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Nein, niemand braucht ein Rennrad, das weniger als 6,8 Kilogramm wiegt. Dieses Gewicht markiert nach dem technischen Reglement des Weltradsportverbands UCI die Untergrenze für Rennräder, die in Wettkämpfen eingesetzt werden dürfen. Leichter dürfen auch die Maschinen der Profis nicht sein, wenn sie die steilsten Berge der Tour de France hinaufkurbeln. Dass (noch) leichtere Räder deswegen nicht erstrebenswert wären, ist jedoch nur Theorie. Tatsächlich kann sich kaum ein Radsportler der Faszination entziehen, die von einem extrem leichten Rennrad ausgeht. Das betörende Gefühl, mit einem federleichten Untersatz die Berge zu erklimmen, als hätte man plötzlich Flügel bekommen, ist viel zu verlockend, als dass man darauf einfach so verzichten könnte. Jedes Gramm Gewichtseinsparung macht ein Rad explosiver im Antritt und spielerischer im Handling – Leichtbau birgt Suchtpotenzial, vor allem für Radlerinnen und Radler, deren Leidenschaft die Berge sind.
Diese Emotionen dürften ein Grund dafür sein, warum sich Leichtbau-Wettkampfräder wacker im Programm vieler Hersteller halten. Im Profisport spielen sie mittlerweile eine untergeordnete Rolle, denn hier setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass ein etwas schwereres, aber aerodynamisch schnelleres Rad in den meisten Rennsituationen die bessere Wahl ist. Zudem nähern sich in den vergangenen Jahren auch aerodynamisch gute Räder, fahrfertig aufgebaut, immer mehr der Sieben-Kilo-Marke, weshalb die Wahl zunehmend häufiger zugunsten eines Aero-Modells ausfällt. Bei einigen Herstellern wird ein zweites Modell gänzlich überflüssig. Herausragendes Beispiel hierfür ist das brandneue Specialized S-Works Tarmac SL8, das mit einem Gewicht von nur 6,6 Kilo (gewogen ohne Pedale und Zubehör) und guter Aerodynamik in TOUR 11/2023 die Bestnote von 1,3 in unserem Bewertungssystem abräumte, weil es die beiden konträren Eigenschaften Gewicht und Aerodynamik bestmöglich vereint. Im Renntrimm, also inklusive Pedalen und Flaschenhalter, dürfte es das UCI-Limit, wenn überhaupt, nur knapp überschreiten.
Dass es trotz Aero-Trend auch heute noch eine Klientel für mehr oder weniger kompromisslos leichte Rennräder geben muss, zeigen mehrere Neuerscheinungen namhafter Hersteller im Jahr 2023. Bianchi legte sein Leichtbaumodell Specialissima neu auf, Canyon überarbeitete das Ultimate und bringt eine gewichtsoptimierte CFR-Variante. Die britisch-taiwanische Marke Factor nutzte die große Bühne der Tour de France, um ihr neues Bergrad O2 VAM zu präsentieren. Die drei Neuheiten müssen sich in unserem Vergleichstest drei bekannten Leichtbaurädern von Giant, Trek und Storck stellen. Das Sextett soll vor allem zeigen, ob spezielle Leichträder in Zeiten eines Tarmac SL8 noch eine Daseinsberechtigung haben. Dabei sollen sie nicht nur beweisen, dass sie in Sachen Gewicht die Nase vorn haben. Weil alle Hersteller auch bei dieser Spezies mit aerodynamischen Optimierungen ihrer Rahmen-Sets werben, haben wir ihre Versprechen zudem im Windkanal überprüft.
Dass das Streben nach leichterem Material schon immer eine maßgebliche Triebfeder für die Rennradentwicklung ist, zeigt ein Blick in die Historie. Seit es Rennräder gibt, versuchen die Hersteller, ihren Konstruktionen mit teils aberwitzig anmutendem Aufwand Gramm für Gramm abzutrotzen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Leichtbau-Ära vor etwa zehn Jahren, als die leichte Felgenbremse noch Standard und die Carbonverarbeitung bereits weit fortgeschritten war. Da schafften es manche Räder, auf der Waage eine fünf vor dem Komma aufleuchten zu lassen – wohlgemerkt ohne nennenswerte Einbußen bei Stabilität, Ausstattung und Funktion. Einen Wettbewerbsvorteil im Sport brachte die Extremdiät aufgrund der genannten Mindestgrenze nicht, manches Profirad musste gar mit Gewichten künstlich beschwert werden. Profitieren konnten davon lediglich wenige solvente Hobbysportler, die bereit waren, teils absurd hohe Beträge für die superleichten Räder hinzublättern.
