Unbekannt
· 09.06.2021
Der Stefan Küng gehört seit Jahren zu den besten Zeitfahrern der Welt. In diesem Jahr will der Schweizer bei Tour de France und Olympia glänzen. Ein Interview über die Ästhetik des Zeitfahrens und Aerodynamik.
Für die beiden Tour-de-France-Zeitfahren 2021 gehört Stefan Küng zu den Top-Favoriten. Dass er sie gewinnen will, daraus macht der Schweizer kein Geheimnis. Seit 2019 fährt der 28-Jährige in der Equipe von Groupama-FDJ und findet dort beste Voraussetzungen vor, nach den Sternen zu greifen. Und das will Küng nicht nur bei der Tour.
Eine Detailansicht von Stefan Küngs Zeitfahrrad von Lapierre finden Sie hier.
TOUR: Sie waren 2015 Weltmeister auf der Bahn in der Einerverfolgung und gelten als einer der besten Zeitfahrer im Peloton. Worin liegt für Sie der Reiz, alleine gegen die Uhr zu kämpfen?
Stefan Küng: Zeitfahren hat mich schon immer fasziniert, ich habe das schon gerne im Fernsehen geschaut – lange, bevor klar wurde, dass ich eine Karriere als Profi einschlagen würde. Aber ich bin auch ein Fahrertyp, dem es liegt, Einzelkämpfer zu sein. Ich war nie der Sprintschnellste, weshalb ich auch in Rennen schon früh versucht habe auszureißen und mit Solofahrten ins Ziel zu kommen. Am Zeitfahren fasziniert mich, dass es die pure Power ist, dass es auf die individuelle Stärke ankommt.
Wie haben Sie festgestellt, dass Ihnen das Zeitfahren besonders liegt?
Ich habe mit dem Radfahren aus reinem Spaß angefangen. Und weil es in meiner Familie keine Radsporthistorie gab, war ich in meinen ganz jungen Jahren taktisch noch nicht so versiert. Bei den Junioren auf der Bahn, und vor allem in der Einzelverfolgung, habe ich aber ziemlich schnell gemerkt, dass ich konkurrenzfähig und erfolgreich sein kann. Zeitfahren auf der Straße war schließlich nur die logische Konsequenz daraus. Für mich war es nie wie für viele andere eine Qual, aufs Zeitfahrrad sitzen zu müssen. Im Gegenteil: es hat mir von Beginn an wahnsinnig viel Spaß gemacht. Eigentlich kann ich sagen, dass mich die Liebe zum Zeitfahren schon begleitet, seit ich angefangen habe, ernsthaft Fahrrad zu fahren.
Hat das nur etwas mit der puren Power, wie Sie sagen, zu tun oder spielt auch die besondere Ästhetik beim Zeitfahren eine Rolle dabei?
Wenn du auf der Bahn fährst, beschäftigst du dich sehr intensiv mit deiner Position. Du musst den Kopf runternehmen, dabei trotzdem entspannt bleiben, musst dich so klein wie möglich machen. Und wenn du das dann aufs Zeitfahrrad auf die Straße übertragen willst, schaust du natürlich auf dein Spiegelbild, wenn du an einem Schaufenster vorbeifährst – weil du wissen willst, wie du aussiehst. Und wenn du deinen Schatten siehst, dann fängst du an mit den Schultern zu spielen, um zu schauen, ob du dich noch ein Stück kleiner machen kannst. Natürlich ist Zeitfahren eine sehr ästhetische Disziplin – und ich denke, man kann schon sagen, dass diejenigen, die besonders schön auf dem Rad sitzen, schlussendlich auch besonders schnell sind.
