Das Interview wurde geführt von Tim Farin
TOUR: 2022 hat die Tour de France der Frauen einen Neustart erlebt. Welchen Stellenwert hat sie im Frauenradsport für Sie?
Annemiek van Vleuten: Die Tour zu gewinnen, war der größte Sieg in meiner Karriere.
TOUR: Ist der Druck für Sie diesmal größer als bei der Premiere?
Annemiek van Vleuten: Er ist eher geringer. Ich habe ja im vergangenen Jahr schon gewonnen. Außerdem hat Demi Vollering dieses Jahr schon gezeigt, dass sie mich schlagen kann (5. und 7. Etappe der Vuelta, Anm. d. Red.). Sie hat den Druck. Ich werde da sein, alles geben und muss mich nicht unter Druck setzen. Natürlich will ich vorne mitfahren, mitkämpfen. Es wäre schön, noch mal zu gewinnen. Aber ich genieße einfach nur mein letztes Jahr im Profisport.
TOUR: Sie haben in einem Interview nach dem Tour-Sieg 2022 gesagt: “Das hat mein Leben nicht verändert.” Was denn sonst?
Annemiek van Vleuten: Ich meine es so: Die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Tokio zu gewinnen, hat mein Leben ebenso wenig verändert wie der Tour-Sieg. Etwas zu gewinnen, verändert mein Leben nicht. Was wirklich in meinem Leben etwas verändert hat, das ist die gesamte Karriere als Radsportlerin, die meine Perspektiven komplett verändert hat. Ich denke anders als vorher, ich habe viele Länder gesehen, die ich ohne den Sport nie besucht hätte.
TOUR: Aber wenn Sie vom größten Sieg sprechen: Kommen da manchmal Emotionen hoch, träumen Sie vielleicht sogar von Ihrer ersten Tour de France?
Annemiek van Vleuten: Ich träume nie.
TOUR: Wie sieht es mit Erinnerungen aus?
Annemiek van Vleuten: Wenn ich zurückdenke, dann sind es vor allem die Momente nach dem Ziel oben auf La Planche des Belles Filles, als ich in Gelb gewonnen hatte. Ich habe meine Familie und meinen Freund gesehen, die dort standen, als ich vom Ziel wieder runterfuhr. Sie waren für mich da. Und da war auch diese enorme Erleichterung. Wir hatten es wirklich geschafft, als Team unseren Plan zu erfüllen. Bis dahin, bis zum Zielstrich, habe ich keinen Gedanken daran verschwendet, die erste Siegerin der Tour de France zu werden. Ich beschäftige mich während der Tour nur mit kurzfristigen Zielen, lege den Fokus auf Aufgaben, die Strecke und die Gegnerinnen. Erst nach dem Ziel kam langsam die Wahrnehmung, was ich da erreicht hatte. Ich beschäftige mich während des Rennens nicht mit dem Gewinnen.
TOUR: Hatten Sie denn keinen Stress? Schließlich hatten Sie auf der Etappe einen Rückschlag mit dem Material.
Annemiek van Vleuten: Ich hatte doch nur einen Platten. Ich schaue dann sofort: Was ist die nächste Aufgabe? Dann habe ich das Rad einer Teamkollegin bekommen. Okay, das war ein bisschen klein für mich. So etwas stresst mich allerdings nicht. Ich bin wieder nach vorne gekommen und habe später noch mal mein gelbes Rad gegen ein anderes getauscht. Ich wollte bergauf unbedingt mit dem leichtesten Material fahren. Ich hatte nicht das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren – am Vortag hatte ich ja einen ordentlichen Vorsprung rausgeholt.
TOUR: Diesmal steht mit dem Tourmalet einer der mythischen Berge der Tour auf dem Programm. Ist der für Sie etwas Besonderes?
