein hohes Grundtempo anschlagen. Ihren Anteil daran hat auch die rennmäßige Übersetzung. Auf schnelle Kurven reagiert die Rennmaschine direkter als manch anderer Bolide.
Unser Tester lobte vor allem den 700 Euro teuren High-End-Lenker, den unter anderem Top-Star Jonas Vingegaard (Visma | Lease a Bike) an seinem Cervélo R5 fährt. Das integrierte Carbonteil mit geschwungenem Oberlenker betont die rennmäßige Sitzhaltung. Durch die kompakte Form und strömungsgünstige Position der Griffhöcker können sich Fahrerin oder Fahrer zudem klein machen, um dem Fahrtwind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Auf die Anforderung nach Federkomfort am Heck antwortet Merida mit einer Spezialkonstruktion und „schneidet“ eine Kerbe in die Sattelstütze. Die Aussparung unterhalb des Klemmkopfes reduziert den ansonsten recht großen Querschnitt der Carbonstütze, die solchermaßen verschlankt auf kleinere Unebenheiten etwas nachgiebiger reagiert als konventionelle (Aero-)Stützen.
Da die hochwertigen Tubeless-Reifen zudem etwas breiter ausfallen, fährt sich das Reacto 9000 nicht unkomfortabel. Für epische Touren über Kopfsteinpflaster und schlechten Asphalt sollte man dennoch einigermaßen trainiertes Sitzfleisch mitbringen. Ein Nebeneffekt der speziell geformten Sattelstütze ist die Möglichkeit, in der Aussparung ein vollwertiges Rücklicht zu platzieren, das bislang zur Serienausstattung zählte. Im aktuellen Modelljahr kostet der Strahler jedoch 20 Euro Aufpreis. Weiterhin mit an Bord ist dagegen ein Mini-Tool, dass in einer gummierten Box unter dem Sattel klapperfrei und gut verborgen mitreist. In der Endabrechnung qualifiziert sich das Reacto in der getesteten Preisklasse für den oberen Bereich des Tableaus und wandelt – obwohl schon einige Jahre im Angebot – auf den Spuren von Top-Material. Mit 7.000 Euro ist das Testrad allerdings das teuerste Modell im Vergleich. Gegenüber der aktuellen Profiversion, die kaum leichter und schneller sein dürfte, spart man 2.600 Euro. Fans von SRAM werden enttäuscht, da alle Ausstattungsvarianten mit Schaltgruppen von Shimano aufgebaut sind.
Gewicht (25 Prozent der Gesamtnote): Für die Bewertung zählt das gewogene Komplettradgewicht in der einheitlichen Testradgröße 56–57 Zentimeter. Wir weisen zur Orientierung aber auch die Laufradgewichte aus. Die Notenskala ist so gelegt, dass bei einem mittleren Streckenprofil von 1.000 Höhenmetern pro 100 Kilometer die physikalische Wirkung von Gewicht und Aerodynamik für die Durchschnittsgeschwindigkeit vergleichbar ist. Zur Orientierung: Die aerodynamische Optimierung des Rades kann auf solch einer Strecke bis zu knapp vier Kilogramm Gewicht kompensieren. Gleichzeitige Bestnoten in Gewicht UND Aerodynamik schließen sich aus, aber es gibt Rennräder, die einen sehr guten Kompromiss finden. Ist die Strecke bergiger als unsere Referenzstrecke, nimmt die Bedeutung des Gewichts zu, ist die Strecke flacher, wird die Aerodynamik wichtiger.
Luftwiderstand (25 Prozent der Gesamtnote): Dynamisch gemessen im Windkanal, mit TOUR-Dummy, drehenden Rädern, bewegten Beinen und über ein großes Spektrum von Anströmwinkeln. Verdichtet zu einer Aerodynamik-Note für typische Umweltbedingungen.
Frontsteifigkeit (10 Prozent der Gesamtnote): Wichtige Größe für die Lenkpräzision und das Vertrauen ins Rad bei hohem Tempo, ermittelt im TOUR-Labor. Es wird eine Gesamtsteifigkeit am fahrfertig montierten Rahmen-Set ermittelt, also inklusive Gabel. Die Steifigkeitswerte werden gedeckelt. Ziel sind nicht unendlich steife, sondern ausreichend fahrstabile Rahmen.
Tretlagersteifigkeit (10 Prozent der Gesamtnote): Verrät, wie stark der Rahmen bei harten Tritten, zum Beispiel im Sprint, nachgibt. Diese Messung findet ebenfalls im TOUR-Labor statt, mit einer realitätsnahen Aufspannung, bei der sich der Rahmen wie im Fahrbetrieb verformen kann.
Komfort Heck (10 Prozent der Gesamtnote): Ein Maß für die Nachgiebigkeit bei Fahrbahnstößen, gemessen im TOUR-Labor. Es wird ein Federweg bei Belastung der Sattelstütze gemessen. Der Messwert korreliert sehr gut mit den Fahreindrücken und dem Komfortempfinden. Gute Noten bedeuten auch eine ordentliche Fahrdynamik, die sich auf schlechten Straßen positiv auf die Geschwindigkeit auswirkt.
Komfort Front (5 Prozent der Gesamtnote): Analog zum Heck wird die Verformung des Lenkers unter Last ermittelt. Eine gute Note bedeutet viel Federkomfort, was die Hände auf langen Touren entlastet. Starke Sprinter, die viel Steifigkeit wünschen, sollten aber eher auf einen steifen Lenker achten.
Schalten (5 Prozent der Gesamtnote): Die Schalteigenschaften werden im Fahrtest ermittelt. Bewertet wird nicht der Preis oder die Qualitätsanmutung einzelner Komponenten, sondern ausschließlich die Funktion des gesamten Getriebes. Dabei spielen beispielsweise auch die Zugverlegung, die Qualität der Züge und die montierte Kette eine Rolle.
Bremsen (5 Prozent der Gesamtnote): Ähnlich wie beim Schalten zählt auch hier der Test auf der Straße, es fließen zusätzlich die Erfahrungen aus unseren unzähligen Tests von Bremsen mit in die Bewertung ein. Dabei wird nicht das Bauteil selbst, sondern die Funktion als Zusammenspiel von Bremskörper, Belägen und Scheiben bewertet: Wie gut lassen sich die Bremsen modulieren? Wie standhaft sind die Bremsen, wie lang sind die Bremswege?
Reifen (5 Prozent der Gesamtnote): Bewertet werden Rollwiderstand und Grip – soweit bekannt aus einem unserer unabhängigen Reifentests oder anhand des Fahreindrucks. Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.
Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.