Thomas Goldmann
· 22.06.2022
Der frühere Radprofi Jörg Ludewig ist als Leiter des Sportmarketings bei der Dr. Wolff Group sehr nahe dran am Team Alpecin-Fenix. Im Interview mit TOUR spricht er über die Ziele der Mannschaft bei der Tour de France, Mathieu van der Poel und seine Favoriten für die Frankreich-Rundfahrt.
TOUR: 2021 gewann Alpecin-Fenix zwei Etappen bei der Tour de France und hatte auf fünf Tagesabschnitten mit Mathieu van der Poel das Gelbe Trikot. Das ist schwer zu toppen. Mit welchen Zielen geht das Team in die Tour de France 2022?
Ludewig: Das stimmt, 2021 war “in der Tat” ein Traum in Gelb, dazu mit der Geschichte um den Großvater und den eigenen “MerciPoupou”-Sondertrikots - mehr ging fast nicht für das Team. Als Hauptsponsor sind wir zwar nicht mitten im sportlichen Geschehen aktiv, wissen aber, dass die Stärken unserer Mannschaft hauptsächlich auf Klassiker- Terrain liegen. Daher sollte die Anfangsphase in Dänemark und Belgien erneut das passende “Pflaster” für mögliche Erfolge bieten. Die Konkurrenz ist natürlich groß, die Weltelite steht am Start.
TOUR: Fährt van der Poel auch auf das Grüne Trikot oder fokussiert er sich auf Etappensiege? Sehen wir gar ein Duell van der Poel vs. Wout van Aert um Grün?
Ludewig: Ich persönlich glaube schon, dass wir uns auf dieses Duell freuen können, allerdings erwarte ich nicht nur ein Duell. Da sind dieses Jahr sicher einige hochmotivierte Rennfahrer, die auf Klassiker-Strecken um Tagessiege kämpfen - und am Ende um Grün. Ob es nach drei intensiven Wochen der Italien-Rundfahrt möglich ist, auf bestmöglichem Niveau auch drei Wochen in Frankreich zu fahren, um solch ein Wertungstrikot zu gewinnen, weiß ich nicht. Vielleicht ist auch die Jagd auf Etappensiege zielführender, als im Zweifel Siebter der Gesamtwertung oder Zweiter in einem Ranking um ein Wertungstrikot zu werden.
TOUR: Ist es Ihrer Meinung nach ein Vor- oder ein Nachteil, dass van der Poel den Giro d’Italia schon in den Beinen hat?
Ludewig: Aus der sportlichen Abteilung hören wir, dass er sich physisch und psychisch entwickelt hat. Für die Entwicklung des Athleten Mathieu van der Poel war das ganz bestimmt der richtige Weg! Ich habe ihn auch noch nie so dünn - aber trotzdem kraftvoll gesehen. Mit der passenden Erholung und dem aktuellen Höhentrainingslager sollte er für die ersten Tage absolut konkurrenzfähig sein. Vielleicht sogar länger.
TOUR: Van der Poel gilt als Spezialist fürs Kopfsteinpflaster. Was trauen Sie ihm auf der 5. Etappe mit den Pave-Abschnitten in Richtung Arenberg zu?
Ludewig: Das ist richtig. Das Problem könnte allerdings sein, dass er wohl als einer von drei Top-Favoriten für diese Etappe gilt und deshalb besonders beäugt wird. Das macht es nicht leichter. Bei Paris-Roubaix gibt es dazu ja auch immer mal wieder neue Stars am Radsport-Himmel und auch zum Glück mal “Eintagsfliegen”, Siege und Erfolge von unbeschwert auftretenden Athleten - aber eher aus der zweiten Reihe. Sicher keine Zufallssieger, aber doch Überraschungen. Das sieht man sonst bei kaum einem anderen der schweren Klassiker.
So etwas könnte auch auf der 5. Etappe der Tour passieren. Die Hektik wird vermutlich allerdings aufgrund der Kürze von nur 154 Kilometern hoch sein und für eine extreme Dynamik und damit heftige Durchschnittsgeschwindigkeit sorgen. Die Klassementfahrer werden zudem, anders als bei einem Eintagesrennen, protegiert und immer wieder nach vorne gefahren. Da wird es nochmals flotter und hektischer. Und das erste Pflasterstück steht schon nach 80 Kilometern auf dem Speiseplan.
