Das Oltre von Bianchi zählt optisch zu den spektakulärsten Rennrädern auf dem Markt. Die spitze Nase am Steuerrohr, die flächige Abrisskante am Hinterbau oder die integrierten Luftleitbleche an den Gabelscheiden schaffen ein Alleinstellungsmerkmal und assoziieren das Italo-Bike mit einem Formel-1-Boliden. Der Traditionshersteller selbst rief bei der Vorstellung vor zweieinhalb Jahren sogar eine „Aerovolution“ aus und versprach für das Top-Modell deutlich mehr Speed als beim Vorgänger. Da die High-End-Variante die Preisobergrenze allerdings um fast das Doppelte übersteigt, schickte Bianchi das Oltre Comp über die Alpen; das wiederum reizt das Budget bei Weitem nicht aus und ist eines der günstigsten Wettkampfräder im Vergleich. Die Preispolitik der Lombarden ermöglichte aber keinem anderen Modell aus den Linien Pro (ab 7449 Euro) oder RC (ab 13.199 Euro) den Zugang zum Test.
Im Vergleich zu den teureren Varianten basiert das Oltre Comp auf einem Chassis in einer einfacheren Carbonqualität. Laut Hersteller ist der Rahmen 80 Gramm schwerer als der des Oltre RC, das in der World-Tour vom Team Arkéa-B&B Hotels gefahren wird. Die Gabel hingegen soll 30 Gramm leichter sein. Zudem setzt Bianchi bei den Komponenten den Rotstift an, speziell bei den Laufrädern fällt der Sparkurs sprichwörtlich ins Gewicht. Denn obwohl die Laufräder der Eigenmarke Velomann auf Carbonfelgen aufbauen, sind sie deutlich schwerer als die der Mitbewerber. Wesentlichen Anteil daran hat die ungewöhnliche Reifenwahl, da Bianchi einen robusten, vergleichsweise schweren Reifen von Pirelli aufzieht, den man im Rennen eher nicht fahren würde. So summiert sich ein Gesamtgewicht von über acht Kilogramm; das nimmt dem Oltre Comp die Behändigkeit und könnte einem an langen Passanstiegen die Laune verderben.
Da wir das Top-Modell Oltre RC, das sich durch abnehmbare „Flügel“ am Steuerkopf noch extravaganter präsentiert, bisher nicht im Windkanal testen konnten, lässt sich der Erfolg der „Aerovolution“ noch nicht abschließend beurteilen. Für das Testrad hat die vollmundige Ankündigung jedoch keine Gültigkeit. Vielmehr sind die 218 Watt, die der Renner zur Überwindung des eigenen Luftwiderstands bei 45 km/h benötigt, für ein aerodynamisch optimiertes Rennrad eher enttäuschend. Zum schnellsten Rad in dieser ersten Episode unseres großen Vergleichstests, dem Canyon Aeroad, klafft eine Lücke von mehr als zehn Watt. Mit schnelleren Laufrädern holt das Oltre Comp auf, fährt dem Gros der Konkurrenz aber weiter hinterher und schneidet nur drei Watt besser ab als das betont leichte Bianchi Specialissima.
Pluspunkte sammelt das Bianchi mit seinem unaufgeregten Lenkverhalten, der stoische Geradeauslauf erinnert bisweilen an ein Marathonrad. Die Geometrie hingegen ist betont sportlich ausgelegt; der Rahmen fällt vergleichsweise lang aus und streckt die Sitzposition. Das Rad fährt sich relativ hart, mit maximal 30 Millimeter breiten Reifen lässt sich der Federkomfort auch nur in engen Grenzen verbessern. Wir würden dennoch zu etwas breiteren und auch höherwertigen Pneus raten.
Der relativ günstige Preis lässt innerhalb unseres gesteckten Rahmens Spielraum für eine Investition in leichtere Laufräder. Das Oltre Comp würde damit zwar weiter eine große Lücke zum mit Designpreisen gekrönten Oltre RC lassen, das fast drei Pfund leichter sein soll. Dennoch würde das Oltre Comp im Antritt agiler und den Anschluss zu dem einen oder anderen Konkurrenten aus der Preisklasse unter 7000 Euro herstellen. Für Bianchi-Fans nicht ganz unwichtig: Das Oltre Comp bieten die Italiener natürlich auch in Celeste an.
