Thomas Huber
· 27.06.2023
Einmalige Kameraperspektiven, durch die die Zuschauer das Event hautnah miterleben können, liefern spektakuläre Aufnahmen. Zudem bekommen sie erste Eindrücke der Denkweisen und Absichten einzelner Teams. Journalisten und Journalistinnen sowie Ex-Radsportler um Steve Chainel, Orla Chennaoui und David Millar nehmen die Rolle als Erklärende ein, um auch Radsport-Newcomer ins Boot zu holen. So gelingt der Spagat aus einfachen Beschreibungen für Radsportneulinge und interessanten Einblicken für langjährige Radsportfans. Außerdem entsteht Spannung in der Serie durch direkte Duelle wie Vingegaard gegen Pogacar, Pidcock gegen Powless in Folge 5 oder bei der letzten Etappe Philipsen gegen Jakobsen.
Schade ist, dass Vingegaards großer Gegenspieler Pogacar und sein Team UAE nicht zu Wort kommen. Ohne den wichtigen Fahrer fehlt eine Facette der Tour der France 2022. Auch die Rolle von Wout van Aert, der sich im Spannungsfeld zwischen eigensinniger Fahrer und Helfer für das Team bewegt, ist umstritten. Er selbst kritisiert die Serie scharf:
“Es ist ziemlich beunruhigend, dass in der Dokumentation Geschichten geschrieben wurden, die es nicht gab.”
Dieser Eindruck bestätigt sich bei manchem von Netflix selbst kreierten Duell: So waren in der Tat Gaudu und Thomas in der Platzierung des Klassements nicht weit voneinander entfernt, der große zeitliche Abstand zwischen den beiden ließ aber in Wirklichkeit nicht die Dramatik aufkommen, die Netflix in der Serie aufmacht. Ein wenig Fake-Drama wurde also in dieser Serie geschaffen. Auch präzise Erklärungen fehlen an manchen Stellen, sodass Fragen für Radsportneulinge offenbleiben: Warum kann van Aert nicht selbst die Tour gewinnen? Was macht Alpe d’Huez so besonders? Warum wird das Thema Doping nur in der ersten Folge kurz angeschnitten?
Trotzdem bleibt die Serie “Tour de France: Im Hauptfeld” ein Erfolg: Bereits kurz nach der Veröffentlichung liegt die Serie unter den Top-10 der beliebtesten deutschen Serien auf Netflix. Und das völlig zurecht: Sie legt auf spannende Weise dar, wie komplex, intensiv und vielschichtig der Radsport ist. Sie zeigt außerdem, dass Radrennen nur mit einem funktionierenden Team gewonnen werden können und welch große Emotionen in diesem Sport stecken. Spannende Einblicke hinter die Kulissen und dramatische Duelle machen die Serie besonders sehenswert.
Die Handlung startet mit Einblicken ins Team Quick-Step Alpha Vinyl. Das “Wolfpack” um Teamchef Patrick Lefevere entscheidet sich während der Vorbereitung auf die Tour de France gegen eine Nominierung des Weltmeisters Julian Alaphilippe. Stattdessen soll der Top-Sprinter Fabio Jakobsen das belgische Team anführen.
Anschließend wird das Team EF Education EasyPost vorgestellt und als lockeres und ungezwungenes Team charakterisiert. Die Mannschaft um Teamchef Jonathan Vaughters war vor der Tour de France erfolglos und hat nun Druck, bei der Rundfahrt performen zu müssen. Ihre Hoffnungen ruhen auf Stefan Bissegger, der auf der ersten Etappe beim Zeitfahren Chancen auf den Tagessieg hat. Der Schweizer stürzt bei Regenwetter zweimal und verfehlt den angepeilten Etappensieg klar.
