Erzählt Sebastian Baldauf von den ersten Gehversuchen seines “Babys”, muss er selbst lachen. “Vogelwild” seien die Anfänge der neuen Marke Baldiso verlaufen. Ohne die Pandemie, so kurios es sich anhört, würde der ehemalige Profi auf Continental-Ebene wohl weiterhin Rennrad-Camps anbieten und nicht vom Firmensitz im Allgäu aus individualisierte Rennräder verkaufen. “Ich bin tatsächlich dankbar, dass Corona kam und ich meinen Traum zur Wirklichkeit gemacht habe”, erinnert sich der 34-Jährige.
Seit drei Jahren ist der Deutsche Bergmeister von 2014 mit der jungen Marke auf dem Markt. Inzwischen umfasst die Flotte sechs Modelle aus allen Kategorien. Für unseren Test luden wir das neue Air Flight One ein, einen aerodynamisch optimierten Wettkampf-Allrounder. Der Renner fällt nicht nur wegen des (noch) kaum bekannten Namens auf dem Unterrohr auf, sondern zieht vor allem durch die goldene Lackierung die Blicke auf sich.
Doch das würde auch nicht zu Baldaufs Selbstverständnis passen. “Wir wollen uns als exklusive Radmarke positionieren”, sagt er und verspricht für alle Räder eine “grenzenlose Individualisierung”. Wer es etwas dezenter mag, kann das Air Flight One auch in einer x-beliebigen Farbe lackieren lassen. Zudem lassen sich über ein Baukastensystem alle Komponenten, vom Antrieb bis zum Sattel, auswählen.
Entweder aus einer vorgegebenen Liste oder nach Rücksprache mit Baldauf und seinem rund zehnköpfigen Team. Montage und Lackiererei befinden sich am Firmensitz im Allgäu, Rahmen-Set und Laufräder – ebenfalls eine Eigenmarke namens Ennoble – werden in Asien gefertigt. Noch. Laut Baldauf soll die Produktion “in ein paar Jahren” nach Europa geholt werden. Die Individualisierung kommt lediglich beim Rahmenbau an ihre Grenze, da das Air Flight One nicht als Maßanfertigung, sondern in fünf Größen erhältlich ist. Zwischen Bestellung und erster Ausfahrt sollen so nur rund drei Wochen liegen.
Bevor es für TOUR mit dem Newcomer auf die Straße ging, musste er im GST-Windkanal sein aerodynamisches Potenzial beweisen – und wurde seiner Modellbezeichnung durchaus gerecht. Mit 212 Watt bei 45 km/h zählt das Air Flight One aktuell zu den schnellsten Wettkampf-Allroundern und muss sich nur knapp hinter etablierten Profigeräten wie dem Giant Propel Advanced SL (209 Watt) oder Specialized S-Works Tarmac SL7 (210 Watt) einreihen. Mit etwas schnellerem Laufradsatz würde das Baldiso sogar an den Top Ten der schnellsten Serienräder im TOUR-Test kratzen, die von kantigen Aero-Boliden dominiert werden.
Tribut an die windschnittige Konstruktion ist das hohe Gewicht. Sowohl Rahmen als auch Gabel fallen schwer aus, die fast 1900 Gramm für das Rahmen-Set sind für ein modernes Wettkampfrad nicht mehr zeitgemäß. Die genannten Top-Modelle von Giant und Specialized – zugegeben in einer anderen Preisklasse – unterbieten diesen Wert um bis zu 580 Gramm. Auch die Laufräder, deren Carbonfelgen an das Wellenprofil von Zipp erinnern, sind mit rund 2900 Gramm vergleichsweise schwer.
Dadurch liegt das steife Air Flight One zwar satt auf der Straße, benötigt aber ein paar kräftige Pedaltritte, um in Fahrt zu kommen. Auf Touren überzeugt das Baldiso mit einem gelungenen Mix aus hoher Laufruhe und präzisem Lenkverhalten. Die Aero-Carbonstütze federt in Kombination mit den 28 Millimeter breiten Pneus nach Kräften, kommt auf schlechtem Straßenbelag aber an ihre Grenzen. Die Sitzposition des Baldiso orientiert sich an Profirennern, wobei die Haltung durch den relativ langen Vorbau des einteiligen Cockpits noch etwas rennmäßiger ausfällt.
Insgesamt ist das 7560 Euro teure Baldiso mit Ultegra Di2 ein erfrischender Neuling, der sich abgesehen vom Gewicht und “Kinderkrankheiten” wie der schwer zugänglichen Einstellschraube an der Sattelstütze oder rasselnden Leitungen im Cockpit keine nennenswerten Schwächen leistet und gleichauf mit teureren Race-Allroundern liegt. Wie und ob sich Baldauf im umkämpften Premiummarkt behaupten kann, wird sich weisen.
Doch der ehemalige Rennfahrer ist nicht nur “vogelwild”, sondern vor allem ambitioniert. “Das Ziel ist, das Rennrad mehr oder weniger neu zu erfinden”, kündigt Baldauf für Anfang 2024 die erste Eigenentwicklung an, die in Kooperation mit den Experten von Carbonworks entstehen soll.
>> Das Baldiso Air Flight One bekommt eine TOUR-Gesamtnote von 1,8
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr;
STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersichtlichkeit geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.
******Aerodynamik theoretisch benötigte Tretleistung, um den Luftwiderstand bei 45 km/h zu überwinden, gemessen im Windkanal mit einem tretenden Beindummy.