An der Preisgestaltung der Leichtbaukönige hat sich seitdem leider nichts geändert. Mit der heute obligatorischen Scheibenbremse rücken Gewichte von weniger als sechs Kilogramm allerdings in weite Ferne. Verstärkte Rahmen und Gabeln und schwerere Komponenten katapultierten die Gewichte nach oben, hinzu kommen die Trends zu integrierten Leitungen, breiteren Reifen und aerodynamischeren Rahmenformen. Die 6,8-Kilo-Marke wurde eine theoretische Grenze, denn unterbieten lässt sie sich mit aktueller Technik kaum. Die Hersteller versuchen, dieser Entwicklung mit exzessivem Einsatz von Carbon zu begegnen. Dessen Verwendung reicht, wie bei den Laufrädern von Giant und Factor, bis hin zu den Speichen.
Dennoch: Keiner unserer aktuellen Testkandidaten kann die 6,5-Kilo-Marke knacken, leichter geht’s mit heutigen Ansprüchen an die Technik ganz offensichtlich nicht. Damit lassen sich die 6,8 komfortabel treffen, mehr aber auch nicht. Ein Blick auf die nackten Rahmengewichte zeigt immerhin, dass seit der Disc-Zäsur kein Stillstand herrscht. Mit Gewichten um 800 Gramm, wie sie von Canyon und Storck erreicht werden, liegen die Konstruktionen wieder auf dem Niveau leichter Felgenbremsen Räder mit weitgehend runden Rohrquerschnitten. Auch das Giant TCR und das Trek Émonda gehören in diese Liga, wenn man das Mehrgewicht des integrierten Sitzdoms, der eine klassische Sattelstütze überflüssig macht, herausrechnet. Dass das Émonda mit 6,8 Kilogramm den letzten Platz im Gewichtsranking belegt, ist zum guten Teil der integrierten Lenkerkombi geschuldet, denn Laufräder und Schaltgruppe lassen sich als Schwergewichte ausschließen.
Erfreulich ist, dass sich das geringe Gewicht bei keinem Teilnehmer nachteilig auf Funktion und Fahreigenschaften auswirkt. Selbst ein Rad mit vergleichsweise geringer Fahrstabilität wie das O2 VAM von Factor ist für die meisten Fahrer und Einsätze noch steif genug. In Abfahrten mit hohem Tempo liegen aber die sehr steifen Räder von Canyon und Giant spürbar besser auf der Straße.
Auch beim Federkomfort am Sattel bietet kein Rad Anlass zur Klage, die Räder schlucken Unebenheiten ausgesprochen gut. Den „schwersten“ Rahmen im Test stellt das Bianchi Specialissima. Über die rund 100 Gramm Aufschlag gegenüber der Konkurrenz sollte man sich aber nicht den Kopf zerbrechen, zumal das Rad den Gewichtsnachteil an anderen Stellen wettmachen kann. Außerdem kann das ungewöhnliche Design im Windkanal punkten: Schon mit den relativ flachen Serien-Laufrädern gehört es gemeinsam mit Canyon und Storck zur schnelleren Gruppe im Vergleich, die bei der TOUR-Messung im GST-Windkanal rund 220 Watt Tretleistung bei 45 km/h benötigt, um den Luftwiderstand zu überwinden. Mit den schnelleren Referenz-Laufrädern bestückt, kann sich das Specialissima von der Konkurrenz sogar etwas absetzen. Hinter dem Trio rangieren mit etwas Abstand Trek, Factor und Giant, wobei nur beim Giant TCR das Rahmen-Set der größere Bremser ist. Factor und Trek könnten mit schnelleren Laufrädern zur vorderen Gruppe aufschließen.
Einem Top-Allrounder wie dem Specialized Tarmac können die Räder damit jedoch nicht Paroli bieten. Dessen erreichter Wert von 209 Watt – bei vergleichbarem Gewicht – liegt für die Leichträder weit außerhalb des Möglichen. Angesichts der Datenlage und immer leichter werdenden Aero-Modellen werden die Argumente für eine spezielle Leichtbau-Kategorie schwach. Für solvente Enthusiasten müssten sie noch leichter werden. Verboten leicht eben.
Trotz leichterer Rahmen und Komponenten gelingt es den Herstellern noch nicht, das Gewicht von Rennrädern mit Scheibenbremsen deutlich unter das UCI-Limit zu drücken. Die Vermutung liegt nahe, dass das „nur“ leichte Rennrad irgendwann -ausstirbt, zumindest für die Nutzung durch die breite Masse der Radsportler; die meisten Rennradler erwarten heute ein leichtes und windschnittiges Rad, so wie es im Profisport gefahren und von den meisten Herstellern auch kontinuierlich weiterentwickelt wird.
