Es gibt Radprofis, vor allem die sehr leichten, die mögen es bei den Bergen gerne extra schwer. Voila – mit Schmerzpunkten kann der Puy de Dome reichlich dienen. Katalogisiert sind 13,3 Kilometer mit 1020 Höhenmetern. Das gibt es im Gebirge ja öfter, aber die Fahrt auf den erloschenen Vulkan wird zum Finale hin immer steiler, die Straße immer schmaler und die Qual größer. Die letzten vier Kilometer fällt die Steigung nicht mehr unter 11,5 Prozent. Dass man am Ende auf einem Plateau steht, von dem aus sich ein grandioser Blick in die Vulkanlandschaft des Zentralmassivs bietet, dürfte den Profis der Tour in diesem Jahr ziemlich egal sein. Für sie ist die Bergankunft eine Premiere. Als der Puy de Dome 1988 zum bisher letzten Mal im Streckenplan der Frankreich-Rundfahrt stand, waren die allermeisten von ihnen noch nicht einmal geboren.
Damals dachte man, es sei ein Abschied für immer. Aber der Puy de Dome ist nicht einfach ein Berg, er galt schon in der Antike als mystischer Ort mit magischen Kräften. Im Mittelalter thronte eine Wallfahrtskirche auf dem Plateau und man sprach dem Aufstieg heilende Wirkung zu; um in deren Genuss zu kommen, musste der Pilger allerdings schon bei guter Gesundheit sein. 1000 Höhenmeter zu Fuß schafft kein wirklich Kranker. Trotzdem zog der Vulkan, den die Anwohner noch bis ins 17. Jahrhundert für eine gigantische Festungsanlage der Römer gehalten hatten, die Menschen an wie ein Magnet. Es dauerte indes eine ganze Weile, bis auch die Macher der 1903 gegründeten Tour de France dem Charme des Zentralmassivs nachgaben.
Man wusste in Paris zwar schon um die wilde Schönheit der Region, um die tiefen Schluchten und erloschenen Vulkane. Aber die Organisatoren führten das Rennen, ihrem Verständnis einer Tour de France entsprechend, lieber so nah wie möglich entlang der Grenzen rund um Frankreich. 1952, die Tour de France nahm nun immer öfter auch Regionen im Landesinneren in den Blick, war Clermont-Ferrand schließlich mit dem Wunsch erfolgreich, Teil des Spektakels zu werden. In der Stadt hat der Reifenhersteller Michelin seinen Sitz. Dass die Marke auch beim Radsport am großen Rad dreht, hat sicher geholfen. Und so kam die Tour zum Hausberg von Clermont-Ferrand. Von der Stadtmitte bis auf das Gipfelplateau sind es nur knappe 15 Kilometer, der kategorisierte Anstieg beginnt nahe der östlichen Stadtgrenze. Fausto Coppi gewann bei der Premiere 1952, drei Tage vor dem Finale in Paris, die Bergankunft und damit seine zweite Tour de France. Dabei bewältigte der Champion als Erster die Herausforderung.
Im selben Jahr war die Tour de France kurz zuvor schon zum ersten Mal die Rampen nach Alpe d’Huez hochgestürmt. Auch dort siegte Coppi. Die Etappe schrieb Geschichte, weil es davon im Fernsehen die ersten Livebilder gab, aufgenommen von Motorradkameras. Solche Bilder existieren von der Premiere am Puy de Dome nicht, aber auch dieser Anstieg sollte zu einem viel besungenen Hotspot der Tour de France werden und große Geschichten produzieren.
Eine der größten begibt sich beim dritten Besuch 1964: Die Tour de France, das ist allen klar, ist in ihrer entscheidenden Phase. An diesem 12. Juli geht es auf dem Weg nach Paris zum letzten Mal in die Berge. Die Etappe von Brive-la-Gaillarde endet nach 237,5 Kilometern auf dem Puy de Dome. Jacques Anquetil liegt nur 56 Sekunden vor seinem Landsmann und größten Konkurrenten Raymond Poulidor.