Dann liegt der Fokus der Netflix-Serie wieder beim Team Quick-Step Alpha Vinyl und Fabio Jakobsen, der sich bei der folgenden Sprintetappe Siegchancen ausrechnet. Einer seiner Konkurrenten ist Wout van Aert – einer der Superstars des Teams Jumbo-Visma. Trotz eines Sturzes seines Mannschaftskollegen Yves Lampaert, zu diesem Zeitpunkt im Gelben Trikot, kann Jakobsen die Etappe knapp für sich entscheiden und das belgische Team jubeln.
In der zweiten Folge von “Tour de France: Im Hauptfeld” stellt sich das niederländische Team Jumbo-Visma vor. Neben Wout van Aert werden nun auch die beiden Mitfavoriten auf den Toursieg eingeführt: Primoz Roglic und Jonas Vingegaard. Van Aert nimmt im Team eine doppelte Rolle ein: In erster Linie soll er seinen beiden Kapitänen zum Gesamtsieg bei der Tour de France verhelfen, zeitgleich aber auch Etappensiege einfahren. So missachtet er bei der vierten Etappe die Anweisung des Teams. Bei einem Anstieg wartet er nicht auf seinen Kapitän Vingegaard und holt sich stattdessen den Etappensieg als Solist. Der Däne schafft es dagegen nicht, sich von seinem großen Kontrahenten Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) zu lösen.
Die fünfte Etappe ist eine Kopfsteinpflasteretappe, die anschließend mit all ihren Schwierigkeiten vorgestellt und als “Hölle des Nordens” bezeichnet wird. Dort hat Vingegaard erst einen Defekt am Rad, dann stürzt Roglic und kugelt sich die Schulter aus. “Ein Alptraum für Jumbo-Visma”, das auf Pogacar wertvolle Sekunden verliert.
Hier wird Thibaut Pinot als französischer Starfahrer der Tour de France mit seiner Geschichte als Radprofi eingeführt. Auch sein Team Groupama-FDJ um Teamchef Marc Madiot samt Philosophie stellt sich vor. Schnell wird klar: Der Druck auf den französischen Fahrer und seine Kollegen ist besonders hoch.
Anschließend erhält man Einblicke in eines der anderen französischen Teams bei der Frankreich-Rundfahrt : AG2R-Citroën Team. Ihr Top-Fahrer ist der Australier Ben O’Connor, der bei der Tour de France 2021 Vierter wurde. In diesem Jahr hinkt er nach einem Sturz jedoch den hohen Ansprüchen hinterher.
Bei der Bergetappe auf die Planche des Belles Filles gelingt beiden Teams kein Erfolg, weshalb im Anschluss das AG2R-Citroën Team den Plan ändert und Etappensiege anvisiert. Bob Jungels kann bei der 9. Etappe für den ersten Tagessieg eines französischen Teams sorgen, während O’Connor aus gesundheitlichen Gründen aus der Tour de France aussteigen muss.
Die vierte Folge der Netflix-Serie steht im Zeichen des Kampfes um das Gelbe Trikot. Dabei stellt sich Vingegaard mit seiner Geschichte und seiner Entwicklung als Radsportler noch einmal explizit vor. Dann wird das Team Ineos Grenadiers um den alternden Kapitän Geraint Thomas eingeführt. Gemeinsam mit Jumbo-Visma ist es die professionellste und stärkste Mannschaft im Feld.
Die 11. Etappe der Tour de France, die eine der schwierigsten Bergetappen hinauf auf den Gebirgspass Col du Granon ist, wird dann detailliert in der Netflix-Serie beschrieben. In der Favoritengruppe um Roglic, Vingegaard, und Pogacar attackieren immer wieder die beiden Jumbo-Visma-Fahrer und schaffen es, den großen Gegenspieler ins Wanken zu bringen: Vingegaard fährt rund drei Minuten auf Pogacar heraus. Der Slowene kommt als fairer Sportsmann nach dem Rennen zum Sieger und gratuliert ihm – ab jetzt fährt Vingegaard in Gelb.