Eine Gruppe kommt voraussichtlich nur durch, wenn sie ganz früh - oder eben spät - durch reine Stärke geht. Dann werden Leute wie van der Poel und van Aert durchaus dabei sein. Wir bekommen also wahrscheinlich ein Paris-Roubaix im Highspeed-Format. Bitte anschnallen!
TOUR: Stichwort Material: Wie muss man sich das als Laie vorstellen? Wie bereitet sich ein Team wie Alpecin-Fenix auf eine Pave-Etappe mit solch spezifischen Anforderungen vor?
Ludewig: Erfahrene Mannschaften auf solch einem Terrain haben das passende Material quasi noch aus dem Frühjahr. Teams mit wenig Fokus auf die Klassiker geraten da schon vorher im Service Course ins Schwitzen. Mit den Bikes von Canyon aus Koblenz ist das Team allumfänglich und perfekt ausgestattet, da gibt es gar keinen Radwechsel vor solch einem Rennen, einfach, weil es gar nicht mehr nötig ist. Das neue Aeroad kann inzwischen alles, ist aerodynamisch, steif, leicht und hat trotzdem noch Komfort am Hinterbau.
Ferner passen inzwischen auch breitere Reifen durch Gabel und Rahmen. Bei anderen Herstellern ist das ähnlich. Große Unterschiede bestehen allerdings noch bei der Wahl der Reifen und des Luftdrucks, da fährt man deutlich breiter und bis zu 32 Millimeter und mit viel viel weniger Luft, dazu mehr und mehr mit dem schlauchlosen Tubeless-System, wie der Name schon sagt - Reifen ohne Schlauch, dafür mit Pannenmilch.
Eventuell wird noch weicheres oder sogar ein zusätzliches Lenkerband montiert. Der eine oder andere lässt den Sattel 1 bis 2 Millimeter tiefer montieren, um ein besseres Handling in den Kurven zu haben. Verrückterweise fahren viele der Top-Klassikerfahrer ja selbst auf diesen Strecken ohne Handschuhe! Mut, Selbstbewusstsein und Streckenkenntnis, gepaart mit guter Vorbereitung und fähigen Leuten hinten im Auto. Das ist, denke ich, die Basis. Dann musst du vielleicht nicht unbedingt Glück haben - aber Pech darf nicht hinzukommen.
Vielleicht ist er in den nächsten fünf Jahren mal jemand für das Grüne Trikot.
TOUR: Tim Merlier hat zuletzt in einem Interview bei Het Nieuwsblad gesagt, dass er die Tour de France nicht fahren wird. Stimmt das und was würde das für die Strategie heißen? Wird sich in den Sprints dann alles auf Jasper Philipsen konzentrieren?
Ludewig: Wie bereits eingangs erwähnt halten wir uns als Hauptsponsor bei sportlichen Fragen zurück. Diese Aspekte entscheiden die beiden Roodhooft-Brüder mit den Performance Managern vom Team Alpecin-Fenix. Mit Jonas Rickaert fällt der Anfahrer Nummer eins längerfristig aus. Das macht das Thema Sprint aktuell in Summe nicht einfacher. Es könnte allerdings aus deutscher Sicht eine Chance für Alexander Krieger sein. Wie er das Finale 2021 mit und für Jasper Philipsen zum Beispiel bei Eschborn-Frankfurt lanciert hat, das war schon die hohe Kunst des Radsports und Seite eins im Lehrbuch.
Wenn van der Poel und Krieger anfahren, sollte das für Jasper Philipsen schon ein sehr guter Zug sein. Er ist dabei nicht nur schnell, sondern kommt auch klasse mit über die Hügel und jung ist er zudem auch, hat Biss und Stehvermögen, was sein 2. Platz auf dem Champs-Elysees in Paris letztes Jahr eindrucksvoll belegt. Vielleicht ist er in den nächsten fünf Jahren mal jemand für das Grüne Trikot.
TOUR: Apropos Strategie: Im letzten Jahr haben sich Merlier und Philipsen exzellent ergänzt. Warum hat das ihrer Meinung nach so gut geklappt?
Ludewig: Das stimmt, für zwei Topsprinter hat das ungewöhnlich gut funktioniert. Tim Merlier ist, wenn er frisch ist, mit einem gewaltigen Punch im Antritt ausgestattet, vergleichbar vielleicht mit einem E-Auto im Gegensatz zu einem gleichstarken Benziner.