Man kann aber bildlich gesprochen auch in Schönheit sterben …
Natürlich ist Ästhetik nicht alles. Das habe ich vor allem gemerkt, als ich Profi wurde und auf einmal die finanziellen Mittel viel größer wurden. Das erste Mal im Windkanal bei Mercedes – das war schon eine coole Sache. Du sieht genau am Computer, wie die Windströme fließen, kriegst ständig Input, was du alles optimieren kannst. Ich schaue aber auch heute noch die Zeitfahren von mir nochmal an. Dabei kann ich Stilstudien machen und mir gezielt Punkte raussuchen, die ich konzentriert im Training immer noch optimieren kann.
Welche Rolle spielt dabei das Material, also das Fahrrad und die Technik?
Das Material ist beim Zeitfahren ein Riesenfaktor, obwohl es ein zweischneidiges Schwert ist. Einerseits ist es faszinierend, wie man nicht nur beim Fahrer, sondern auch beim Material immer wieder Punkte findet, die man noch verbessern kann. Andererseits ist es natürlich auch ein Stück weit problematisch, weil Top-Material einen Fahrer deutlich besser machen kann, der beste Fahrer dagegen keine Chance hat, wenn das Material nicht stimmt. Bei der WM in Yorkshire zum Beispiel wollte ich wegen der nassen Bedingungen mit profilierten Regenreifen anstatt mit Slicks an den Start gehen. Am Ende wurde ich Zehnter, obwohl meine Leistungswerte top waren. Auf den letzten 15 Kilometern habe ich zum Beispiel auf Alex Dowsett 45 Sekunden verloren. Ich meine 45 Sekunden: das sind Welten! Und das auf einem Streckenabschnitt, der mir lag. Nur weil ich mich für den falschen Reifen entschieden habe.
Wie gehen Sie mit solchen Erlebnissen um?
Auf diesem Niveau kriegst du gnadenlos vor Augen geführt, dass du eigentlich keinen Raum für Fehler hast. Du musst dir danach die Zeit nehmen, alles mit dem Team genau zu analysieren, daraus zu lernen und wirklich an allen Details zu arbeiten, damit beim nächsten Rennen wieder alles passt.
Sind Sie jemand, der sich tief in die technischen Details vertieft oder verlassen Sie sich auf das Team und die Mechaniker?
Beides. Aber ich verlasse mich schon auf die Leute um mich und kann ihnen auch voll vertrauen. Wirklich erfolgreich können wir nur im Team sein. Dazu gehören zum Beispiel auch jene, die mit unzähligen unterschiedlichen Reifen Rollwiderstandtests fahren. Wir Profis können uns so am Ende auf die wenigen Besten konzentrieren. Wir können uns auf Messdaten verlassen und diese dann mit unserer Erfahrung und unserem Fahrgefühl abgleichen.
Wie ist das Zusammenspiel zwischen Ihnen und den Mechanikern?
Mit Jurgen Landrie habe ich den wahrscheinlich besten Zeitfahrradmechaniker an meiner Seite. Grundsätzlich geht es ja immer darum, aus dem Material, das dir zur Verfügung steht, das Beste zu machen. Bei Groupama-FDJ ist es zum Glück so, dass wir mit Shimano, Continental und Lapierre, absolute Top-Ausrüster als Partner haben. Aber auch daraus müssen wir ein Set-up finden, aus dem wir das Optimum herausholen.
Mit Jurgen Landrie haben Sie schon vor Ihrem Wechsel zu Groupama-FDJ zusammengearbeitet. War es wichtig für Sie, dass Sie gemeinsam mit Ihrem vertrauten Mechaniker den Wechsel vollziehen konnten?
Ja. Absolut! Wir kamen vom BMC Racing Team, der zu diesem Zeitpunkt besten Zeitfahrmannschaft der Welt. Die Zeitfahr-DNA war tief verankert in dieser Equipe. Und mein Ziel war es, auf keinen Fall einen Rückschritt zu machen. Jurgen und ich haben gemeinsam festgestellt, dass wir bei Groupama-FDJ eine große Bereitschaft vorfanden, in die Zukunft und vor allem ins Zeitfahren zu investieren – auch in punkto Material. Es war uns klar, dass wir hier gemeinsam richtig Gas geben konnten, auch weil wir mit Lapierre einen einzigartigen Rahmenpartner haben.