Gewicht (25 Prozent der Gesamtnote): Für die Bewertung zählt das gewogene Komplettradgewicht in der einheitlichen Testradgröße 56–57 Zentimeter. Wir weisen zur Orientierung aber auch die Laufradgewichte aus. Die Notenskala ist so gelegt, dass bei einem mittleren Streckenprofil von 1.000 Höhenmetern pro 100 Kilometer die physikalische Wirkung von Gewicht und Aerodynamik für die Durchschnittsgeschwindigkeit vergleichbar ist. Zur Orientierung: Die aerodynamische Optimierung des Rades kann auf solch einer Strecke bis zu knapp vier Kilogramm Gewicht kompensieren. Gleichzeitige Bestnoten in Gewicht UND Aerodynamik schließen sich aus, aber es gibt Rennräder, die einen sehr guten Kompromiss finden. Ist die Strecke bergiger als unsere Referenzstrecke, nimmt die Bedeutung des Gewichts zu, ist die Strecke flacher, wird die Aerodynamik wichtiger.
Luftwiderstand (25 Prozent der Gesamtnote): Dynamisch gemessen im Windkanal, mit TOUR-Dummy, drehenden Rädern, bewegten Beinen und über ein großes Spektrum von Anströmwinkeln. Verdichtet zu einer Aerodynamik-Note für typische Umweltbedingungen.
Frontsteifigkeit (10 Prozent der Gesamtnote): Wichtige Größe für die Lenkpräzision und das Vertrauen ins Rad bei hohem Tempo, ermittelt im TOUR-Labor. Es wird eine Gesamtsteifigkeit am fahrfertig montierten Rahmen-Set ermittelt, also inklusive Gabel. Die Steifigkeitswerte werden gedeckelt. Ziel sind nicht unendlich steife, sondern ausreichend fahrstabile Rahmen.
Tretlagersteifigkeit (10 Prozent der Gesamtnote): Verrät, wie stark der Rahmen bei harten Tritten, zum Beispiel im Sprint, nachgibt. Diese Messung findet ebenfalls im TOUR-Labor statt, mit einer realitätsnahen Aufspannung, bei der sich der Rahmen wie im Fahrbetrieb verformen kann.
Komfort Heck (10 Prozent der Gesamtnote): Ein Maß für die Nachgiebigkeit bei Fahrbahnstößen, gemessen im TOUR-Labor. Es wird ein Federweg bei Belastung der Sattelstütze gemessen. Der Messwert korreliert sehr gut mit den Fahreindrücken und dem Komfortempfinden. Gute Noten bedeuten auch eine ordentliche Fahrdynamik, die sich auf schlechten Straßen positiv auf die Geschwindigkeit auswirkt.
Komfort Front (5 Prozent der Gesamtnote): Analog zum Heck wird die Verformung des Lenkers unter Last ermittelt. Eine gute Note bedeutet viel Federkomfort, was die Hände auf langen Touren entlastet. Starke Sprinter, die viel Steifigkeit wünschen, sollten aber eher auf einen steifen Lenker achten.
Schalten (5 Prozent der Gesamtnote): Die Schalteigenschaften werden im Fahrtest ermittelt. Bewertet wird nicht der Preis oder die Qualitätsanmutung einzelner Komponenten, sondern ausschließlich die Funktion des gesamten Getriebes. Dabei spielen beispielsweise auch die Zugverlegung, die Qualität der Züge und die montierte Kette eine Rolle.
Bremsen (5 Prozent der Gesamtnote): Ähnlich wie beim Schalten zählt auch hier der Test auf der Straße, es fließen zusätzlich die Erfahrungen aus unseren unzähligen Tests von Bremsen mit in die Bewertung ein. Dabei wird nicht das Bauteil selbst, sondern die Funktion als Zusammenspiel von Bremskörper, Belägen und Scheiben bewertet: Wie gut lassen sich die Bremsen modulieren? Wie standhaft sind die Bremsen, wie lang sind die Bremswege?
Reifen (5 Prozent der Gesamtnote): Bewertet werden Rollwiderstand und Grip – soweit bekannt aus einem unserer unabhängigen Reifentests oder anhand des Fahreindrucks. Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.
Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.