Annemiek van Vleuten: Ja, das ist ein großes Ziel, so wie das Einzelzeitfahren. Wenn die Siegerin auf dem Tourmalet zwei oder drei Minuten herausholt, wird auch das Zeitfahren kaum noch spannend. Ich hoffe natürlich, dass es entweder knapp ausgeht am Tourmalet oder dass ich einen großen Vorsprung raushole. Im Frühling konnte ich allerdings sehen, dass meine Gegnerinnen immer stärker werden. Mein Coach sagt, dass ich daran schuld bin – denn letztes Jahr habe ich mit großem Vorsprung gewonnen – als Reaktion darauf verstärken die anderen ihre Bemühungen. Es ist allerdings cool für den Frauenradsport, wenn es ein harter Kampf wird.
TOUR: Ist das Ihre Verantwortung?
Annemiek van Vleuten: Ich denke schon, dass ich daran mitgewirkt habe. Und ich freue mich auch darauf, nach meiner Karriere den Fernseher anzuschalten und bei spannenden Frauenrennen zuzuschauen. Bis 2020 war ich die einzige Fahrerin, die vor den Frühjahrsklassikern im Höhentrainingslager war. Das machen jetzt alle. Es ist gut, dass es immer professioneller wird.
TOUR: Sehen Sie sich als Pionierin?
Annemiek van Vleuten: Ich weiß es nicht. Mein Coach würde Ja sagen. Mir gefällt, was nach meinem Tour-Sieg passiert ist. Normalerweise würden bei Frauenrennen als Reaktion auf einen deutlichen Sieg die Strecken im Jahr danach einfacher gestaltet. Das haben sie bei der Tour nicht getan, im Gegenteil. Der Parcours 2023 fordert die Fahrerinnen auf, sich noch besser vorzubereiten.
TOUR: Sie haben mal gefordert, dass Frauenrennen härter werden müssten, um den Sport insgesamt zu entwickeln …
Annemiek van Vleuten: Ja, das sage ich natürlich auch, weil ich gern sehr schwere Rennen mag. Grundsätzlich brauchen wir interessante Rennen. Es muss nicht so lang sein wie bei den Männern. Etappen von etwa vier Stunden Länge wären geeignet. Ich glaube, die Tour-Organisatoren haben einen guten Job gemacht, die Strecke 2023 ist sehr abwechslungsreich.
TOUR: Wenn Sie die Entwicklung der Tour de France und des Frauenradsports sehen – sind Sie dann stolz auf Ihre Errungenschaften?
Annemiek van Vleuten: Das haben wir Sportlerinnen zusammen erreicht. Es ist nicht meine Leistung, dass wir so viel im Fernsehen sind. Als ich meinen ersten Sieg bei der Flandern-Rundfahrt einfuhr, war im Fernsehen nur ein Sekundenschnipsel zu sehen, weil vor den Männern die Kameras schon live waren. Was mich wirklich stolz macht, ist die Entwicklung, die ich zusammen mit anderen Mädels miterlebt habe.
TOUR: Haben Sie sich denn als Sportlerin hinter den Kulissen dafür eingesetzt, dass der Frauenradsport mehr Gewicht bekommt?
Annemiek van Vleuten: Nein, das war nicht meine Intention. Aber ich habe vielleicht einen Beitrag geleistet, vermutlich mit meiner Art, Rennen zu fahren, meiner Angriffslust und Leidensfähigkeit. Das sehen die Leute gerne. Ich spreche gern mit meinen Beinen. Es war gut, dass Marianne Vos viel vorangetrieben hat, etwa La Course, das Eintagesrennen bei der Tour de France. Und jetzt gibt es kein Zurück mehr, der Frauenradsport hat seinen Platz, wir sind unterwegs!
TOUR: Bedauern Sie, dass Sie an diesem Punkt aus dem Profisport aussteigen?