Inwiefern?
Normalerweise wollen Ingenieure ein Rad natürlich so gut und schnell wie möglich machen. Aber irgendwann kommen wirtschaftliche Aspekte ins Spiel, weil Räder auch verkauft werden müssen. Bei BMC hat das zum Beispiel dazu geführt, dass das Zeitfahrrad auch für Triathleten gebaut wurde und deshalb zwei Positionen für die Sattelstütze hatte – was den Rahmen um 500 Gramm schwerer gemacht hat. Bei Lapierre dagegen gibt ausschließlich das Team vor, was es braucht – und das wird von den Ingenieuren dann kompromisslos umgesetzt. Es wird sogar eingefordert, dass wir Fahrer unsere Erwartungen an die Räder detailliert formulieren – um die Räder permanent weiterzuentwickeln. Dass Sportler und Ingenieure so eng und so kompromisslos zusammenarbeiten können, kenne ich von keinem anderen Team.
Was hat das konkret für die Entwicklung Ihres neuen Zeitfahrrades bedeutet?
Nach dem ersten 3-D-Print haben wir insgesamt drei Prototypen gefahren. In jedem Stadium gab es Optimierungen. Das Ergebnis ist eine immense Tretlagersteifigkeit gepaart mit Komfort, direktem Kurvenverhalten, Wendigkeit und perfektem Handling.
Hört sich so an, dass es wirklich keine Qual für Sie ist, auf dieses Zeitfahrrad zu sitzen.
Ja wirklich! Das ist absolut mein Traumrad.
Was sind die Details, die es so besonders machen?
Rein optisch ist es natürlich schon mal eine Waffe. Hochwertig verarbeitet, im Windkanal bis in jedes Detail optimiert. Entscheidend ist aber das, was unter dem Lack ist. Carbon-Hightech vom Feinsten. Das Rad geht vorwärts. Völlig direkt. Mit jedem Pedaltritt.
Wie viel Zeit verwenden Sie für spezifisches Zeitfahrtraining, damit jeder Pedaltritt auch in Geschwindigkeit resultiert?
Im normalen Trainingsalltag versuche ich zweimal die Woche aufs Zeitfahrrad zu sitzen, allerdings geht dabei Qualität vor Quantität. Wenn vier Stunden auf dem Plan stehen, heißt das nicht, dass ich vier Stunden Zeitfahren trainiere, sondern ich versuche dann eher zwei Stunden ganz konzentriert an Details zu arbeiten. Aber in diesem Jahr mit den Olympischen Spielen liegt das Augenmerk natürlich noch mehr auf dem Zeitfahrtraining als sonst – mit Mobilisierungsübungen, speziellem Rumpf- und Schultertraining und natürlich auch mit präzisen Schwellenintervallen auf dem Zeitfahrrad. Gerade jetzt in der Vorbereitungsphase zur Tour de France nimmt das mehr Raum ein als sonst. Weil, wenn wir Rennen fahren, können wir solche Dinge natürlich nicht integrieren.
Welche Ziele haben Sie konkret für die Tour de France für die WM und für Olympia?
Die Zeitfahren bei der Tour de France würde ich schon gerne gewinnen. Auch bei der WM will ich natürlich auf dem Podium stehen. Mein ganz großes Ziel in diesem Jahr ist aber Olympia, zumal ich 2016 bei den letzten Olympischen Spielen verletzungsbedingt nicht dabei sein konnte.
Heißt das, Sie schielen auf die Goldmedaille?
Jeder Rennfahrer will gewinnen. Ich natürlich auch. Aber bei Olympia haben viele Fahrer große Ambitionen. Wout van Aert, Rohan Dennis, Filippo Ganna oder Remco Evenepoel – die Liste ist lang. Aber eine Medaille will ich in Tokyo holen. Und dafür werde ich die nächsten Wochen und Monate alles geben.