Um die Charakteristik der Testräder mit ihren verschiedenen funktionalen und fahrdynamischen Ausprägungen sichtbar zu machen, werden die Einzelbeschreibungen der Testräder um ein sechsachsiges Diagramm ergänzt. Damit lassen sich auf einen Blick alle Stärken und Schwächen der Modelle erfassen. Die Ausprägung auf den einzelnen Achsen setzt sich zusammen aus Messwerten und subjektiven Eindrücken der Testfahrer. Je größer die blaue Fläche, desto besser das betreffende Rad.
Wie ein klassisches Leichtbau-Modell sieht das Cube Litening Air mit seinem aerodynamisch geformten Sitzrohr zwar nicht aus, doch der Rahmen knackt locker die 900-Gramm-Marke, die Gabel liegt bei 370 Gramm, damit kann es das Cube mit vielen Leichtbau-Modellen klangvoller Marken aufnehmen. Grund eins für die Nennung hier ist das Komplettradgewicht von nur 6,6 Kilogramm, das für die Top-Version SLT mit Dura-Ace-Gruppe kommuniziert wird. Die Herstellerangabe ist insofern glaubwürdig, als bei der Neuvorstellung schon unser Testrad mit Ultegra-Ausstattung die Sieben-Kilo-Marke deutlich unterbot. Wesentlichen Anteil daran haben die Newmen-Laufräder mit Carbonspeichen, die für Cube exklusiv geliefert werden. Grund zwei ist die aggressive Preisgestaltung: Für 7.999 Euro, die für das Top-Modell aufgerufen werden, muss man bei anderen Herstellern mindestens ein Kilo mehr aus dem Laden hieven.
Mit der jüngst vorgestellten Orca-Generation will auch Orbea im Wettbewerb um die leichtesten Rennräder mitmischen. Bis wir ein Modell ins TOUR-Testlabor bekommen, müssen wir uns noch mit den Herstellerversprechen begnügen: Unter 750 Gramm soll der Rahmen der hochwertigen OMX-Reihe wiegen, aufgebaut soll ein Komplettgewicht von 6,7 Kilogramm möglich sein. Für dieses Ziel müssen Interessenten einen fünfstelligen Betrag berappen, dann ist aber auch ein Shimano- Dura-Ace-Powermeter mit an Bord. Der Preis kann fast beliebig variiert werden, denn die Komponenten lassen sich in einem umfangreichen Konfigurator selbst zusammenstellen. Auch bei der Farbgebung haben Käuferinnen und Käufer etliche Wahlmöglichkeiten. Der günstigere OMR-Rahmen, den es bei Varianten bis zirka 6.000 Euro gibt, ist mit gut 1.000 Gramm allerdings kein echter Leichtbau mehr.
Den Klassiker Addict RC gibt es für Leichtbau-Fans gleich in zwei spannenden Varianten. Bereits das RC Pro kann mit einem Rahmen-Set-Gewicht von 1.300 Gramm aufwarten (Rahmen: 900 Gramm in Größe 56). Mit einer erlesenen Serienausstattung mit Shimanos Dura-Ace-Schaltung und Zipp 303-Laufrädern ist die Sieben-Kilo-Marke in Reichweite. Man bekommt dafür einen top ausgestatteten, messerscharfen Racer auf Profiniveau, mit tadellosem Fahrverhalten und cleveren Integrationslösungen. Am Top-Modell Addict RC Ultimate holten die Konstrukteure noch einmal 40 Gramm Gewichtsersparnis bei Rahmen und Gabel heraus; mit SRAM Red und Zipp 353 NSW sind serienmäßig 6,7 Kilo drin. Dafür verlangt der Hersteller allerdings einen stolzen Preis: 16.000 Euro möchte Scott für das Flaggschiff, das Pro kostet dagegen relativ bescheidene 9.500 Euro.
Ziemlich unangefochten seit seiner Vorstellung 2020 gebührt dem Specialized S-Works Aethos der Pokal für das leichteste Serienrad – zumindest seit Rennräder (schwerere) Scheiben- statt Felgenbremsen haben. Der puristisch designte Rahmen schaffte auf der TOUR-Waage in Größe 56 spektakuläre 618 Gramm, die Gabel wiegt weniger als 300 Gramm. Auf aerodynamische Performance und jegliche Integration wurde zugunsten des Gewichts verzichtet, so ist das Aethos einer der wenigen High-End-Renner mit klassischer Optik, Vorbau und Sattelstütze in Standardmaßen und frei vor dem Steuerrohr verlaufenden Bremsleitungen. Mit den Roval-Alpinist-Laufrädern und Dura-Ace-Gruppe bleibt die Waage bei sagenhaften 6,2 Kilogramm stehen, dafür verlangt Specialized 14.000 Euro. In der Konkurrenz dürfte aber auch das 9.000 Euro teure Aethos Pro gut dastehen: Ein Rahmengewicht von rund 700 Gramm und ein Komplettgewicht von weniger als sieben Kilogramm werden für das Rad mit Shimanos Ultegra-Ausstattung versprochen.