Annemiek van Vleuten: Nein, ich finde es besonders schön, dass ich meine Reise in dieser Zeit gemacht habe. Es ist ein bisschen schade, dass ich nicht mehr das Frauenrennen der Lombardei-Rundfahrt miterlebe. Aber es ist doch großartig, dass wir vielleicht bald bei jedem Monument eine weibliche Version haben. Das wird weitergehen.
TOUR: Siege treiben Sie nicht an, sagen Sie als Seriensiegerin. Erklären Sie das mal!
Annemiek van Vleuten: Wenn mich Siege antreiben würden, wäre ich vergangenes Jahr bei den Frühjahrsklassikern deprimiert gewesen – weil ich oft Zweite oder Dritte wurde. Ich glaube, wenn es nur ums Siegen ginge, wäre ich eine sehr traurige Person. Ich schöpfe Energie daraus, das Beste zu geben, einen Plan zu machen. So bleibe ich hungrig. Siegen ist überbewertet. Manchmal ist der 69. Platz genauso eine sportliche Leistung wie der erste. Es ist traurig, dass viele Menschen von außen nur auf die Gewinner schauen. So reduziert man die Schönheit des Sports auf wenige Ergebnisse. Es geht aber doch viel eher darum, sich zu entwickeln.
TOUR: Können Sie sich noch entwickeln?
Annemiek van Vleuten: Ich hatte gerade ein Gespräch mit meinem Coach darüber, was ich vor der Tour noch anpassen kann. Ich habe das Gefühl, dass es ein guter Zeitpunkt ist, dieses Jahr meine Karriere zu beenden. Es gibt immer weniger Details, in denen ich mich noch verbessern kann. Natürlich gäbe es noch mehr Rennen zu gewinnen, aber der Prozess ist für mich beendet.
TOUR: Sie haben mal über einen Sieg gejubelt, den Sie nicht hatten – in Tokio 2021. Wie sehr schmerzt das noch?
Annemiek van Vleuten: Null. Ich fühlte mich eher dumm. Auf dem letzten Kilometer habe ich plötzlich gedacht, ich gewinne das Olympische Straßenrennen. Ich wusste nicht, dass Anna Kiesenhofer schon im Ziel war. Ich habe das aber schnell abgehakt und ein paar Tage später Gold im Zeitfahren geholt. Viel gravierender war mein Rückschlag in Rio. Da habe ich eine Kurve falsch eingeschätzt und hart dafür bezahlt. Das musste ich erst mal verdauen. Aber letztlich hat mir sogar das mehr gegeben, als ich im Rennen verloren habe.
TOUR: Der Sturz war potenziell lebensgefährlich. Danach sagten Sie: Das Rennen gibt mir Kraft, ich habe die Gegnerinnen bergauf abgehängt. Bemerkenswert.
Annemiek van Vleuten: Ich hoffe, andere zu inspirieren. Die Menschen achten viel zu sehr auf Dinge, die sie nicht ändern können. Ich konnte damals etwas Positives mitnehmen.
TOUR: Sie genießen Ihr Leben als Profi in aller Welt – gleichzeitig scheinen Sie eine sehr häusliche Person zu sein, die Kochen und Brettspiele liebt.
Annemiek van Vleuten: Als Radsportlerin mag ich das Reisen wirklich, auch das das lange Bergtraining im Süden. Wenn ich zu Hause trainiere, ist das eher unangenehm, echte Arbeit. Andererseits gefällt es mir auch zu Hause, denn dann kann ich meine Freunde treffen.
TOUR: Sie haben vor dem Profisport etwas anderes gelernt, im Büro gearbeitet und einen Abschluss in Epidemiologie gemacht. Könnten Sie in ein solches Leben zurückkehren?
Annemiek van Vleuten: Nein. Meine Leidenschaft gehört dem Sport. Ich denke, meine Stärke ist meine mentale Herangehensweise, das Beste aus mir herauszuholen. Damit möchte ich gern junge Athleten, aber auch Geschäftsleute inspirieren.