“Man muss den Schmerz ignorieren, oder besser noch den Schmerz lieben, um gewinnen zu können” - Jonas Vingegaard
Diese Folge besteht aus einem Duell zweier Welten: Bei der 12. Etappe der Tour de France zum bekannten Anstieg Alpe d’Huez bekommen zwei Fahrer freie Fahrt. Tom Pidcock vom Team Ineos-Grenadiers und Neilson Powless vom kleineren Team EF Education EasyPost. Powless setzt sich im Flachstück früh ab, wird dann aber bei einer technischen Abfahrt von Pidcock eingeholt. Anschließend lässt der Ineos-Fahrer seinen Kontrahenten am langen letzten Anstieg stehen. Damit gewinnt Pidcock nicht nur die Etappe, auch im Klassement robbt sich sein Teamkollege Thomas auf den dritten Platz vor.
Das Team Alpecin-Deceuninck stellt sich in der 6. Folge der ersten Staffel der Netflix-Serie vor. Ihr großer Star ist Mathieu van der Poel, der beim Team für Etappensiege bei der Tour de France sorgen soll. Weil der Niederländer jedoch bereits den Giro d’Italia gefahren ist und ausgelaugt wirkt, wird er den Ansprüchen nicht gerecht. Für ihn springt als Kapitän Jasper Philipsen ein, der zwar ein begnadeter Sprinter ist, aber nach mehreren Versuchen noch keine Etappe bei der Tour de France gewinnen konnte.
Während der 15. Etappe stürzen bei Jumbo-Visma Vingegaard und der wichtige Helfer Steven Kruijswijk, der sogar die Tour beenden muss. Im direkten Duell sprintet anschließend Philipsen gegen seinen Konkurrenten Wout van Aert von Jumbo-Visma zum Tagessieg. Für das niederländische Team ist es ein Tag zum Vergessen: Der Gesamtführende Vingegaard ist gestürzt, van Aert wurde im Zielsprint besiegt und Kruijswijk und der lädierte Kapitän Roglic müssen die Tour de France beenden.
In Folge 7 zeichnet sich das Duell zwischen Geraint Thomas vom Team Ineos-Grenadiers und David Gaudu von Groupama-FDJ im Kampf um den dritten Platz im Klassement ab. Dabei wird der Franzose als Teamleader zuerst charakterisiert und seine vorherigen Erfolge aufgezeigt. Obwohl Gaudu bei der 12. Etappe nach Alpe d’Huez zurückfällt und sich klar hinter dem drittplatzierten Thomas einordnet, rückt er bei den folgenden Etappen immer weiter im Klassement vor. Auf der 18. Etappe in den Pyrenäen kommt es dann zum Showdown, bei dem Gaudu gegen den erfahrenen Thomas den Kürzeren zieht und der Brite seinen Podiumsplatz verteidigen kann.
Die letzte Folge der ersten Staffel thematisiert den Gesamtsieg von Vingegaard bei der Tour de France sowie den Zielsprint bei der finalen Etappe auf den Champs Elysees. Die Sprinter um Fabio Jakobsen kämpfen in den Bergen ums Überleben, um vom Sieg in Paris träumen zu dürfen. Derweil versucht Pogacar im Kampf ums Gelbe Trikot Vingegaard aus der Reserve zu locken. Nachdem er bei der 17. Etappe dem Dänen immerhin drei Sekunden abknüpfen konnte, muss er am Folgetag gegen den Mann im Gelben Trikot abreißen lassen. Dank seines Helfers van Aert distanziert er Pogacar bei einem Anstieg. Beim Zeitfahren der 20. Etappe nimmt Vingegaard auf den letzten Metern Tempo raus und überlässt damit van Aert den Etappensieg. Der Däne wird Zweiter und Pogacar als Drittplatzierter ist nun geschlagen.
Die abschließende Etappe steht wieder im Zeichen eines Sprints, bei dem das Duell der beiden Fahrer Philipsen und Jakobsen aufkommt. Die Etappe gewinnt Philipsen, während Jakobsen beim Zielsprint einen Defekt am Rad erleidet und damit der tragische Held ist.