Man nimmt sich also gegenseitig wenig weg. Wobei Jasper Philipsen sicherlich bei der Tour 2021 auch gerne mal getroffen hätte - endlich schlägt er Mark Cavendish und dann fährt Wout van Aert in Paris an ihm vorbei. Da sind dann, verständlicherweise, ein paar Tränen auf die Champs-Elysees getropft.
Ich habe ja mit bald 47 Jahren bereits einige Radsportprojekte begleiten dürfen in den nun 35 Jahren Radsport. Grundlegend ist dieses familiär-professionelle Ambiente, mit trotzdem sehr klarer Kommunikation, wie wir es beim Team Alpecin-Fenix sehen, gefühlt schon etwas Besonderes. Das habe ich so noch nie erlebt, und das meine ich ganz ernst. Weder als aktiver Radprofi noch in meiner jetzigen Funktion im Sportmarketing, also eher als Außenstehender, der nah dran ist. Ich hoffe, man kann sich diesen “Vibe”, Spirit und diese Motivation auf lange Sicht bewahren.
TOUR: Werden wir Alpecin-Fenix wieder in einem Sondertrikot sehen, wie bei der letzten Tour oder beim Giro?
Ludewig: Wir werden ja bekannterweise ab der Tour de France einen neuen Namen tragen - da darf man gespannt sein, was das Team hinter dem Team noch so aus dem Hut zaubert. Den meisten Menschen hat das Setup in Italien in grün-braun-oliv sehr gut gefallen. Laut Hersteller Kalas war es binnen Stunden ausverkauft. Lassen wir uns also überraschen …
TOUR: Alpecin-Fenix hat für 2023 eine World-Tour-Lizenz beantragt. Was ist die Überlegung dahinter und warum erfolgt der Schritt jetzt?
Ludewig: Die Brüder Roodhooft bezeichnen sich ja auch mal selbst als belgisches Startup. Sie haben eine enorme Entwicklung vollzogen. Der Schritt ist logisch und folgt als weiterer, modularer Baustein. Das Team bleibt damit seiner Linie treu. Der Frauenradsport gewinnt an immer mehr Bedeutung und Sichtbarkeit. Die Rennen werden konsequenterweise stärker und besser übertragen und vermarktet. Das Thema Development wird einer der wichtigsten Bausteine der Zukunft - beides ist seit Langem in der DNA der Roodhoofts.
Die World-Tour-Lizenz hat zum jetzigen Zeitpunkt für das Team deutlich mehr Vorteile als Nachteile und kommt damit wohl genau passend. Durch das Web 3.0, das Metaverse und all die digitalen Möglichkeiten ergeben sich ganz neue Chancen im Marketing. Das geht einfacher als Bigplayer im Business. Alpecin-Fenix gehört bereits im dritten Jahr in Folge zu den Top Ten. Weiterhin die Karte des kleinen Underdogs zu spielen, wäre nicht mehr authentisch und glaubwürdig - es passt nicht zur sportlichen Performance.
TOUR: Wo will das Team langfristig hin? Bleibt es eine Mannschaft, die sich auf Etappensiege bei Rundfahrten und Klassiker fokussiert oder geht man künftig mit einer möglichen World-Tour-Lizenz im Rücken auch in Richtung Klassement bei Giro, Tour de France oder Vuelta?
Ludewig: Das Team hat sich in den letzten drei Jahren enorm entwickelt. Auch die Fangemeinde ist dramatisch gewachsen, genau durch diesen taktischen Ansatz und die Ausrichtung. Van der Poel & Co. haben aber vor Kurzem beim Giro d’Italia nicht nur sportlich begeistert. Die “TAF Shampoo-BoyGroup”, wie sie ein Fan genannt hat, liefert halt einfach auch auf anderen Ebenen ab. Es macht laut Feedback Dritter wohl einfach Spaß, sie fahren zu sehen.
Um jüngere Fans und Zielgruppen zu erreichen, ist das auch ein wichtiger Faktor. Allein der hochgereckte Daumen von Mathieu in Richtung Biniam Girmay nach dessen Etappensieg. War der nicht besser und “mehr wert” als ein weiterer Etappensieg? Einfach, weil er authentisch, ehrlich, menschlich und fair war.