“Poupou” hegt noch Hoffnung auf den ersehnten Gesamtsieg. Dem kühlen Analytiker Anquetil geht es nach den Pyrenäen nicht mehr wirklich gut, zudem stecken ihm die Strapazen des Giro d’Italia, den er zuvor bestritten und gewonnen hat, mehr und mehr in den Beinen, aber er trägt trotzdem das Gelbe Trikot. Poulidor hat schon die Tage zuvor frischer gewirkt. Es ist klar – der Puy de Dome kann die Entscheidung bringen. Etwa eine halbe Million Menschen säumen den Weg auf den Vulkan im Zentralmassiv, viele sympathisieren mit Poulidor, und der spannt zu Beginn der Kletterei seinen letzten Helfer Barry Hoban ein.
Zusammen mit dem Briten kommt er ein wenig weg, aber Anquetils Teamkollege Rudi Altig bringt den großen Jacques wieder zurück, und als es in die letzten sechs steilen Kilometer geht, sind die beiden wieder zusammen – und alle Helfer weg. Der Kampf um den Gesamtsieg beginnt.
Die beiden haben große Probleme, sich den Weg durch die tobende Menge zu bahnen. Anquetil wird später sagen, dass er kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe, aber er behält die Kraft zum Pokerface und fährt nicht am Hinterrad von Poulidor, sondern neben ihm. Gelegentlich berühren sie sich sogar, eines dieser Bilder ist bis heute millionenfach veröffentlicht. Anquetil gelingt es durch sein “Sieh her, ich bin neben dir”, Poupou ein wenig Moral zu entziehen. Einen Kilometer vor dem Ziel kann er dann aber doch nicht mehr und muss abreißen lassen. Poulidor zieht weg, schaut sich ungläubig um und gibt noch einmal alles. Aber die verbleibende Strecke ist zu kurz, um einen nennenswerten Vorsprung herauszuarbeiten.
42 Sekunden kommt Poulidor vor dem Mann in Gelb ins Ziel. Anquetil hat als Etappenfünfter am Ende nur noch 14 Sekunden Vorsprung vor seinem populären Landsmann und Rivalen. “Wenn ich das Gelbe Trikot am Puy de Dome verloren hätte, wäre ich nicht weitergefahren”, sagt er hinterher. Anquetil sieht aus wie das Leiden Christi, der Anstieg hat ihn fast umgebracht.
Aber er erholt sich, gewinnt drei Tage später das abschließende Zeitfahren nach Paris und mit 55 Sekunden Vorsprung seine fünfte Tour de France – vor Poulidor, der zum ersten Mal Zweiter der Grande Boucle wird, da aber noch nicht weiß, dass er dem Gelben Trikot kaum mehr näher kommen wird als bei dieser Tour. Zwölf Jahre später, nach seiner 14. Tour als Liebling der Franzosen, wird er das Rennen als ewiger Zweiter verlassen. Achtmal stand er in Paris auf dem Podium, dreimal als Zweiter, fünfmal als Dritter, nie trug er das Gelbe Trikot.
Von dem Duell der beiden ungleichen Radhelden reden sie heute noch in Frankreich. Der TV-Sender Arte widmete der Rampen-Show eine Dokumentation mit atemberaubenden Bildern. Nach dem Spektakel 1964 war der Puy de Dome nicht mehr aus dem Rennen wegzudenken. Und so ging es noch lange weiter im Zentralmassiv. Weltstars wie Felice Gimondi, Luis Ocana (zweimal), Lucien Van Impe oder Joop Zoetemelk (zweimal) trugen sich neben anderen nach der Schinderei des Anstiegs der Hors Categorie in die Siegerliste ein, aber die Kritik an den beengten Verhältnissen und den Schäden an der Natur durch die Fans wurde immer lauter und lauter.
1988 stand der Puy de Dome daher zum bisher letzten Mal im Programm der Tour de France. Der deutsche Radprofi Rolf Gölz wusste das natürlich nicht, aber auch so war der Oberschwabe zusammen mit dem Dänen Johnny Weltz der Protagonist des Rennens. Die beiden hatten sich früh abgesetzt und fuhren mit großem Vorsprung vor dem Feld in die 13. Bergankunft am Puy de Dome. “Ich war super in Form, hatte bei der Tour schon eine Etappe gewonnen und dachte, den Weltz packe ich am Berg”, erinnert sich Gölz. “Aber als ich dann attackierte, kam ich nicht weg, und plötzlich griff er an und ich konnte nicht mit.” Künstlerpech.