Grundsätzlich fasziniert es, diese harten Duelle bergauf: Blut, Schweiß, Tränen in den steilen Anstiegen, den hohen Bergen. Auf der anderen Seite gibt es vielleicht eine Handvoll Top-Klassementfahrer, die alle natürlich zu Recht ihren Preis haben. Dabei kann nur einer gewinnen, drei stehen am Ende auf dem Treppchen. Und ich weiß leider auf die Schnelle nicht einmal, wer letztes Jahr 7. der Tour de France in der Gesamtwertung geworden ist - so traurig das ist.
Mit Nicola Conci, Jay Vine, Michael Gogl, Tobias Bayer, Alex Bogna, Jason Osborne oder dem frischgebackenen Giro-Etappen-Sieger Stefano Oldani oder sogar Jungs aus der 2. Reihe wie Xandro Meurisse hat die Mannschaft inzwischen schon deutliche Zuwächse im Klassement-Bereich erreicht und das ist nun auch eine echte Option, wenn die Straße schräg wird.
TOUR: Der Giro d’Italia war eine Art Revival der Ausreißer. Auf gleich zehn Etappen kam eine Spitzengruppe durch. Wie wird sich das ewige Duell Ausreißer vs. Peloton ihrer Meinung nach bei der Tour de France gestalten?
Ludewig: Das stimmt, das war bemerkenswert, es hat deutlich mehr Spannung generiert. Ich glaube hier nicht an Zufall, da inzwischen doch viel taktischer gefahren wird, das eben nicht mehr von Anfang an alles raus und auf die Straße gehauen wird, sondern erst Vollgas angesagt ist, wenn eine realistische Chance auf den letzten 40 bis 50 Kilometern besteht.
Die stumpfe Fernseh-Attacke hat mehr oder weniger ausgedient. Ich glaube und hoffe, dass sich das so weiterentwickelt und etabliert, man kann als Alpecin-Fenix, Jumbo-Visma oder Quick-Step Alpha Vinyl Team nicht den ganzen Tag das Feld kontrollieren. Als Sprintermannschaft das Loch zu klein zu halten, geht aber auch nicht - dann springen immer wieder frische Fahrer nach vorn. Ich freue mich über und auf diese neue Situation. Endlich haben Teams und Fahrer verstanden, dass sie in einer Spitzengruppe auch mal mit dem Feld spielen können.
TOUR: Wer sind ihre Favoriten auf den Tour-Sieg?
Ludewig: Tadej Pogacar finde ich inzwischen in Summe richtig gut, er hat einen sehr guten Leumund und er fährt einfach von Anfang der Saison bis zum Ende, attackiert auch mal 50 Kilometer vor dem Ziel bei einem Klassiker, nimmt sich und das Leben nicht so ernst und geht, meiner Meinung nach zumindest, respektvoll mit den Menschen um.
Das finde ich für so einen Athleten, der dauernd im Mittelpunkt steht und noch so jung ist, sehr anständig und erwähnenswert. Andererseits scheint Jumbo-Visma aktuell die Benchmark für wissenschaftlich basierte Trainings- und Ernährungsmethodik zu sein, da ist man zudem mit Doppelspitze natürlich ein harter Gegner. Das Team Ineos Grenadiers sehe ich aktuell mit Daniel Felipe Martinez eher maximal auf Platz 3. Und das auch nur, wenn Bora-hansgrohe nicht wieder so auftritt wie beim Giro d’Italia - unglaublich und nochmals herzlichen Glückwunsch an Ralph Denk und sein Projekt.
TOUR: Wo wird die Tour ihrer Meinung nach entschieden?
Ludewig: Ich persönlich freue mich über die Breite und die aktuelle Leistungsdichte, wie wir sie beim Giro erlebt haben. Und über die jungen Wilden: Hoffentlich hält bei den 20-Jährigen die Karriere dann trotzdem bis 35. Ich finde es auch faszinierend, dass der Kampf der Giganten inzwischen ein Kampf der Generationen geworden ist. Spannung bis zum letzten Zielstrich, mindestens bis zur letzten Bergankunft. Ich sehe nun in Frankreich ein ähnliches Szenario und hoffe, dass wir drei Wochen lang fairen, möglichst sturzfreien und emotionalen Radsport geboten bekommen.