Der Fehler lag wohl darin, dass Gölz auf der Flucht zu oft geführt hatte. “Unser sportlicher Leiter Jan Raas hat mich immer wieder gewarnt, nicht so viel in den Wind zu gehen, aber ich habe das leider nicht ernst genommen”, erinnert sich Gölz heute. Damals trug der Oberschwabe das Trikot des niederländischen Teams Superconfex.
Wenn die Tour de France am 9. Juli nach 35 Jahren wieder zum Vulkan zurückkehrt, wird der mittlerweile 60-Jährige aber irgendwo in der Nähe sein Wohnmobil parken und mit seiner Frau auf dem Rennrad an die Strecke kommen. “Die Tour fasziniert mich immer noch”, sagt er, “und der Puy de Dome besonders, auch wenn ich dieses Mal nicht hochfahren darf.” Ja, er sagt darf, nicht muss. Manche mögen es halt schwer.
Keine Frage, der Puy de Dome ist ein eindrucksvoller Berg und ein wunderbares Wandergebiet. Aber Rad fahren auf dem fast 1500 Meter hohen Vulkankegel im Zentralmassiv nahe Clermont-Ferrand? 1952 machte die Tour de France zum ersten Mal dort Station. Doch im Laufe der Jahre wurde die Kritik an dem Etappenziel auf dem Vulkan größer. Das Rennen wuchs immer mehr, aber die Straße war eigentlich zu schmal für das Spektakel und vor allem für die Zuschauermassen, die live dabei sein wollten.
Auch die Profis murrten, schließlich wurde es immer schwerer, sich einen sicheren Weg durch die tobenden Fans zu bahnen. 1975 kam es zu einem Zwischenfall, der den Anfang vom Ende des Etappenziels einleitete. Eddy Merckx fuhr im Gelben Trikot knapp hinter Bernard Thevenet und Lucien van Impe Richtung Ziel, als ihm ein Zuschauer einen heftigen Schlag in die Lebergegend versetzte. Merckx behielt zwar die Gesamtführung, verlor aber 15 Sekunden auf Thevenet – und durch den Hieb wohl auch ein wenig die Moral für die letzte Tourwoche; angeblich geschwächt von Schmerzmitteln wegen des Schlags verlor er schließlich gegen den Franzosen.
Zwar kehrte die Tour de France noch fünfmal zum Puy de Dome zurück, aber oft als Zeitfahren, und 1988 war nach der 13. Auflage Schluss. “Es ist einfach zu eng, um Rennen zu fahren”, sagte der damalige Streckenchef Jean-Francois Pescheux. Es gab aber auch Mutmaßungen, dass sich die Eigentümer des Vulkans mit der Tour de France finanziell nicht mehr einigen konnten.
Nach 1988 wurden die Auflagen für den Umweltschutz noch größer. Individualverkehr ist schon lange verboten, auch Radler dürfen die letzten fünf Kilometer zum Gipfel nicht befahren. 2012 wurde zudem eine moderne Zahnradbahn eröffnet, die in 15 Minuten von Orcines zum Gipfel fährt. Die Gleise der “Panoramique des Domes” verengen die schmale Straße noch mehr.
Tour-Direktor Christian Prudhomme und Streckenchef Thierry Gouvenou ging der spektakuläre Berg aber nicht aus dem Kopf. Ursprünglich sollte das Rennen 2024, zum 60. Jahrestag des Zweikampfs zwischen Poulidor und Anquetil, zurückkehren, jetzt ist es schon in diesem Jahr so weit. “Es war nicht nur unser Wunsch, sondern auch der politische Wille der regionalen Politiker, die Tour wieder zu empfangen”, erklärt Prudhomme.
Die Herausforderung sei groß, aber zu meistern. “Wir sind in der Lage, die Technik im Ziel auf ein Minimum zu beschränken”, sagt der Tour-de-France-Chef und kündigt an, “dass aus Umweltschutzgründen auf den letzten vier Kilometern keine Zuschauer an der Strecke zugelassen sein werden”. So wird also auch keine Selbsterfahrung im Sattel möglich sein. Eng dürfte es für die Profis im Rennen trotzdem werden. Verdammt eng, aber wohl auch spektakulär.
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